KAPITEL DREIZEHN

»Jedes sichtbare Ding auf der Welt steht unter der Obhut eines Engels.«

AUGUSTINUS

 

Etwas Kaltes, Nasses erstickte mich. Erschrocken schnappte ich nach Luft, öffnete die Augen und sah nur einen wolkigen Nebel. Jemand versuchte mich umzubringen. Ich machte die – immer noch verschwommene – Gestalt aus, die über mir schwebte. Ich brauchte Freiheit und handelte impulsiv. Mit einer Bewegung, die eine Kombination aus Selbstverteidigung und Kickboxen war, beugte ich den Arm und holte aus, um meinem Angreifer den Ellbogen ins Gesicht zu rammen. Ich konnte nicht klar sehen, aber ich fühlte den Aufprall. Es war nicht mein bester Versuch, aber es reichte, um ein paar Sekunden Zeit zu gewinnen, um in eine bessere Verteidigungsposition zu rücken. Auf Händen und Füßen kroch ich, so schnell es ging, davon.

Er brüllte mich an und kam mir nach. Er klang außer sich. Ich spürte, dass er näher kam. Ich blickte über die Schulter nach hinten und meine Sicht wurde klarer. Laute verwandelten sich in Worte. »Violet, Violet, hör auf! Ich bin’s!«

Das Wohnzimmer nahm allmählich um mich herum Form an.

»Dad?«, sagte ich, noch immer fix und fertig.

»Ja!«, rief er und rieb sich das Gesicht.

»Was machst du hier?«, fragte ich zunehmend verwirrt.

»Heute ist dieser bescheuerte Firmen-Golftag — ich bin nur kurz nach Hause gekommen, um mich umzuziehen. Verdammt, Violet.« Er machte den Gefrierschrank auf und holte eine Tüte Erbsen heraus. »Du musst mal einen Gang runterschalten mit diesen Kampfsportarten. Das gibt bestimmt einen blauen Fleck.«

Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, ließ es aber dann dabei bewenden. Ich war froh darüber. Ich hatte sowieso keine Antworten für ihn. Na ja, zumindest keine, die ich hätte zugeben können. Ich war nicht in der Lage, Dad zu erklären, wie abnormal ich war.

Es dauerte eine Weile, bis ich wiederhergestellt war. Duschen und Umziehen trug dazu bei, ein wenig Normalität zurück in mein Leben zu bringen. Ich zog eine bequeme Jeans und ein langärmliges T-Shirt an, um meine Arme zu bedecken. Von Dingen umgeben zu sein, die mir gehörten – meine Auswahl, mein Geschmack –, schien mir plötzlich so wichtig zu sein wie nie zuvor.

Ich rollte mich auf dem Sofa zusammen, während Dad mich von der Küche her unruhig beobachtete. Er schob die Zuckerdose herum, faltete das Geschirrtuch zusammen, zupfte nicht vorhandene Flusen von seinem Pulli. Schließlich brach ich das Schweigen für ihn, weil ich es nicht mehr aushielt, den Leerlauf in seinem Gehirn praktisch hören zu können.

»Es tut mir echt leid, dass ich dich geschlagen habe, Dad. Die letzten paar Tage waren schrecklich und ich war … es tut mir leid.«

»Violet, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich weiß, dass du es nicht mit Absicht getan hast. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Du warst in der letzten Zeit nicht du selbst. Ich glaube, du warst ohnmächtig. Was ist passiert?«

Ich wollte weinen, zusammenbrechen und mich von ihm umsorgen lassen. Ich wollte »Dada« zu ihm sagen, wie ich es als kleines Kind getan hatte, wenn ich mich fürchtete. Ich wollte, dass er sagte: »Es ist okay, Kleines. Es kann dir nichts passieren, wenn ich da bin.« So wie er es immer getan hatte. Es spielte keine Rolle, dass wir beide wussten, dass das nicht stimmte. Ich wollte trotzdem, dass er es sagte.

»Ich … ich … es ist nichts. Ich habe mich mit Lincoln gestritten.« Das war alles, was ich herausbrachte, als ich es schaffte, den Mund aufzumachen.

Dad entspannte sich. Das war von seinem Standpunkt aus eine vollkommen akzeptable Erklärung. »Liebling … es tut mir leid. Wenn er nicht sieht, was für ein Goldstück er da vor sich hat, verdient er dich gar nicht.«

Ein Spruch, auf den Eltern immer wieder gern zurückgreifen.

»Ja … na ja, ich werde ein wenig auf Abstand gehen.«

»Das ist vielleicht keine schlechte Idee.« Er lächelte verständnisvoll.

Ich fühlte mich schlecht, aber das war ja nicht alles gelogen und ich war einfach noch nicht bereit, seine Fragen zu beantworten oder auch noch mit seinen Gefühlen klarzukommen.

Ich kam ja nicht mal mit meinen eigenen klar.

 

Die nächsten paar Tage krochen langsam dahin, während ich versuchte, den Anschein eines normalen Lebens zusammenzustückeln und so zu tun, als wäre alles so wie vorher. Das Problem war, dass alles auf die eine oder andere Weise mit Lincoln zu tun gehabt hatte. Ohne ihn tat sich in meinem Leben ein klaffendes Loch auf. Es ärgerte mich, dass er jeden Zentimeter meines Lebens durchdrungen hatte, und zwar so sehr, dass ich gar nicht mehr wusste, wie es ohne ihn gehen sollte.

Ich hing viel mit Steph herum, aber ich verbrachte auch viel Zeit allein. Ich dachte, dass ich dadurch viel Zeit haben würde, an meinen Malkünsten zu arbeiten, aber jedes Mal wenn ich ein Bild halb fertig hatte, wurde mir bewusst, dass ich beim Malen immer Lincolns Wand im Kopf hatte. Alles führte immer und immer wieder zu ihm zurück. Nun konnte ich nicht einmal mehr in die Welt des Malens flüchten. Das war etwas ganz Neues.

Lincoln wartete nicht mehr an der Bushaltestelle auf mich. Er schrieb auch keine SMS mehr. Ob es das wohl gewesen war? Hatte es für ihn so wenig gebraucht, um mich aufzugeben? Ja, rief eine böse Stimme in mir. Du warst eine Idiotin, wenn du je geglaubt hast, dass ihm etwas an dir liegt!

 

Am Wochenende verabredete ich mich mit Steph im Indoor-Klettercenter. Ich war überrascht, als sie vorgeschlagen hatte, mit mir dorthin zu gehen. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass ich ein absolut jämmerliches Bild abgab. Die Tatsache, dass sie wirklich riskierte, sich einen Fingernagel abzubrechen, und sich zu echter körperlicher Aktivität aufraffte, um mich glücklich zu machen, war kein geringes Opfer. Es war peinlich, dass jeder sehen konnte, wie sehr mich Lincoln verletzt hatte – auch wenn niemand wusste, warum.

Steph erklärte sich schnell bereit, die Seilsicherung zu übernehmen, damit sie nicht selbst klettern musste.

»Weißt du, es macht dir vielleicht sogar Spaß, wenn du es mal ausprobierst«, sagte ich, während ich meine Laufschuhe anzog.

»Und dir macht es vielleicht sogar Spaß, wenn wir stattdessen einen Film anschauen gehen. Beides werden wir wohl nie erfahren.« Sie zeigte auf die Kletterwand vor uns. »Also, klettern«, befahl sie.

Ich rastete das Sicherheitsseil ein und wandte mich um. »Danke, Steph. Ich bin froh, dass du da bist.«

Sie strahlte mich an. »Ich weiß, ich weiß, ich bin fabelhaft.«

»Du bist eine gute Freundin«, setzte ich noch eins drauf.

»Ehrlich gesagt habe ich nur Angst, dass dir so langsam die Leute ausgehen, denen du eine reinhauen kannst. Ich möchte nicht als Nächste dran sein. Jetzt klettere, damit wir hier wieder rauskommen!« Sie warf mir ein besserwisserisches Lächeln zu und zupfte an ihrem Ende des Seils, damit ich mich bewegte.

Ich lachte und war froh, dass ich wenigstens sie noch hatte.

Klettern war wie eine Therapie und es fühlte sich gut an, körperliche Arbeit zu leisten. Ich hatte den üblichen Sport und all das vermieden, was Lincoln und ich zusammen unternommen hatten, und ich vermisste es wirklich.

Ich schaute von oben herunter und sah, dass Steph mit einem Typ aus unserer Schule plauderte. Ich wusste, dass er Marcus hieß. Seit Wochen geriet sie jetzt schon in Verzückung, wenn sie von ihm sprach. Schließlich blickte sie zu mir herauf und winkte kurz, bevor sie sich wieder ihrem Gespräch zuwandte. Jetzt war sie glücklich darüber, dass wir klettern gegangen waren.

Ich beeilte mich mit dem Abstieg, in der Hoffnung, noch eine Klettertour machen zu können, solange Steph Unterhaltung hatte. Und da passierte es. Ich verpasste einen Tritt und rutschte ab. Hastig tastete ich mit den Händen nach einem Halt an der Kletterwand, aber es war zu spät. Es war einer von diesen Momenten, in denen man in einem Bruchteil von Sekunden ewig Zeit zu haben scheint, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Als ich fiel, wurde mir klar: Steph schaut nicht her — sie wird das Sicherheitsseil nicht halten können – ich vermisse Lincoln – ich vermisse ihn so sehr.

Die Arme, die mich auffingen, waren weich und selbstsicher, sie nahmen mein Gewicht auf, als hätte ich mich einfach ins Bett fallen lassen. Er hielt mich in den Armen und ich wusste sofort, wer er war. Ich hörte Steph schreien und auf mich zukommen, aber das war alles zweitrangig im Vergleich zu dem Apfelgeschmack, der meine Geschmacksknospen flutete, dem Summen der Energie, die durch meinen Körper jagte und irgendwie wieder zu ihm zurückströmte, als würde sie sich selbst hin und her bewegen. Meine Augen waren geschlossen, aber ich konnte noch immer die Blitze sehen, wie Lichter, die an – und ausgingen, als würden Tag und Nacht sich mit einem Wimpernschlag abwechseln.

In meinen Armen explodierte kühle Hitze. Sie schoss mir in die Brust, als hätte ich soeben das stärkste Pfefferminzbonbon meines Lebens verschluckt.

Ich öffnete die Augen. Ich hörte Vögel flattern und noch immer pulsierte der Geschmack von Äpfeln in meinem Mund, als ich ihm in die Augen schaute. Sein Blick drang so intensiv und ernst in mich, dass es sich anfühlte, als wollte er mich zu etwas zwingen. Ich merkte, wie die Sinneswahrnehmungen nachließen und sein Blick sanfter wurde und mich freigab. Plötzlich rückte alles in meiner unmittelbaren Umgebung in den Vordergrund. Steph stand neben uns, sie schrie und ich lag noch immer wie ein Baby in Phoenix’ Armen.

»Ähm … danke«, sagte ich.

Er lächelte auf mich herunter. »Keine Ursache.« Er senkte die Stimme, als hätten wir ein gemeinsames Geheimnis. »Es war nur eine Frage der Zeit, wann du in meinen Armen landen würdest.« Seine Mundwinkel zuckten.

Steph war hysterisch. »Violet! Oh, mein Gott, es tut mir so leid. Das Seil ist mir einfach aus der Hand geflogen. Es tut mir so leid. Ich habe nicht aufgepasst. Bitte, schlag mich nicht!«

»Schon gut, Steph. Es war meine Schuld. Ich habe die Konzentration verloren.« Ich schenkte ihr mein bestes beruhigendes Lächeln und wand mich unbehaglich. Phoenix verstand den Hinweis und stellte mich auf die Füße.

»Violet hat recht. Ich habe sie beobachtet, deshalb war sie überhaupt nicht konzentriert. Es überrascht mich, dass sie nicht schon früher gefallen ist«, sagte er.

Mein Lächeln schwand, während Stephs immer breiter wurde. Sie schaute mich mit großen Augen an und formte mit den Lippen das Wort »heiß«. Und zwar alles andere als dezent.

»Nun, wenn du das sagst«, schmachtete sie ihn an. »Du bist einfach der perfekte Engel. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Bei diesen Worten wäre ich fast aus den Latschen gekippt. Phoenix warf mir ein wissendes Lächeln zu und amüsierte sich.

»Ich kann dir garantieren, dass ich nicht perfekt bin. Was Engel angeht? Ich hatte so meine Momente.« Er kicherte über mein Unbehagen.

Ich fand meine Stimme wieder und griff rasch ein, bevor er sich vor lauter Vergnügen nicht mehr würde bremsen können. »Steph, das ist Phoenix. Wir haben uns neulich kennengelernt.« Ich wandte mich Phoenix zu. Meine Augen wurden schmal. »Danke noch mal. Du warst wirklich am richtigen Ort zur genau richtigen Zeit. Fast als hättest du nur darauf gewartet, dass ich falle oder so.« Oder du stellst mir noch immer nach. »Jedenfalls müssen wir jetzt wirklich los … wir sehen uns.«

Ich ging an Steph vorbei und erwartete, dass sie mir folgte. Nach ein paar Schritten wandte ich mich um und sah, dass sie noch an derselben Stelle stand. Sie sah aus, als hätte sie Gewissensbisse.

»Was?«

Sie verzog vergnügt und zugleich schuldbewusst das Gesicht. »Irgendwie habe ich jetzt Marcus versprochen, dass ich mit ihm einen Kaffee trinken gehe.«

»Klar. Sicher, kein Problem. Wir sehen uns dann später.« Ich machte Steph keine Vorwürfe. Warum sollten wir uns beide mies fühlen.

Trotzdem war ich auf einen schnellen Abgang aus, deshalb schnappte ich meine Tasche und lief zur Tür.

»Warte, Vi. Du kannst nicht allein gehen, nicht nach diesem Sturz. Ich werde Marcus sagen, dass ich nicht mitkommen kann.«

»Nein, es geht mir gut. Ehrlich.«

»Ich kann dich nicht einfach allein gehen lassen«, beharrte sie

Phoenix machte einen Schritt auf mich zu und lächelte. »Ich könnte dich nach Hause bringen.«

Steph hatte grünes Licht. »Oh, das wäre großartig. Bist du sicher, dass das okay ist?«, fragte sie und schaute zu ihm auf.

»Natürlich. Das mache ich doch gern«, sagte er.

Ich hüstelte und unterbrach dadurch ihre kleine Unterredung. »Mich braucht echt niemand nach Hause zu bringen. Aber danke. Mir geht es gut.«

Steph warf mir einen verzweifelten Blick zu. »Vi, ich kann dich nicht allein gehen lassen. Es könnte zu einer verzögerten Reaktion kommen oder so. Aber wenn du dich von Phoenix begleiten lässt, würde ich mich viel besser fühlen … Bitte.«

Verdammt! Ich schaute Phoenix an. Ein Teil von mir wollte weglaufen, wusste, dass ich weglaufen sollte. Aber ein anderer Teil von mir erinnerte sich an den Tag, als wir vor unserer Wohnung standen. Was ich damals gefühlt hatte … allein bei dem Gedanken daran schlug mein Magen Purzelbäume.

Phoenix beobachtete mich, er grinste, als wüsste er ganz genau, wie das Ganze jetzt ausgehen würde. Das war ärgerlich. Vor allem, weil er recht hatte.

»Gut! Phoenix kann mich nach Hause bringen. Jetzt geh, damit du Marcus noch einholst.«

Steph benötigte keine weitere Überzeugungsarbeit. Sie küsste mich auf die Wange und ließ mich mit einem verbannten Engel zurück.