KAPITEL SIEBEN

»Eine Lüge hätte keinen Sinn, wenn man die Wahrheit nicht als gefährlich empfinden würde.«

ALFRED ADLER

 

»OHMEINGOTT! Und dann …?« Steph hyperventilierte am Telefon. Ich zuckte zusammen und legte mir die Hand an den Kopf.

»Dann … begleitete er mich nach Hause und sagte kaum Gute Nacht, bevor er sich aus dem Staub machte.«

»Was? Das war alles? Enthältst du mir etwas vor? Ich verstehe das nicht!«, rief sie, wobei ihre Tonlage mit jeder Frage höher wurde.

»Ich auch nicht.«

Mir war zum Heulen zumute. Ich wusste jetzt nicht nur, dass ich etwas von ihm wollte, sondern auch, dass ein Teil von ihm auch mich wollte und dass wir zusammen einfach unglaublich waren.

»Oh, Vi, mach dir keine Sorgen. Eines Tages werdet ihr das hinkriegen. Vielleicht macht er sich einfach nur Gedanken wegen des Altersunterschieds oder er hat Angst, dir wehzutun oder so etwas.«

Das war gut möglich, und daran klammerte ich mich, als hätte ich die letzte Schwimmweste auf der Titanic erwischt. Den Mist mit dem Altersunterschied glaubte ich nicht; fünf Jahre Unterschied war nicht besonders viel. Aber die andere Theorie war möglich. Nach all dem, was er über mich herausgefunden hatte, wusste er vielleicht nicht, wie er auf diese Weise mit mir umgehen sollte. Vielleicht dachte er, ich wollte nicht mit ihm zusammen sein. Das war weit hergeholt, war aber das Einzige, was ich hatte.

»Steph, ich muss jetzt los. Ich muss zu ihm. Ich habe die Nase voll davon. Entweder so oder so, aber ich muss wissen, was los ist.«

»Das wird aber auch Zeit! Ich erwarte später eine ausführliche Berichterstattung. Ciao. Oh – nimm einen Schirm mit.«

 

Schirm war noch untertrieben. Als ich nach draußen ging, fiel sintflutartiger Regen. Mein Vorhaben, mir auf dem Weg zu Lincoln eine Rede zurechtzulegen, löste sich in nichts auf. Ich öffnete die Tür eines Taxis und hatte plötzlich nur noch wenige Minuten, mich zu sammeln und eine rasche Strategie zu entwerfen.

Ich wusste, dass ich herausfinden musste, warum genau er nicht mit mir zusammen sein wollte. Selbst wenn es die demütigendste Erfahrung meines Lebens werden würde, musste ich es tun. Ich konnte nicht weiterhin so tun, als wäre nichts zwischen uns. Falls er sich wegen meiner Vergangenheit Sorgen machte, konnte ich ihm versichern, dass ich keine Angst hatte, mit ihm zusammen zu sein. Das würde ich definitiv hinkriegen.

Ich sah auf die Uhr, als das Taxi vor Lincolns Wohnung anhielt. Es war Mittag. Mir fiel wieder ein, dass wir eigentlich heute Morgen zusammen hatten laufen gehen wollen. Er war nicht aufgetaucht, um mich abzuholen, oder hatte auch nur angerufen. Zweifel stiegen in mir auf und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich überlegte, ob ich einfach schnurstracks nach Hause fahren sollte. Auch wenn ich nicht darüber nachdenken wollte, auch wenn ich versucht hatte, es zu verdrängen, konnte ich eine weitere Möglichkeit nicht ignorieren. Nun, da Lincoln meine Geheimnisse kannte – konnte es sein, dass er mich für wertlos hielt?

Hier stand ich nun im strömenden Regen und versuchte herauszufinden, wie ich es schaffen könnte, dass zwischen uns etwas passierte, während er mir wahrscheinlich aus dem Weg ging. Ich stellte mich in der Nische neben seiner Haustürtreppe unter. Eigentlich half das nichts – trotz Schirm war es nutzlos –, weil der Regen so schräg fiel. Mein Lieblings-T-Shirt mit einem Motiv aus Alice im Wunderland war schon völlig durchgeweicht. Zum Glück war es schwarz, und nicht weiß.

Ich brauchte einfach noch einen Moment. Ich würde nicht weglaufen, aber ich erlaubte mir, mich ein paar Minuten lang zu sammeln. Ich legte meinen Kopf an die Nischenwand und konzentrierte mich einfach darauf … zu atmen.

Da hörte ich, dass Lincolns Haustür sich mit einem Klicken öffnete.

Unter meinem Schirm konnte ich nur zwei Paar Füße sehen, die über mir innen in der Tür standen. Die vertrauten Adidas-Turnschuhe, von denen ich wusste, dass sie Lincoln gehörten, und ein ausgetretenes Paar schwarzer Blundstones. Beim scharfen Klang einer fremden Männerstimme zögerte ich.

»Jemand muss es ihr sagen. Du warst zu dicht dran, Lincoln. Denk daran, wer du bist, was du bist. Und denk daran, was sie ist!«

Lincolns Tonfall war eindringlich, flehend. »Sie ist noch nicht bereit! Es gibt Dinge, die wir noch nicht über sie wissen. Sie braucht Zeit.«

»Sie oder du?«, fragte der Fremde knapp. »Violet ist erwachsen geworden, sie muss sich entscheiden, wie wir alle. Das weißt du, deshalb bist du hier.«

Mein Magen sackte ab. Abgesehen von meinem pochenden Herzen stand ich ganz still da mit meinem Schirm, wie ein Passant, der sich hier zufällig einen Moment lang ausruhte.

»Griffin, ihr Leben wird sich ein für allemal verändern. Du kennst sie nicht so gut wie ich«, sagte Lincoln schnell.

Griffin war nicht zufrieden. Ich hörte, wie er ungeduldig an den Türrahmen trommelte. »Du schaust nicht richtig hin. Du hast das Vertrauen in sie verloren. Oder ist da noch etwas Anderes? Willst du lieber selbst ihren Beschützer spielen, anstatt ihr zu ermöglichen, eine Beschützerin zu werden?«

Beschützerin? Was zum Teufel sollte das denn?

Sie schwiegen einen Augenblick und ich dachte schon, sie hätten mich entdeckt. Ich hielt den Atem an, aber dann fing Lincoln wieder an zu sprechen.

»Na gut, wir machen es, wie du willst, aber nicht heute. Gib mir ein paar Tage Zeit. Zu erfahren, dass man Halb-Engel ist, muss man erst mal verdauen, ganz zu schweigen vom ganzen Rest. Ich will nicht, dass Violet durchdreht, wenn sie merkt, dass sich ihre ganze Welt ändern wird.«

Ich war nicht sicher, ob ich noch atmete. Alles spielte sich in einer Art bizarrer, virtueller Realität ab und ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich ließ den Schirm aus meiner Hand gleiten, als ich von unten an die Treppe trat. Lincoln stand mit dem Rücken zu mir in der Tür. Der andere Mann, Griffin, entdeckte mich sofort, und an seinen Augen konnte ich sehen, dass er mich erkannte – und dass er wusste, dass ich alles gehört hatte. Dass er genau wusste, wer ich war.

Dann blickte er wieder Lincoln an. »Sorry, Lincoln, aber es wird doch heute sein. So wie es aussieht, liegt es nicht mehr in unserer Hand.«

»Also, ich mach das nicht«, fuhr Lincoln ihn an, weil er noch immer nicht gemerkt hatte, dass ich hinter ihm stand. »Ich werde es ihr nicht sagen!« Er schlug so heftig gegen die Tür, dass es splitterte, und ich zuckte zusammen.

Ich stieg eine Stufe weiter hinauf und merkte sofort, dass alles anders war. Irgendwie wusste ich, dass es kein Zurück für mich gab.

»Zu spät«, sagte ich.