KAPITEL ACHT

»Der Engel sagte: ›Wer Böses tut, soll weiterhin Böses tun, und wer unrein ist, soll unrein bleiben; aber wer recht hat, soll weiterhin recht tun, und wer heilig ist, soll heilig bleiben.‹«

OFFENBARUNG 22, 11

 

Es fühlte sich an, als hätten Lincoln und ich Stunden dort gestanden und uns gegenseitig angestarrt. Bilder von dem Tag, als wir uns kennenlernten, als wir uns durch puren Zufall in diesem Selbstverteidigungskurs trafen, schossen mir durch den Kopf. War alles eine Lüge gewesen?

Ich musste hier weg. Ich drehte mich um und stolperte auf die Straße zu. Mein Schirm war noch immer aufgespannt und baumelte an meiner Seite. Ich war inzwischen froh, dass es regnete. So konnte man die Tränen nicht sehen, die mir über das Gesicht strömten.

»Violet, warte!«, rief mir Lincoln zu und kam die Stufen heruntergerannt.

Ich hielt an, wandte mich jedoch nicht um.

»Ich kann das erklären!«, brüllte er über das Rauschen des Regens.

Es fühlte sich an, als würde der Himmel um mich weinen. »Gut! Dann erklär es mir!«, brüllte ich zurück. Ich hatte mich noch immer nicht zu ihm umgedreht. Wie konnte ich ihn je wieder anschauen, wenn ich wusste, dass alles eine Lüge war? Von Sekunde zu Sekunde wurde mir klarer, vollkommen klar, dass er mich, seit er mich kannte, belog.

»Man nennt uns Grigori. Wir sind halb Engel, halb Mensch. Das passiert oft kurz nach unserer Geburt, aber wir sind erst erwachsen, wenn wir siebzehn sind. So wie du jetzt erwachsen geworden bist.«

Ich wirbelte herum und schaute ihn an, in dem verzweifelten Versuch, mir selbst zu beweisen, dass das alles nur ein makabrer Witz war. Regen tropfte von seinen Haarspitzen und sammelte sich auf seiner Oberlippe. Er sah toll aus, was alles nur noch schlimmer machte.

»Du bist doch krank!«, schrie ich mit zitternder Stimme. Oh, mein Gott, hatte er Wahnvorstellungen? Hatte ich was verpasst? Normalerweise hatte ich einen guten Radar für Psychos.

»Ich würde dich, was das angeht, nie anlügen«, sagte er mit flehendem Blick.

»Nicht? Dann eben im Bezug auf alles andere!« Ich spie ihm die Worte regelrecht entgegen, Wasser sprühte von meinen Lippen, als ich es sagte. Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um, nach Rettung. Die Straßen waren verlassen; keiner war so dumm, sich jetzt draußen aufzuhalten. »Woher weißt du überhaupt, dass ich einer dieser ›Grig‹ oder wie das heißt bin?«

»Grigori. Es geschah, als du geboren wurdest und deine Mutter starb. Wenn ein Elternteil innerhalb von zwölf Tagen nach der Geburt seines Kindes stirbt, entsteht dadurch, dass ein neues Leben mit einem neuen Tod zusammenfällt, eine Pforte für einen Engel. Durch diese Pforte kann er einen Teil seiner selbst weitergeben.«

»Das erklärt nicht, weshalb du es in meinem Fall weißt!«

Er wandte sich zu Griffin um, als würde er ihn um Hilfe ersuchen. Griffin bewegte sich nicht aus dem Schutz des Türrahmens. Lincoln drehte sich mit ausgebreiteten Armen wieder zu mir um. »Ich weiß es, weil ein Engel es mir gesagt hat. Ich weiß es, weil wir alle einen Partner haben, der für uns bestimmt ist, jemand der bereits ein Grigori ist … oder bald einer sein wird. Ich weiß es, weil … weil du meine Partnerin bist, Violet.«

Er ließ den Kopf hängen und ich wusste, dass das schlecht war. Schlecht, schlecht, schlecht. Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Bitte … komm mit rein. Wir werden dir alles erklären.«

Ich wollte weglaufen, schreien, weinen, irgendetwas tun, egal was, aber ich musste es wissen. Mein Gehirn ermahnte mich, es beim Namen zu nennen, mir einzugestehen, was es war – Bullshit. Ich meine, solche Dinge geschehen einfach nicht, jedenfalls nicht im echten Leben, und soweit ich unterrichtet war, befand ich mich auch nicht in irgendeinem verkorksten Science-Fiction-Film. Das Problem war: Mein Gehirn schrie nach etwas, während mich ein anderer Teil zurückhalten, mich abrupt zum Stillstand bringen wollte. Dieser Teil befand sich irgendwo in meinem Bauch, dem Ort, dem ich gelernt hatte zu vertrauen, dem Ort, an dem ich schon immer Instinkt und Intuition angesiedelt hatte. Und dann war da noch der Brief von meiner Mutter, ihre Worte ließen mich nicht mehr los – Es gibt Mächte auf dieser Welt … Konnte das wirklich wahr sein?

Ich schob Lincolns Hand von meiner Schulter und ging an ihm vorbei. Zum ersten Mal wollte ich ihn nicht berühren oder ihm in die Augen schauen.

Griffin stand in der Tür und wartete. Ich hielt vor ihm an und warf ihm einen tödlichen Blick zu. »Bin ich, was er behauptet?«

Griffin schaute mich an und begegnete meinem festen Blick gelassen. »Wir alle sind, was er behauptet.«

Ich weiß nicht, wie oder warum, aber als ich ihm in die Augen schaute, wusste ich plötzlich, dass es stimmte. Es war, als wäre er in die tiefsten Schichten meiner Schutzmechanismen eingedrungen und hätte dort eine Wahrheit ausgegraben, die tief in mir geschlummert hatte. Zuerst fühlte es sich an, als würde sich etwas Giftiges durch mich hindurchschlängeln, aber dann merkte ich, dass es der Rest von mir war, der sich giftig anfühlte – und dass dieser kleine, verborgene Teil reiner war als alles andere.

Das war nicht irgendein übler Witz. Keine versteckten Kameras, keine Zwangsjacken. Es war, als würde sich meine Welt, wie ich sie kannte, verschieben, sich verändern. Sie entfernte sich von mir.

 

In der Lagerhalle gab Lincoln mir Handtücher, was ich ignorierte. Stattdessen setzte ich mich in seinen Lieblingssessel und durchweichte ihn. Er sagte nichts dazu, und nachdem er Griffin und mir Kaffee gereicht hatte, zog er sich zu den Küchenhockern zurück, weil er spürte, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte.

Griffin saß auf der Couch, und während wir an unserem Kaffee nippten, schaute ich mir sein Gesicht genauer an. Zuerst hatte ich angenommen, er sei über dreißig, aber jetzt hielt ich ihn eher für fünfundzwanzig. Er sah eigentlich ganz gut aus. Glattes, braunes Haar, kurz geschnitten und gepflegt. Die Kleider – schwarze Hose und blaues Hemd – waren gut geschnitten und frisch gebügelt. Sie passten nicht so recht zu seinen alten, abgewetzten Stiefeln. Dafür, dass er so jung war, war er ziemlich spießig angezogen. Das war wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb ich ihn älter geschätzt hatte; der andere waren seine hellgrauen Augen. Sie wirkten weiser, wissender, als sein Alter vermuten ließ. Er sah langweilig aus, anders konnte man ihn nicht beschreiben, aber ich vertraute ihm sofort. Ich traute diesen Augen.

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt an Engel glauben soll«, sagte ich.

»Macht nichts. Das kommt noch«, erwiderte Griffin.

Ich wusste nicht mehr, wie viele Tassen Kaffee wir tranken, während er mir die Geschichte und Geschichten von Engeln und Grigori erzählte.

Ich lauschte, während er erklärte, dass Engel in ihrem eigenen Reich lebten. Er erzählte von einer Art Zwiebel. Das meiste davon bekam ich nicht mit, ich meine, ich hörte die Worte, aber ich war noch an diesem »Wahnsinn, du bist ein Halb-Engel«-Teil hängen geblieben. Es ging irgendwie um das Universum und dass es verschiedene Schichten hat. Das Reich der Engel war eine davon, unsere Welt eine andere. Engel hatten keine physische Form. Ihre Aufgabe bestand darin, die Menschheit anzuleiten, aber niemals direkt einzugreifen. Sie wirkten wie eine Regierungsmacht über der Welt der Menschen, boten Wahlmöglichkeiten und beeinflussten sogar den freien Willen.

Die Engel beeinflussten alle anderen Kreaturen und sogar die Elemente – Tiere, das Klima, die Natur –, sie hatten überall die Hände im Spiel.

Was Menschen anging, so leiteten die Engel sie durch Träume oder Erleuchtungen, oder sie konstruierten Zufälle. Engel konnten eine Person dazu bringen, sich zwischen Licht und Finsternis zu entscheiden – oft auch für etwas, was dazwischen lag. Sie konnten Neid und Begierde fördern, aber ebenso auch Mitgefühl und Barmherzigkeit. Aber fördern war alles, was sie dabei tun sollten. Die Entscheidung lag letztendlich beim einzelnen Menschen.

»Licht und Finsternis? Du meinst, Gut und Böse?«, fragte ich. »Aber sollten Engel nicht gut sein – ein wenig Hilfe von oben schicken oder so?«

»So einfach ist das nicht, Vi. Engel helfen uns tatsächlich in der Rolle, die sie in ihrem Reich spielen, aber alles muss im Gleichgewicht sein. Ebenso wie es Engel gibt, die Wunder vollbringen, etwa Regen in einer Dürre, gibt es auch jene, die die Dürre zunächst mal ermöglichen. Für jeden Engel, der jemanden dazu ermutigt, einen erleuchteten Pfad zu beschreiten, gibt es einen, der jemanden dazu verlockt, einen Pfad der Dunkelheit zu begehen. Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit in unserer Welt herzustellen, ohne dabei den freien Willen zu beeinträchtigen.«

Während er sprach, wanderte meine Hand geistesabwesend zu meiner Schulter und ich dachte an den Mann in meinem Traum, der gesagt hatte, er sei ich, und der dann mit seiner Klaue nach mir geschlagen hatte. War er ein Engel gewesen?

Griffin fuhr fort zu erklären, dass es Engeln verboten war, das Engelreich zu verlassen. Aber es gab Engel – sowohl Engel des Lichts als auch des Schattens –, die dieses Sklavendasein hassten. Als höhere Wesen glaubten sie, dass eigentlich die Menschen ihnen dienen sollten. Die Entschlossensten unter ihnen hörten auf, ihre Pflichten zu erledigen, sie verließen das Engelreich, nahmen menschliche Gestalt an und strebten nach Macht und Vergeltung. Die in die Verbannung gegangenen Engel in Menschengestalt besaßen noch immer engelhafte Stärken und Fähigkeiten; außerdem waren sie unsterblich. Aber indem sie die Verbannung gewählt hatten, hatten sie all die Moralvorstellungen und Strukturen, an die sie zuvor gebunden waren, aufgegeben. Da sie noch nie zuvor einen Körper besessen hatten, wurden sie schließlich von der Atmosphäre ihrer neuen Welt überwältigt. Menschliche Gefühle zu verarbeiten und sich an die physischen Sinne zu gewöhnen – fühlen, empfinden, riechen – war einfach zu viel. Letztendlich verloren die Verbannten ihre Fähigkeit, Gleichgewicht und Empfindungsvermögen aufrechtzuerhalten, und je länger sie Menschen waren, desto mehr verfielen sie.

»Menschlich zu sein wirkt also wie eine Art Krankheit?«, fragte ich.

»So könnte man es betrachten, als eine Geisteskrankheit«, sagte Griffin.

»Aber ich verstehe nicht, warum die Guten, ich meine … Engel des Lichts«, verbesserte ich mich, weil ich versuchen wollte, im Fachjargon zu bleiben, »sich überhaupt dafür entscheiden, die Verbannung zu wählen.«

Er lächelte, als hätte sich meine Frage gerade von selbst beantwortet, was mich nervte. »Das liegt daran, dass du glaubst, Engel des Lichts seien ausschließlich gut – so wurde es dir beigebracht. Aber kein Wesen ist ohne Fehler. Engel haben die Freiheit, ihre eigene Wahl, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, genau wie Menschen. Das nennt man freien Willen«, sagte er schlicht.

»Also sind alle Verbannten böse?«

»Grundsätzlich ja. Sie haben unterschiedliche Herangehensweisen – wenn Verbannte des Lichts einen menschlichen Körper erhalten, ist es so, als würde man einem Sektenführer mit irrsinniger Mission freie Hand und Straffreiheit zusagen. Bei Verbannten der Finsternis ist es eher so, als würde man einen Serienmörder übers Wochenende aus dem Gefängnis entlassen und ihm eine Knarre mitgeben.«

Ich schauderte. Griffin betrachtete mich eingehend. Es kam mir vor, als würde er mich einzuschätzen versuchen.

»Um es ganz deutlich zu sagen, Violet – Engel gehören nicht auf die Erde, ganz egal, welche Rolle sie früher gespielt haben. Es gibt seltene Ausnahmen, Verbannte, die versuchen, ruhig mit den Menschen zusammenzuleben. Aber die meisten verbannten Engel sind verdorben, gefährlich und tödlich. Ihre ausschweifenden Kämpfe, kombiniert mit ihrem Drang, sich selbst über die Menschen zu stellen, machen sie zu der Art von Raubtieren, die sich die meisten Menschen nicht mal im Entferntesten vorstellen können.«

»Sie bekämpfen sich gegenseitig?« Es war surreal, als ich mich selbst diese Fragen stellen hörte. Engel, andere Reiche, Gut und Böse … Ich war versucht, mich zu kneifen, nachzuprüfen, ob ich träumte, obwohl ich wusste, dass das nicht der Fall war.

»Seit Anbeginn der Zeit sind Licht und Finsternis Gegensätze. Im Engelreich unterliegen sie Gesetzen – in unserer Welt gibt es solche Einschränkungen nicht. Die seit Ewigkeiten währende Rivalität zwischen den beiden Kräften erhalten auf der Erde die perfekte Arena. Die visuellen Effekte beim Abschlachten von Fleisch sind weit … befriedigender als geistige Auseinandersetzung.«

Griffin starrte mich mit ernster Miene an. »Es gibt nur drei Dinge, die Verbannte des Lichts und Verbannte der Finsternis gemeinsam haben. Sie verachten sich gegenseitig, sie hassen die Grigori und es ist ihnen vollkommen gleichgültig, welche Opfer ihre brutalen Kriege fordern.«

Großartige Neuigkeiten. Offenbar war ich nicht nur irgendeine komische Engel-Mensch-Kombi, sondern hatte auch gleich noch einen echt miesen, unsterblichen Feind.