KAPITEL FÜNF

»Bist du bereit für dein Schicksal?«

WILLIAM SHAKESPEARE

 

»Es wird Zeit, dass du es erfährst.« Die Worte hingen in der Luft, sie umgaben mich förmlich, noch bevor sie mich erreichten.

»Dass ich was erfahre?«, fragte ich, denn mir fehlte der Zusammenhang.

»Wer du bist.«

Der Mann in meinem Traum kam auf mich zu. Ich erkannte ihn nicht, aber er kam mir bekannt vor. Sein Gesicht schien um eine ausgeprägte Kieferpartie herum angelegt zu sein. Ich hätte gesagt, er sei gut aussehend, wenn da nicht seine Augen gewesen wären. Sie waren so distanziert. Durch sie wirkte er anders, entrückt.

»Und wer bin ich?«

Ich trug Jogginghosen und ein ehemals weißes T-Shirt, das jetzt eher einer Farbpalette ähnelte. Vor mir stand eine Staffelei mit einer Leinwand. In der Hand hielt ich einen Pinsel.

»Du bist du und du bist ich. Du bist der Keshet.«

Er stand am Fenster meines Ateliers und schaute hinaus zum bewölkten, grauen Himmel. Er schien enttäuscht zu sein von dem, was er sah. Für mich war das normal. Das Wetter in meinen Träumen ist immer ein bisschen trist.

»Ich bin du?« Meine Stimme hallte wie eine Glocke. Meine Worte schienen, genau wie seine, unsichtbar und schwerelos zwischen uns zu schweben.

»Teilweise. Aber du bist zum Teil auch menschlich.«

Meine Hand strich abwesend über die Leinwand.

»Du bist nicht menschlich?« Es roch nach Blumen. Ich kannte diesen Duft gut. Ich liebte Lilien, vor allem weiße. Sie waren stark und schön. Ich hatte mich immer von ihnen angezogen gefühlt.

»Nein.«

»Was bist du dann?«

Er glitt auf mich zu. Ich kam gar nicht auf die Idee, auszuweichen.

»Die Frage ist nicht, was wir sind, sondern vielmehr, was aus uns werden wird.«

Er streckte seine Hand aus, den Zeigefinger erhoben.

»Was machst du da?«, fragte ich.

»Ich erwecke dich!« Sein Finger verwandelte sich in eine löwenartige Kralle und schlug nach mir. Ich stolperte zurück.

Dann war er weg. Meine Hand umklammerte noch immer den Pinsel. Vor mir ein Farbklecks. Oben Rot, gefolgt von Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett. Er erinnerte mich an … einen Regenbogen.

 

Ich wachte auf und war ein paar Sekunden lang völlig desorientiert. Ich drehte mich um, um auf meinen Wecker zu schauen – es war ein Uhr nachts. Jetzt war ich offiziell siebzehn. Mein erstes Geschenk war offensichtlich ein Ausflug in die Welt der verrückten Träume. Ich wälzte mich zurück und steckte meinen Kopf zwischen zwei Kissen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Violet.«

Als ich am Morgen wieder aufwachte, tat mir die Schulter weh. Instinktiv griff ich danach, dann sog ich den Atem ein und setzte mich kerzengerade auf. Ich berührte den entzündeten roten Kratzer mit dem Finger. Er war höchsten zwei oder drei Zentimeter lang, aber er war rau und nässte und tat höllisch weh. Bilder aus meinem Traum kamen mir wieder in den Kopf. Das konnte nicht sein. Ich musste mich im Schlaf irgendwie selbst gekratzt haben.

Nach einer schnellen Dusche ging ich schnurstracks zur Kaffeemaschine. Ich war nicht überrascht, dass Dad schon um sechs Uhr morgens zur Arbeit gegangen war. Ein Post-it mit der Aufschrift »Happy Birthday« war der einzige Hinweis darauf, dass er überhaupt nach Hause gekommen war.

Ich setzte mich mit meiner ersten Tasse Kaffee und dann sah ich es: Die Venen auf der Innenseite meines Unterarms sahen anders aus. Ich schaute genauer hin. Sie schienen dunkler zu sein als sonst, und es waren mehr – wenn das überhaupt möglich war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass das Muster dermaßen kompliziert gewesen war; es sah fast aus, als wären sie ineinander verwoben. Ich schüttelte den Kopf. Zuerst der Traum und dann das. Vielleicht wurde ich krank? Perfekt. Ich konnte mir total gut vorstellen, den ganzen Tag mit Steph shoppen zu gehen und mich dabei tragisch zu fühlen.

Mit meiner zweiten Tasse Kaffee ging ich in mein Atelier, das im Gästezimmer untergebracht war. Ich versuchte, mit einer neuen Leinwand anzufangen, aber ich unterbrach die Arbeit immer wieder, um meine Venen anzuschauen. Schließlich ertappte ich mich dabei, wie ich zurück ins Bett ging und den Brief meiner Mutter noch einmal las, bevor ich ihn wieder wegpackte und das Kästchen unter meinem Bett verstaute.

Aus den Augen, aus dem Sinn.