KAPITEL NEUNZEHN

»Doch war er eifersüchtig – ganz für sich; Denn Eifersucht ist ungern öffentlich.«

LORD BYRON

 

Ich wachte auf und bemerkte, dass Phoenix am Fußende meines Bettes saß. Ihn dort zu sehen, uneingeladen und in so privater Umgebung, hätte mich mehr stören sollen, als es tatsächlich tat. Anstatt verärgert zu sein, war ich ganz ruhig.

»Beeinflusst du mich?«, fragte ich und räusperte mich zwischen den Worten.

»Nein.«

Ich war mir nicht sicher, ob das die ganze Wahrheit war. Er strich mit der Hand meinen Bettbezug glatt, nur um ihn dann mit der geballten Faust wieder durcheinanderzubringen. Er schmollte.

»Tut mir leid wegen gestern Abend«, sagte ich, während ich mir das Gesicht rieb, um aufzuwachen. Danach waren meine Hände voller Wimperntusche, was mich auf die Tatsache aufmerksam machte, dass ich jetzt Panda-Augen hatte. Als ich gestern Abend, oder vielmehr heute Morgen, nach Hause gekommen war, hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, mein Gesicht zu waschen.

Er reagierte nicht. Er schaute mich einfach nur an. Ich war mir sicher, dass er meine Gefühle las. »Du warst doch derjenige, der gesagt hat, dass ich mit ihm reden soll«, sagte ich, während ich nach einem Papiertaschentuch griff.

»Reden?« Er zog eine Augenbraue nach oben.

Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde, als mir der Kuss von letzter Nacht wieder in den Sinn kam. Rasch machte ich mich daran, meine Augen abzutupfen, wobei ich mich hinter dem Taschentuch versteckte.

»Keiner fühlt sich so schuldig wegen einer Unterhaltung«, sagte er ruhig.

Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört, und beschäftigte mich weiterhin mit der äußerst hartnäckigen Wimperntusche.

»Ich kann deine Erinnerungen lesen, Violet!«Er schlug mit der Hand auf die Matratze, und das ganze Bett begann zu hüpfen – und ich mit ihm. »Es wurden nicht nur Worte ausgetauscht.«

Er stand auf, ging hinüber zu meinem Bücherregal und tat so, als würde er die Titel durchgehen. »Und die Reue, die du empfindest, bezieht sich nicht darauf, was du getan hast.«

Ich versuchte, an nichts zu denken, versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und ihn auszusperren. Er funkelte mich an, total sauer.

»Hör mal, Phoenix, wenn du mich schon durchschauen willst, dann solltest du wenigstens die Tatsachen auf die Reihe kriegen.«

Er sah verwirrt aus. Ich setzte mich im Bett auf und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich ein König-der-Löwen -T-Shirt trug und meine Haare vermutlich aussahen wie ein Vogelnest.

»Es gab einen …« Ich wusste nicht, wie ich beschreiben sollte, was ich gesehen hatte. Den Gedanken an diese Leute, die mit herausgerissenen Eingeweiden da lagen. Den Mann, der mehr als leblos, der vollkommen verloren war. Allein die Erinnerung daran verursachte mir Übelkeit. Ich schlang den Arm um ein Kissen und zog es dicht an meinen Körper.

»Grigori sind umgebracht worden. Als ich die Leichen sah, dachte ich … Es war … unerträglich. Ich hatte es nicht unter Kontrolle. Ich war verzweifelt und musste einen Weg finden, die Sinneswahrnehmungen zu stoppen. Deshalb …«

» …setztest du deine Gefühle für Lincoln ein?«

Beschämt schaute ich zu Boden. »Ja.«

»Und es hat funktioniert?«, bohrte er weiter.

»Ja.«

Echter Zorn stand Phoenix ins Gesicht geschrieben. Ich schob mich im Bett nach hinten, bis ich an die Wand stieß. Ich zitterte, aber ich hielt seinem Blick stand.

Nach ein paar Minuten ging er zur Tür. »Geh duschen, zieh dich an. Ich mache Kaffee.« Seine Stimme klang distanziert.

Ich legte mich wieder hin und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder noch besorgter sein sollte.

Ich durchstöberte mein Zimmer auf der Suche nach sauberen Klamotten – etwas, das gerade viel zu sehr zur Gewohnheit wurde. Ganz normale Dinge wie Wäsche waschen schienen zurzeit einfach so unwichtig. Ich zog mir eine alte Jeans über, die um die Taille herum schlabberte. Ich trug sie nur selten, weil ich sie dauernd hochziehen musste. Außerdem herrschten draußen etwa dreißig Grad. Ich wusste, dass ich darin schwitzen würde, aber sonst hatte ich nichts, was als sauber durchgehen konnte. Während ich auf der Suche nach einem Gürtel auf allen Vieren herumkroch, stach mir das Kästchen meiner Mutter ins Auge, das ich unter dem Bett verstaut hatte.

Ich zog es hervor und verstreute den Inhalt auf meinem Bett. Als ich es umkippte, entdeckte ich auf der Unterseite eine Inschrift, die ich noch gar nicht bemerkt hatte.

Evelyn bar Semangelof

Magen of Will

Ich nahm die Babyhalskette mit dem kleinen Amulett in die Hand. Dad hatte mir erzählt, dass das Amulett eine Art Glücksbringer sei, den ein Baby in den ersten zwanzig Tagen tragen sollte. Für alle Fälle hatte er es mir sechs Monate lang jeden Tag angelegt.

Ich hielt das Amulett in der Hand. Darauf waren drei Gestalten abgebildet, die mit ausgestreckter Hand dastanden. Hinter ihnen konnte ich die schwachen Umrisse von Flügeln sehen. Ich drehte es in meiner Hand um und entdeckte auf der Rückseite eine weitere Gravur. Sie war klein und verblasst, ich konnte sie kaum erkennen.

S.S.S. Protect

Abgesehen davon, dass es klang wie der Name eines Kriegsschiffes, hatte ich keine Ahnung, was das bedeuten sollte.

War meine Mutter wirklich ein Grigori gewesen? War alles eine Lüge? Hatte sie Dad überhaupt geliebt? Oder mich?

Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken.

»Kaffee ist fertig«, rief Phoenix. Offensichtlich war er immer noch sauer. Ich holte tief Luft und fuhr mir mit den Händen durch das Haar, ein vergeblicher Versuch, Stress abzubauen.

Ich legte alle Dinge wieder zurück in das Kästchen, wobei ich versuchte, das silberne Armband nicht mehr als unbedingt notwendig zu berühren. Ich brauchte keine weitere ungewollte Attacke der Sinne. Einen Augenblick hielt ich den Umschlag mit dem Brief meiner Mutter in der Hand, bevor ich ihn ebenfalls in das Kästchen legte, das ich wieder unter das Bett schob. »Komme gleich«, schrie ich.

Als ich nach der Türklinke griff, bemerkte ich meine Arme und stolperte erschrocken zurück. Meine Venen hatten sich wie ein dünnes Armband um mein Handgelenk gewickelt. Ich schaute mir die Umrisse genauer an und merkte, dass das gar nicht meine Venen waren – es war etwas anderes. Die Farbe war fast grau oder sogar … metallisch?

Ich atmete ein und schloss die Augen. Einatmen, ausatmen, ganz ruhig. Einatmen, ausatmen, ganz ruhig. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich eine Meisterin

Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich eine Meisterin darin war, Dinge in den »Darum kümmere ich mich später«-Bereich meines Gehirns zu verdrängen. Das hier war auch nichts anderes.

Der Geruch frischen Kaffees stieg mir in die Nase, als ich die Küche betrat. Ich trug ein langärmliges T-Shirt über meiner Schlabberjeans. Nicht gerade mein bestes Outfit.

»Darin wirst du schwitzen«, sagte Phoenix, fast ohne aufzublicken.

»Es geht schon.«

Er schaute mich an und zog die Augenbrauen nach oben. Ich bemühte mich, so ruhig und gefühlsneutral zu bleiben wie möglich. Seine Augenbrauen stiegen noch höher, aber zu meiner großen Erleichterung sagte er nichts.

Ich trank den Kaffee, den Phoenix für mich zubereitet hatte. Ich war mir sicher, dass das an diesem Tag nur der erste von vielen sein würde. Ich dachte an die vergangene Nacht und die Entscheidung, die ich getroffen hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, ein bisschen die Kontrolle zurückzugewinnen. Seit jenem Tag bei Lincoln hatte ich mich Stück für Stück selbst an die panische Angst vor alldem verloren. Diese Wahrheit hatte jede Ausgeglichenheit zunichtegemacht, aber ich würde nicht zulassen, dass die Vorstellung, die jemand anderes von meinem Schicksal hatte, ruinieren würde, wofür ich so hart gearbeitet hatte. Was auch immer noch kommen würde, das war das Richtige für mich. Was machte es schon, wenn ich ein paar komische Zeichen auf dem Arm hatte? Damit konnte ich leben.

»Du machst dir selbst etwas vor«, sagte Phoenix aus dem Nichts heraus und unterbrach dadurch meine Aneinanderreihung positiver Gedanken.

Ich schmollte, fest entschlossen, mir diesen Moment nicht verderben zu lassen. »Hör auf, meine Gedanken zu lesen. Das ist unhöflich.« Ich tänzelte zum Kühlschrank und holte einen Becher Joghurt heraus.

»Ich kann es nicht ausblenden, wenn du deine Gefühle auf diese Weise zur Schau stellst«, fuhr er mich an. Er war nicht glücklich, aber ich glaube nicht, dass meine Fröhlichkeit der Hauptgrund für seine Angst war.

Ich verlor langsam die Geduld wegen seiner schlechten Laune. »Schau mich nicht so an. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Wenn du mich wirklich magst, dann wirst du das respektieren. Es sei denn natürlich, du wolltest nur mit mir zusammen sein, weil du dachtest, ich würde eine Art Super-Power-Grigori werden.«

Ich wollte nur einen Witz machen, aber er wandte seinen Blick ab. Ich ging auf ihn zu und stellte mich genau in sein Blickfeld. »Das ist doch nicht der Grund, Phoenix, oder?«

Er kam auf mich zu und nahm meine Hand. Um mich herum begannen die Sinneswahrnehmungen zu summen.

»Es würde sicherlich helfen, deinen Tod zu verhindern – also, ja, aber …« Er hob den Kopf, sodass sich unsere Blicke trafen, und ich sah den Konflikt, der in ihm tobte. »Deshalb bin ich nicht hier. Nicht mehr.« Er beugte sich vor, um mich zu küssen.

Ganz nah vor meinem Mund machte er halt und flüsterte: »Sag, dass ich dich küssen soll.«

In diesem Moment hätte ich mich fast danach verzehrt, aber ich erinnerte mich auch an Lincolns Kuss. Ich blieb, wo ich war, und flüsterte zurück: »Ich … ich möchte dich nicht verletzen.«

Etwas überkam ihn; er stieß einen kleinen Schrei aus und ließ den Kopf hängen, sodass seine Stirn auf meiner ruhte. So standen wir eine Minute da. Ich fühlte das Gewicht von Äonen durch ihn hindurchfließen.

Dann küsste er mich, anstatt auf mich zu warten. Ich konnte seine Entschlossenheit spüren. Ich versuchte, die Sinneswahrnehmungen zu ignorieren, aber als ich mich ihm öffnete, verschmolzen sie alle zu einer zündenden Energie. Wie kleine Feuerwerke, die zwischen uns knisterten. Er spürte die Veränderung und zog mich an sich. Dann hörte er auf und trat gerade so weit zurück, dass er sprechen konnte. »Darf ich etwas tun?«, fragte er.

»Was?«

Er lachte ein wenig. »Vertraust du mir?«

Die Frage war gewichtiger, als ihm bewusst war. »Okay«, sagte ich leise.

Er ließ seinen Arm um meine Hüfte gleiten und ergriff meine Hand. Wie zuvor konnte ich fühlen, wie die Energie zwischen uns flackerte, und dann küsste er mich wieder, aber dieses Mal küsste er mich wirklich. Er zog mich dicht zu sich heran, den Arm noch immer um meinen Körper geschlungen. Seine andere Hand kroch langsam meinen Arm hinauf, ich spürte seine Finger. Als seine Zunge in meinen Mund wanderte, wurde der Apfelgeschmack verdrängt und machte Platz für etwas anderes: Den Geschmack von purer … Verführung.

Die Energiefunken flimmerten nur noch und hörten schließlich ganz auf. Ich konnte fühlen, wie sie sich wie Millionen winziger Wasserballons bildeten und sich mit Wasser füllten. Er merkte, wie ich mich anspannte. »Lass los«, flüsterte er in meine Lippen.

Ich war nicht sicher, was ich tun sollte, und überlegte, mich von ihm loszumachen, aber er zog mich näher zu sich und dann explodierte es. Millionen Blasen aus Gefühlen spülten über mich hinweg. Unglaubliches Verlangen, Lust, Liebe strömten durch meinen Körper. Jeder Teil von mir war sich jedes Teils von ihm vollkommen bewusst und als er mich küsste, war es, als hätte er dadurch ein Portal zu sich selbst geöffnet. Ich wusste, dass er mich wollte, wusste, dass er alles von mir wollte. Ich spürte seine Eifersucht und seine Besitzgier, es war allesverzehrend und … beängstigend. Aber ich konnte nicht abstreiten, dass ich es auch wollte, als er dies alles an mich weitergab, dass ich ihn wollte, so vollkommen verführt war ich von seinen Gefühlen. In diesem Moment hätte ich alles getan, was er von mir verlangte.

Ich zupfte an seinem T-Shirt und er fügte sich, zog es binnen einer Mikrosekunde aus. Ich wurde kaum von seinen Lippen getrennt. Ich ließ beide Hände über seinen wohlgeformten Rücken wandern. Er hob mich hoch, hievte mich auf die Küchenbank, wobei er niemals den Kontakt mit meinen Lippen löste. Überall, wo ich ihn berührte, war es, als würden die Emotionen immer neue Geschmacksrichtungen annehmen, aber immer blieb der Geschmack der Verführung … Jasmin und Vanille.

Irgendwo weit weg schrie ein Teil von mir nach Kontrolle, aber ich kümmerte mich nicht darum. Der Teil von mir, der unter Phoenix’ Einfluss stand, genoss die Freiheit. Er zerknüllte die Rückseite meines Oberteils mit seinen Händen. Er zog daran, zerrte und spannte es um mich herum, zog es aber nicht aus. Ich konnte fühlen, wie sehr er es wollte, konnte seinen inneren Kampf spüren. Ich wollte, dass er es auszog – dass er es mir vom Leib riss, wenn es sein musste. Die Woge des Verlangens, die mich überrollte, verlieh mir Kraft. Ich wusste, dass nicht alle Gefühle meine eigenen waren, aber was mir gehörte, wurde verstärkt und grenzenlos. Es war … Glückseligkeit.

Ich packte mein T-Shirt, um es für ihn auszuziehen. Er griff nach meinen Händen, hielt sie an meinen Seiten nach unten. Ich spürte, wie er zitterte, als er um Selbstbeherrschung rang. Er stieß ein tiefes Brummen aus und holte dann herausfordernd Luft; ich fühlte, wie die Gefühle davonglitten. Er zog die Barrieren zwischen uns hoch. All meine anderen Gefühle – Schuld, Gehemmtheit – strömten zurück. Es war übel, wieder auf dem Boden aufzuschlagen. Ein großer Teil von mir wollte, dass er den Hahn noch einmal aufdrehte und mich zur Glückseligkeit zurückbrachte. Aber da war noch dieser andere Teil.

»Was hast du mit mir gemacht?« Ich hatte meine Atmung nicht unter Kontrolle.

Er ließ sich einen Moment Zeit, hob sein T-Shirt auf und wandte sich um, während er es überstreifte und nach unten über seine Hose zog. Ich errötete, als er sich zu mir umwandte.

»Das sind nicht alles nur meine Gefühle, weißt du?«

»Das tut nichts zur Sache! Du hast mir die Kontrolle genommen.«

Ich machte mich daran, noch einen Kaffee zu kochen, wobei ich versuchte, ihn nicht anzuschauen. In dem Moment, in dem ich nach der sauberen Tasse griff, schleuderte ich sie fast unwillkürlich quer durch die Küche. Die weiße Keramik zerschellte in winzige Scherben, die über die Bodenbretter tanzten.

Er war überrascht, wandte den Blick aber nicht ab. Er beobachtete mich weiter, sah mich mit seinen dunklen Augen durchdringend an. »Ich weiß, dass du es genossen hast«, sagte er in dem verführerischen Tonfall, der mir schon vertraut war.

»Das ist nicht der Punkt – ich konnte dich nicht aufhalten!« Bevor er noch den Mund aufmachen konnte, fügte ich hinzu: »Es spielt keine Rolle, was du zu wissen glaubst, Phoenix. Du weißt nicht alles über mich!«

Ich nahm Kehrschaufel und Besen aus dem Schrank und begann, die Scherben zusammenzukehren.

Phoenix machte keine Anstalten, mir zu helfen. Ich glaube nicht, dass ihm das überhaupt einfallen würde. Er nahm einen Apfel aus der Obstschale und rollte ihn zwischen den Fingern hin und her, während er mich beobachtete.

»Ich würde dich nicht vor die Wahl stellen, ob du geküsst werden willst, und dann zulassen, dass es zu mehr kommt, als abgemacht war. Das wäre …«

»Schlecht?«, half ich aus, als er nach dem richtigen Wort suchte. Er verstand es einfach nicht, merkte nicht, wie wichtig es für mich war, alles unter Kontrolle zu haben. Nur eine Person hatte es je wirklich verstanden.

Er lächelte. »Violet, ich sage das nicht gern, aber schlecht?« Er zog die Augenbrauen nach oben. »Schlecht kann ziemlich viel Spaß machen. Nein, das Wort nach dem ich gesucht hatte, war … geschummelt.«

Ich wurde rot und fühlte mich plötzlich sehr jung und unerfahren. »Tu es einfach nie wieder.«