KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

»… und werdet die Wahrheit erkennen …«

JOHANNES 8, 32

 

Ich legte gerade letzte Hand an mein Make-up an, als ich Stephs unverkennbares Klopfen an der Wohnungstür hörte.

»Allmächtige Mutter Gottes! Du siehst heiß aus!«, sagte sie, als sie mich in meinen neuen Klamotten sah.

Ich lächelte selbstbewusst. »Willst du ab jetzt immer mit Gotteslästerungen um dich werfen?«

»Jeder wird auf seine Art damit fertig« Sie zuckte die Achseln und wedelte mir mit der Hand zu. »Erklär mir das.«

Ich warf wieder einen Blick in den Spiegel. Hautenge schwarze Jeans, schwarzes Oberteil aus Seidenjersey mit gewagtem Ausschnitt und schwarze, hochhackige Lackschuhe. Sonst tendierte ich definitiv nicht zu so dramatischen Outfits – es war ein echter Hingucker. Ich konnte es nicht abstreiten – seit der Zusage und dem Gefühl der Macht, das meinen Körper durchströmte, war mein Selbstbewusstsein gewachsen. Es war affig, aber die Tatsache, dass ich eine Super-Grigori geworden war, hatte mir Glamour verliehen.

»Es war Zeit für einen neuen Look«, meinte ich.

»Da will ich nicht widersprechen. Du siehst einfach um-wer-fend aus.« Sie kam zu mir herüber und nahm mich näher in Augenschein. »Es gibt nur ein Problem.«

»Was?«, sagte ich. Man konnte sich auf Steph verlassen, wenn es darum ging, ein Problem zu finden.

»Die da«, sagte sie und berührte die Silberarmreifen an meinen Handgelenken. Zusammen mit den neuen Kleidern und der neuen Frisur hatte ich auch eine Reihe Armreifen erworben, um die Male um meine Handgelenke zu verbergen. »Ohne die Armreifen sieht es besser aus.« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, aber ihre Miene war sanfter geworden. Es war ein Leichtes für sie zu wissen, was ich wirklich empfand.

»Die Leute werden es bemerken«, sagte ich, während ich nach unten schaute und den Inhalt meiner Handtasche überprüfte. »Ich will nicht den ganzen Abend damit verbringen, Erklärungen abzugeben.«

»Niemand wird es bemerken, und selbst wenn – du kannst es als cooles Tattoo oder so etwas abtun. Glaub mir!«

Zweifelnd schaute ich Steph an, dann nahm ich die Armreifen ab, um ihr einen Gefallen zu tun. Aber als wir zur Tür hinausgingen, streifte ich sie rasch wieder über, um die Male zu verdecken.

Vor dem Hades stand eine kilometerlange Menschenschlange, als wir dort ankamen. Steph entdeckte Marcus, der auf uns wartete. Er sah gut aus in diesem adretten College-Look. Steph mochte bei manchen Dingen etwas Verrücktes vorziehen, aber sie wollte definitiv, dass ihre Typen adrett aussahen. Ich glaube, das war ein weiterer Grund, weshalb wir beste Freundinnen waren – wir stritten nie wegen eines Typs. Sie stieß mich mit dem Ellbogen an, als wir uns ihm näherten.

»Er ist vielleicht kein Engel, aber das heißt nicht, dass er ein Mädchen nicht auf Wolke Sieben bringen kann.« Wir lachten beide und ich hakte mich bei ihr ein. Es würde nicht lang dauern, bis sich die beiden sehr viel näher kommen würden – im biblischen Sinne natürlich.

Jase hatte sein Versprechen wahr gemacht und unsere Namen auf die Gästeliste gesetzt. Es war unglaublich befriedigend, an der Schlange vorbei direkt hineinzugehen.

Der Restaurantbereich war für den Abend geschlossen worden; alle Tische waren weggeräumt, um mehr Platz zu haben, damit die Leute unter den Dutzenden Kronleuchtern herumstehen und trinken und tanzen konnten. Das bedeutete jedoch auch, dass er nur für über Achtzehnjährige geöffnet war. Da uns Jase auf die Gästeliste geschrieben hatte, war es kein Problem gewesen, hineinzukommen; allerdings wäre es nicht besonders klug gewesen, an der Bar zu bestellen und zu riskieren, den Personalausweis vorzeigen zu müssen.

Brav entsprach Marcus unserem Wunsch, Drinks zu holen und sie durch die Menge zu uns zu befördern. Alles war voll mit Leuten – die Atmosphäre war großartig. Es tat gut, zur Abwechslung mal von Spaß umgeben zu sein. Steph gab mir einen Schluck von ihrem Mojito. Er war tödlich, aber sie kippte ihn hinunter wie Eistee. Ich sah schon kommen, dass wir sie am Ende des Abends nach Hause schleifen mussten. Zu Stephs großem Entsetzen trank ich nur eine Cola. Kontrolle war etwas, auf das ich im Moment nicht verzichten wollte.

Als Steph ihren Mojito in Rekordzeit ausgetrunken hatte, schickte sie umgehend Marcus los, um ihr ein anderes Gebräu von der Cocktail-Liste zu besorgen.

»Hat er dir jemals eine Bitte abgeschlagen?«, brüllte ich, um die Musik zu übertönen.

»Er ist großartig, was?«, brüllte sie zurück, wobei ihr völlig entgangen war, dass ich sie aufzog. Das konnte ich ihr nicht vorwerfen, deshalb lächelte ich zurück – sie war wirklich glücklich. »Wenn dein Engel nicht bald kommt«, fügte Steph hinzu, »wird er sich über mehr als nur über Lincoln den Kopf zerbrechen müssen.«

Verwirrt schaute ich sie an.

»Oh, Vi, du musst doch gemerkt haben, dass dich so ungefähr jeder Typ hier drin – außer Marcus natürlich – angeifert.«

Ich schaute mich in dem Raum um. Sie hatte übertrieben, aber eine gute Handvoll Typen beobachtete mich tatsächlich. Ich wurde glühend rot, konnte aber nicht aufhören zu lächeln.

Ein Luftzug kam durch die offene Tür herein. Dann spürte ich es. Der Apfelgeschmack, die summende Energie, die wild flatternden Vögel. All die Sinneswahrnehmungen strömten durch mich hindurch, aber anders als vor meiner Zusage konnte ich sie jetzt steuern. Ich konnte sie verschieben, sie nach vorne bringen, mich darauf konzentrieren – oder sie auch zurückdrängen und verstummen lassen. Und was am wichtigsten war: Ich wusste, wer es war. Ich war mir ziemlich sicher, dass es für einen Grigori nicht normal war, genau zu spüren, wer der Verbannte war, aber allmählich akzeptierte ich, dass ich nicht gewöhnlich war.

»Phoenix ist hier«, sagte ich.

»Wo?« Steph schaute sich um.

»In der Nähe. Ich kann ihn spüren.«

»Du kannst ihn spüren?« Ihre Augen wurden groß vor Ungläubigkeit.

Ich wandte mich um und da stand Phoenix. Er sah besorgt aus. Ich lächelte und sein Gesicht entspannte sich. Er hob die Hand zu meiner Wange. Sobald er mich berührte, lehnte sich mein Körper an ihn und ich umschlang ihn und überließ ihm die Führung.

»Ich habe dich vermisst«, sagte er.

»Ich dich auch«, war alles, was ich herausbrachte.

Sein Blick wanderte herunter, registrierte meinen neuen Look. Er ließ sein Verlangen zu mir ausströmen und ich wusste, dass er es absichtlich tat. Seine Augen ruhten auf meinen Handgelenken, wo die Armreifen glitzerten. Er sagte nichts. Schließlich wandte er den Blick von mir ab und schaute hinüber zu Steph. Er brauchte nicht lange, um ihre ehrfürchtige Miene zu deuten, die wie auf ihrem Gesicht festgeklebt schien.

»Ah«, stieß er aus. »Es ist wohl keine Überraschung, dass sie es dir gesagt hat.«

Steph stand wie hypnotisiert da und starrte Phoenix an.

»Steph.« Ich stieß sie mit dem Ellbogen an. Mit einem Ruck kam sie wieder zu sich.

»Tut mir leid. Es ist nur – jetzt, wo ich es weiß, kommt es mir so seltsam vor, mit einem Engel hier im Club zu stehen.«

Phoenix lächelte ein wenig. »Glaub mir, so interessant ist das nun auch wieder nicht.«

Marcus kam mit weiteren Drinks zurück und beendete damit das ganze Engel-Gerede. Ich merkte, dass Phoenix erleichtert darüber war.

Gegen zehn Uhr sahen Steph und Marcus aus, als hätten sie die Grenze überschritten und einen Drink zu viel erwischt. Es war mir peinlich, als sie anfingen, sich auf der Tanzfläche zu blamieren. Retro-Kleider aus den Achtzigern waren eine Sache, Retro-Tanzbewegungen eine ganz andere.

Phoenix und ich ließen uns auf einem Sofa in der Ecke nieder und entspannten uns, jetzt wo wir wieder alleine waren. Wir vermieden es, über Grigori und Engel zu sprechen, so gut das ging. Er erzählte mir aus der Zeit, als er 1901 den Mount Everest »bestiegen« hatte. Dafür hätte er nur wenige Sekunden gebraucht, wenn er nicht eine Weile oben geblieben wäre, um die Stille und die Aussicht zu genießen. Ich versuchte, ganz locker zu bleiben, aber wem fällt nicht die Kinnlade herunter, wenn jemand erzählt, dass er das verdammte Ding über fünfzig Jahre vor den ersten Menschen bestiegen hat. Und, ach ja … er war eindeutig gut über hundert Jahre alt!

Phoenix rückte näher, sodass er direkt neben mir saß. Er ließ seine Finger an meinem Oberschenkel hinaufwandern. »Ich habe mir gedacht …«, sagte er anzüglich. Mein Körper prickelte. Bei jeder Berührung wurde ich mir sicherer, dass meine Zukunft nicht bei Lincoln lag und dass ich ihm unmöglich verzeihen konnte. Mir wurde wieder bewusst, wie stark Phoenix auf mich wirkte, mich mit sich fortriss. Mein Atem stockte, dann beschleunigte er sich. Der Gedanke daran, in diese Glückseligkeit zu entfliehen, war zweifellos aufregend. Aber als ich mich dabei ertappte, wie ich mich zu ihm hinüberbeugte, erinnerte mich das seltsamerweise daran, wie ich in Onyx’ und Joels Macht gefangen war. Meine Sinne schärften sich.

»Ich muss lernen, dich zu blockieren, wenn ich das will«, sagte ich und zerstörte damit abrupt die Stimmung.

Er erstarrte. »Warum?«

»Ich muss lernen, meine Kräfte einzusetzen. Offensichtlich haben sie so eine Art Macke.«

Ich merkte, wie er zögerte, und fragte mich, warum er nicht gerade erpicht darauf zu sein schien, mir zu helfen. Gerade als ich ihn fragen wollte, lächelte er gefährlich. »Vielleicht sollten wir gehen, um die Theorie voll und ganz auszutesten.«

Ich lächelte und lachte. »Ich dachte eher an einen Kuss oder so«, sagte ich und klang dabei nervöser, als mir lieb war. »Fürs Erste«, fügte ich hinzu, damit er wusste, dass das kein direktes Nein war. Ich machte mir Sorgen, ich könnte ihn verletzen, wenn ich ihm sagte, dass ich nicht sicher war, ob wir uns wieder in dieses ganze Sex-Ding stürzen sollten.

Phoenix rückte näher und musterte mich. Es war seltsam – er schien mir nicht lange in die Augen schauen zu können.

»Alles okay? Wenn du nicht willst …« Ich ließ die Worte in der Luft hängen; was immer ich an Tapferkeit aufgebracht hatte, schwand ziemlich rasch.

»Es ist nicht so, dass ich nicht möchte. Ich würde alles tun, um dich für mich zu gewinnen.« Dann schafften es seine Augen, meinen Blick zu halten; er strich mir das Haar aus dem Gesicht, legte mir die Hand auf die Wange, die Finger in meinem Haar. In diesem Moment konnte ich fühlen, was ich ihm bedeutete, und dann bestätigte er es mir mit Worten.

»Du bist eine Göttin.«

Er küsste mich. Summende Energie strömte durch mich hindurch, und er öffnete die Kanäle seiner Gefühle und entfesselte eine Lawine der Lust. Ich suchte und fand die Kraft in mir und errichtete eine Mauer um mich herum, drängte die wogende Energie zurück, die durch meinen ganzen Körper pulsierte. Ich wusste nicht, ob das, was ich tat, richtig war, ich folgte nur meinen Instinkten.

Allmählich klang die Lust ab. Phoenix musste meinen Widerstand gefühlt haben, denn er drängte noch heftiger. Dieses Mal wurde ich von Verlangen, totalem, blankem Verlangen überschwemmt. Alle richtigen Teile … bzw. die falschen Teile, reagierten darauf, mein Körper regierte meinen Verstand.

Meine Hände wanderten über seinen Körper, als ich mich in diesem Moment verlor, und er zog mich an sich. Wieder konzentrierte ich mich auf meine innerste Kraft und begann, Schutzmauern zu errichten. Dadurch gingen Lust und Verlangen zurück und ich fühlte allmählich, wie mir der Durchbruch gelang.

Ich erlangte nicht nur meine Selbstbeherrschung, sondern war auch in der Lage, in meine Kraft zu sehen. Morgen und Abend flammten vor mir auf und in ihnen sah ich Fasern meines Innersten, meiner Seele. Etwas, das nicht ich war, war um mich herumgewickelt, würgte mich.

Mir wurde klar, dass ich nach einem Teil meiner selbst suchte, der weggeschlossen war. Ich versuchte, mich von etwas zu befreien. Gerade als ich wieder auf meine Kräfte zugreifen und mir von dort Hilfe holen wollte, zog sich Phoenix von mir zurück, zerstörte meine Konzentration und brachte mich abrupt zurück in die Realität. Ich starrte ihn ein wenig erschrocken an. Sofort wanderte seine Hand zu meinem Gesicht – wie so oft – und Ruhe durchflutete mich, die alles andere dämpfte.

»Du hast mich hinausgedrängt. Das hat bis jetzt noch niemand geschafft.« Prüfend schaute er mich an und versuchte meine Reaktionen einzuschätzen. Was mir etwas unangenehm war.

»Phoenix …« Doch ich bekam nie die Gelegenheit, zu Ende zu sprechen. Als ich den Mund öffnete, flutete Apfelgeschmack hinein. Alles in mir schrie, dass Gefahr drohte.

»Verbannte.«

Phoenix erstarrte. »Es können keine hier sein, ich kann sie nicht spüren …« Aber nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, fragte er: »Wie viele?«

Ich konzentrierte mich, versuchte, es herauszufinden. Das hatte ich noch nie zuvor getan. »Ich bin mir nicht sicher.« Aber als ich auf meine engelhaften Kräfte zurückgriff, fühlte ich eine Veränderung – es war etwas Neues, als wäre ich irgendwie in der Lage, die Sinne auszufahren und zu suchen. Ich schaffte das nur für ein paar Sekunden, gerade lang genug, um einen Blick zu erhaschen. »Viele … Acht … Vielleicht auch mehr.«

Phoenix stieß eine Reihe von Flüchen aus, die ich noch nie aus seinem Mund hatte kommen hören, dann knirschte er mit den Zähnen. »Ich kann sie immer noch nicht spüren. Wie nah sind sie?«

Das konnte ich sagen. »Sie sind noch draußen, aber nicht mehr lang.« Er stand auf. »Warte hier. RÜHR DICH NICHT VON DER STELLE!«, befahl er. Und dann war er weg.