KAPITEL VIER
»Im Laufe eines Jahres gibt es ebenso viele Nächte wie Tage, und die einen dauern gesamthaft gesehen ebenso lange wie die anderen. Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar, und das Wort Glück würde seine Bedeutung verlieren, hätte es nicht seinen Widerpart in der Traurigkeit.«
C. G. JUNG
Ich füllte eine Farbwanne mit Grundierung und machte mich an meiner Wand zu schaffen. So gern ich auch weiterhin auf der Couch herumgelungert wäre – der Kontrollfreak in mir hatte schließlich gewonnen. Im Moment war das der beste Ort für mich – mit dem Gesicht zur Wand, der Welt den Rücken zugekehrt. Das ist einer der Gründe, warum ich so gern male.
Ich fand in einen guten Rhythmus. Aber selbst das gleichmäßige Tempo konnte meine Erinnerungen nicht beiseiteschieben. Tränen strömten mir lautlos über das Gesicht. Ich hasste es, dass mir das passieren konnte. Immer noch.
Ich streckte mich nach oben und begann, die Geduld zu verlieren. Ich fühlte, wie alles in mir hochkochte, dann legte sich eine Hand auf meinen Arm und mein ganzer Körper fuhr vor Angst zusammen. Das war ein Reflex, den ich nicht verhindern konnte, und ich hasste mich dafür, dass ich ihn hatte. Es war der Reflex eines Opfers.
Lincolns Hand ließ mich nicht los. Stattdessen wanderte sie an meinem Arm herunter und nahm mir vorsichtig den Pinsel aus der verkrampften Hand.
»Ich mache das.«
»Schon okay. Ich kann …«
Aber er schnitt mir das Wort ab, indem er um mich herumkam, um mich anzuschauen. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken. »Ich werde auf dich aufpassen.« Er strich mir über das Haar und ich atmete bebend aus, vor Angst, die Fassung zu verlieren. »Bitte, nur heute Abend. Bevor …«, sagte er in kaum mehr als einem Flüstern. Ich schaute auf und mein Blick blieb an der Intensität seiner leuchtend grünen Augen hängen. Als Reaktion darauf schien mein Körper zu schmelzen. Die letzte der Erinnerungen verblasste.
»Bevor was?«, murmelte ich.
Er blinzelte und trat zurück. »Nichts. Hast du schon entschieden, was du malen wirst?« Er stieg auf den Hocker.
Ich setzte mich auf den Boden und schaute zu, wie er die Wand fertig grundierte, bei jedem Pinselstrich spannten sich die Muskeln seiner braun gebrannten Unterarme an. Alles wurde besser, wenn ich einfach nur bei ihm war. Das war immer so. Ich hatte noch nicht endgültig entschieden, was ich malen würde, aber es sollte ungefähr so aussehen, wie sich Lincolns Zuhause für mich anfühlte. Außerdem wollte ich wohl auch, dass er wusste, welche Gefühle er in mir auslöste.
»So ungefähr. Es wird so etwas wie eine … Aura werden, denke ich.«
Er schaute auf mich herunter und zog eine Augenbraue hoch. »Erklär es mir.«
»So etwas wie: Obwohl irgendwelche Mächte von außen auf die Wände drücken, fühlt man sich hier drin wie in einem Kokon des Guten. Als würde man nach Hause kommen.« Ich spürte, dass er lächelte, was mich ermutigte, fortzufahren. »Wenn ich darüber nachdenke, wie andere es sehen würden, stelle ich mir vor, dass sie eine gute Macht sehen, die die Mächte des Bösen überstrahlt und diesen Ort beschützt.« Lincoln fiel beinahe von seinem Hocker. Er sprang mit bestürztem Gesicht zu Boden.
Ich versuchte ihn zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen! Es wird dezent und zart werden, aber trotzdem nicht mädchenhaft. Es wird dir echt gefallen.« Ich machte mir Sorgen, dass ich gerade dabei war, meine Wand zu verlieren, noch bevor ich überhaupt angefangen hatte, deshalb fügte ich rasch hinzu: »Wenn es dir nicht gefällt, streiche ich sie wieder weiß für dich. Versprochen!«
»Nein … Nein, das klingt großartig – um nicht zu sagen perfekt. Ich war nur überrascht. Zu hören, dass du es so erklärst. Die Sache mit Gut und Böse. Denkst du … viel darüber nach? Über Gut und … Böse?«
Erleichtert stieß ich den Atem aus. Ich hatte meine Wand noch.
»Ähm … keine Ahnung. Nicht wirklich. Ich weiß echt nicht, was ich von diesem ganzen Thema Gott halten soll.« Obwohl ich das wusste, wenn ich ehrlich war. »Du weißt, dass ich nicht religiös bin.«
Wie konnte ich an Gott glauben? Was für ein Mistkerl würde mich im Moment meiner Geburt mutterlos zurücklassen? Würde mich in einem Zimmer allein lassen mit einem Perversling, der für immer durch meine Gedanken spuken würde? Und ich spreche hier nur von mir – vom Rest der Welt will ich gar nicht erst anfangen. Gott? Der ist nur etwas für die besonders Verlorenen, die ihn infrage stellen können, und für die besonders Berufenen, die ihn loben können.
Er nickte, als hätte er all die Dinge, die ich nicht gesagt hatte, gehört. »Ich auch nicht. Aber ich glaube, dass gute und böse Mächte in unserer Welt wirken und … darüber hinaus. Ich glaube, dass zwischen uns und dem ›Thema Gott‹« – er wackelte mit den Fingern, um Anführungszeichen anzudeuten – »sozusagen eine weitere Ebene liegt.«
»Eine weitere Ebene?«, fragte ich.
»Einfach …« Er bewegte seine Hände, als würde er überlegen, ob er fortfahren sollte oder nicht. »Weitere Bereiche … weitere Wesen.«
»Tatsächlich?«, sagte ich ein wenig irritiert. »Was haben immer alle mit diesem jenseitigen Kram?«
»Wie? Hat sonst noch jemand mit dir geredet?«, fragte er und machte plötzlich einen Schritt auf mich zu.
»Nein … na ja, irgendwie schon. Meine Mum hat auch an Geister oder so etwas geglaubt.«
»Oh«, sagte er, wobei er ausatmete und wieder ein bisschen zurückwich.
»Und?«, ermunterte ich ihn, erpicht darauf, ihn vom Thema meiner Mutter abzulenken. »Glaubst du, dass diese anderen Wesen, oder was auch immer, gut sind?«
»Vielleicht. Aber alle Dinge brauchen ihr Gegengewicht. Du weißt schon, Licht und Dunkelheit, Sonne und Mond, Yin und Yang … Wo es also Wesen gibt, die Gutes hervorbringen, muss es auch solche geben, die das nicht tun.«
»Du meinst, das Böse?«, fragte ich ihn verwirrt.
»Vielleicht ist es nicht ganz so eindeutig. Vielleicht bedingt das Vorhandensein einer Sache – Licht oder Dunkelheit – die Existenz der anderen. Denk mal darüber nach, niemand kann ein Superheld werden, wenn er nicht zuerst gegen die Mächte der Finsternis gekämpft hat. Ärzte könnten nicht Gutes tun, wenn es keine Krankheiten gäbe, die sie behandeln könnten.« Sein Blick war fest auf mich gerichtet, als wollte er unbedingt, dass ich ihn verstehe. Als er bemerkte, dass nichts von mir kam, stieß er ein halbherziges Lachen aus. Dann streckte er lächelnd seine Hand aus, um mich vom Boden hochzuziehen.
Ich stand auf und nahm ihm den Pinsel aus der Hand. »Ist es okay, wenn ich sage, dass ich absolut keine Ahnung habe, wovon du sprichst?«
»Das wirst du schon noch«, sagte er leise und ging in Richtung Küche, bevor ich sein Gesicht sehen konnte.
Nachdem er mir geholfen hatte, die Pinsel sauberzumachen, und ich ihm geholfen hatte, die Küche aufzuräumen, schnappte ich mir meine Tasche und er schnappte sich gleichzeitig seine Schlüssel, dabei nahmen wir uns beide kurz Zeit, um uns gegenseitig anzulächeln. Ich mochte, was wir da hatten – was immer das war. Wir brauchten keine Worte; wir hatten unsere eigene kleine Routine. Ohne zu fragen, wusste ich, dass er mich nach Hause fahren würde, und er wusste, ohne zu fragen, dass ich ihm das erlauben würde.
Als er sein Allradantrieb-Auto vor unserem Wohnblock zum Stehen brachte, stellte er den Motor ab und wandte sich mir zu.
»Es geht mir gut«, sagte ich, bevor er fragen konnte.
Er nickte und lächelte finster. »Gehst du morgen früh laufen?«
»Ich bin schon früh mit Steph zum Shoppen verabredet.«
Zum ersten Mal war ich froh, dass ich eine gute Ausrede hatte, keinen Zehnkilometerlauf zu machen.
Lincoln stieß ein mildes Gelächter aus. »Aha, Geburtstags-Shopping.«
»Ja, aber fang gar nicht erst an damit. Ich verlasse mich darauf, dass der Tag ohne irgendwelche besondere Aufmerksamkeit von deiner Seite vorübergeht.«
»Ich verspreche dir, dass ich noch nicht mal freundlich zu dir sein werde.«
Er log.
»Gut«, sagte ich, was ebenfalls gelogen war.