KAPITEL ACHTZEHN

»Den Willigen führt, den Unwilligen treibt das Schicksal.«

SENECA

 

»Violet«, sagte Griffin, »ich muss Lincoln die Leichen zeigen. Er könnte etwas entdecken, was mir entgangen ist. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du hier warten.«

Was ich hätte sagen sollen, war: Klar, ich warte hier auf euch. Was ich dummerweise sagte, war: »Ich will sie auch sehen. Wenn das dazugehört, wenn man ein Grigori ist, dann finde ich, dass ich das Recht habe, es zu sehen.«

Griffin lief los in seinen staubigen schwarzen Stiefeln und gab mir dabei ein Zeichen, mitzukommen. »Ich sag es ganz deutlich – zwei von ihnen wurden mit schierer Brutalität ermordet, der andere durch … etwas noch Schlimmeres. Nichts davon ist in irgendeiner Weise friedlich.«

Ich nickte und fragte mich, was noch schlimmer sein könnte als schiere Brutalität. Wir gingen auf Magda und die anderen Grigori zu. Keine Polizisten oder Spurensicherer waren dort, kein gestreiftes Polizeiband, nichts, was den Tatort kennzeichnete.

»Werdet ihr das der Polizei melden?«, fragte ich Lincoln.

Er schaute mich traurig an. »Nein. Es ist zu gefährlich, normale Menschen in all das zu verwickeln. Außerdem ist es unmöglich, die Verletzungen zu erklären, ohne Verdacht zu erregen. Wir haben Leute, die in der Regel ein anderes Szenario vortäuschen, das die Behörden zwar auf die Toten aufmerksam macht, aber die Umstände verschleiert.«

»Wie zum Beispiel?« Ich war entsetzt, verstand es aber seltsamerweise.

»Ganz unterschiedlich – Autounfälle, Brände, so was in der Art.«

»Himmel«, sagte ich. Mir wurde bewusst, dass er lauter Unfallszenarien erwähnte, die wirklich ein Blutbad zur Folge hatten.

Als wir uns dem Tatort näherten, spürte ich ein kleines Summen, das in mir vibrierte. Ich versuchte, es unter Kontrolle zu halten. Im Rückblick lässt sich sagen, dass dies ein guter Moment gewesen wäre, sich aus dem Staub zu machen. Hinterher ist man immer schlauer.

Ich sah die erste Leiche und entspannte mich vorschnell. Es war schlimm, aber nicht entsetzlich, nur ein regloser Körper. Dann fiel mein Blick auf die anderen beiden Opfer und meine Hand flog zu meinem Mund. Ich wollte mich übergeben. Beide waren Frauen; jung, schön und nackt. Sie verströmten bereits einen starken Geruch, eine Mischung aus rohem Fleisch und salzigem Blut, das in der Hitze trocknete. Ich presste die Hand noch fester auf meinen Mund, als ich die Löcher in ihrem Bauch sah. Neben ihnen lag ein Haufen …Organe, glaube ich. Als wären sie von einer Hand aufgerissen worden, die das Innere herausgezogen und einfach neben die leeren Leichen geschmissen hatte. Es war monströs, eine Szene äußerster Zerstörungswut.

Ich schlang die Arme um meinen Bauch und versuchte, das absolut beängstigende Gefühl zu ignorieren, das in mir aufkam und an jeder einzelnen Faser meines Seins rüttelte – pure Lust. Wer auch immer, was auch immer dies getan hatte, hatte dabei äußerste Wonne empfunden. Und ich konnte es auch empfinden.

Verzweifelt versuchte ich, den Blick abzuwenden, und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den anderen Leichnam. Dieses Mal sah ich ihn wirklich. Ich hatte schon davon gehört, dass das Gehirn einen Menschen davor bewahren kann, Dinge zu verarbeiten, die zu verstörend für ihn sind. Der Mann, der noch angezogen und einigermaßen unberührt war, lag in einem Zustand der Leere da, nicht so, als wäre er tot, sondern als wäre er verloren.

Tote sollten eigentlich so aussehen, als hätte sie ihre letzte Ruhe gefunden, aber ich wusste jetzt, was Griffin gemeint hatte, als er sagte, wir würden auf nichts Friedliches treffen. Es würde nämlich nichts geben. Ich starrte alle drei entsetzt an, mein Herz weinte um sie. Mir war, als müsste ich ersticken.

Als ich Apfel auf meiner Zungenspitze schmeckte, wusste ich, dass der Rest der Sinneswahrnehmungen folgen würde. Ich stolperte ein paar Schritte und versuchte, wegzulaufen. Vergeblich.

Bilder von Morgen und Abend flimmerten vor meinen Augen, blendeten mich. Es war … brutal. Schmerzhaft. Ich fiel auf die Knie und schrie. Ich hörte Lincoln rufen, aber er erreichte mich nicht. Ich wollte, dass es aufhörte, aber ich schaffte es nicht. Kalte Hitze durchströmte meinen Körper. Ich fühlte mich wie eine starre Statue aus Eis, in deren Innerem ein Vulkan ausbricht. Ich konnte meine Schreie hören. Welten entfernt.

Mein Rücken bog sich, meine Arme fielen nach hinten, baumelten herunter, meine Knöchel schleiften über den Betonboden.

Ein Arm umfasste meine Taille, hielt mich hoch, als ich mich noch weiter nach hinten krümmte. Hände umfassten mein Gesicht, hielten mich still. Ich spürte, wie ich fortglitt, mich selbst an die Sinneswahrnehmungen verlor. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, mich daran zu erinnern, was Phoenix mir gesagt hatte. Gefühle. Ich musste meine Gefühle unter Kontrolle bringen. Oder sie mit etwas ablenken, das mich voll und ganz verzehren könnte.

Ich hoffte, dass es Lincolns Arm war, der um meine Taille griff.

»Küss mich«, flüsterte ich.

Die Hände auf meinem Gesicht erstarrten. Eine weitere Welle der Empfindungen rollte durch mich hindurch.

»Küss mich, bitte!« Dieses Mal schrie ich es hinaus.

Er stürzte sich auf mich, durchbrach die Barrikaden. Sein Mund passte sich so perfekt meinem an, er drückte meine Lippen auseinander und … wir verschmolzen. Die gleiche kühle, reine Brise, die ich gespürt hatte, als Lincoln mich berührte, während ich gleichzeitig das Armband in der Hand hielt, durchzuckte meinen Körper, meine Seele. Wie Wind in einem Feld wehte sie den überwältigenden Duft von Blumen fort. Ich fühlte, wie der Apfelgeschmack verblasste, bis ich nur noch seinen sehr realen Mund schmecken konnte. Mein Körper goss die kalte Hitze und die summende Energie in ihn, bis er alles aufgesogen hatte. Die Vögel umflatterten uns und flogen in die Ferne.

Er zog mich an sich. Er kniete vor mir, küsste mich leidenschaftlich und es fühlte sich … richtig an. Morgen und Abend glitten davon. Es gab nur noch uns. Stille umgab uns. Mein Herz machte einen Sprung und ich küsste ihn ebenfalls, weil ich so sicher wusste, dass ich ihn liebte. Mein Herz weinte und ich zog mich zurück, weil ich so sicher wusste, dass er mich betrogen hatte.

Ich fiel zu Boden.

Er fiel zu Boden.

Ich weinte.

Er schrie.

Langsam rückten der Raum und die Menschen um uns herum wieder ins Sichtfeld. Griffin war an meiner Seite, stellte mir eine Million Fragen, die nicht zu mir durchdrangen. Ich wusste nicht, ob der Schmerz, der sich durch mich hindurchwälzte, real war oder nicht. Ich schaute zur Seite und sah die leblosen Körper, die um mich herumlagen. Es war, als wäre ich einer von ihnen.

»Lincoln?«, krächzte ich. »Ist er okay?«

Magda hatte sich über Lincoln gebeugt, der am Boden lag. Ich kroch das kurze Stück zu ihm hinüber. Mir entging der anklagende Blick nicht, den sie mir zuwarf, bevor sie zur Seite ging. Bei all der Gewalt, die gerade durch meinen Körper gerauscht war, musste ich gegen die vorübergehende Lust ankämpfen, ihr Gesicht mit meiner Faust zu zerschlagen.

»Linc.« Meine Stimme bekam Risse, als ich versuchte, meine Tränen unter Kontrolle zu halten.

Er schaute mich zitternd an.

»Bist du verletzt? Habe ich dir wehgetan?«

Sein Atem ging schnell. »Eher überlastet. Ich habe so etwas noch nie erlebt … Violet, dein …« Er wandte sich von mir ab, um Griffin anzuschauen, der nun ebenfalls neben ihm kniete. »Hast du das gesehen? Irgendetwas davon gespürt?«

Griffin war ruhig. »Ich habe es gesehen, aber nicht gespürt. Sag es mir.«

Lincoln schaute mich an. »Kann ich?«

Wenigsten hatte er mich um Erlaubnis gefragt. Ich nickte schweigend. Ich konnte nicht weiterhin so tun, als würden diese Dinge nicht passieren.

»Ich habe alle fünf gespürt, Griff. Ihre Zusage hat noch nicht einmal stattgefunden und sie hat alle fünf Sinneswahrnehmungen, jede davon stärker als alles, was ich jemals gespürt habe. Als ich sie berührte, gab sie sie an mich weiter. Ich habe sie in ihrer ganzen Macht gespürt. Es ist, als ob sie … sie fühlt sie nicht nur, sondern … wird zu ihnen.«

Ja, ich bin so was wie besessen!

Griffin schwieg, dann fragte er: »Warum der Kuss?«

Gute Frage. Lincoln schaute mich an.

Bitte zwing mich nicht dazu, zu versuchen, es zu erklären.

»Ich glaube, weil sie es nicht unter Kontrolle hatte, es nicht stoppen konnte. Als ich sie küsste, entstand eine Art Leitung. Als könnten wir die Sinneswahrnehmungen teilen und ihnen einen Weg weisen. Als sie erst mal durch mich hindurchgegangen waren, verschwanden sie.«

Griffin schaute mich neugierig an. »Es muss dich also nur jemand küssen, damit du es kontrollieren kannst?«

Ich sah Lincolns Augen aufblitzen, als er auf meine Antwort wartete. Ich wusste, dass er sich fragte, ob ich diese Theorie zuvor schon einmal ausprobiert hatte.

»Nein.« Ich wurde rot. Ich konnte nicht sagen, was ich wusste. Konnte nicht sagen, dass ich Phoenix geküsst hatte und die Sinneswahrnehmungen nicht aufgehört hatten. »Ich … ich bin mir nicht sicher«, log ich.

»Okay, dann müssen wir dafür sorgen, dass Lincoln zur Hand ist, wenn das noch einmal passiert.« Griffin sah ernst aus, aber als er die Panik in meinem Gesicht sah, wurde er sanfter. »Ich wünschte, ich könnte dir Antworten geben, Violet, aber ich habe keine. Ich habe noch nie einen Grigori getroffen, der alle Sinne besitzt oder ein so scharfes Bewusstsein hatte, dass er Verbannte wahrnehmen konnte, wenn sie den Ort der Zerstörung bereits verlassen haben. Möglicherweise ist das nur vorübergehend so und Lincoln ist der Einzige, der dir helfen kann, weil er dein Partner ist. Ihr seid so beschaffen, dass ihr euch gegenseitig ergänzt, obwohl so enger körperlicher Kontakt nicht…«

Er und Lincoln wechselten einen Blick.

»Nicht jetzt«, sagte Lincoln. Sie verschwiegen mir etwas. Ich spürte, wie ich meinen Schutzwall wieder um mich hochzog. Ich wollte nicht wieder angelogen werden.

»Jedenfalls müssen wir jetzt erst mal herausfinden, was heute Nacht hier passiert ist. Ich kenne jemanden, der wissen sollte, ob irgendwelche Verbannten des Lichts gefangen genommen wurden – damit können wir anfangen. Wir müssen wissen, womit wir es hier zu tun haben, vor allem, wenn es mehrere sind.«

»Einverstanden«, sagte Lincoln. »Aber wir sollten Vi hier wegbringen, für den Fall dass die Sinneswahrnehmungen zurückkehren.« Er stand bereits auf und klopfte sich die Kleider ab.

»Gute Idee.« Griffin wandte sich zu mir um. »Lincoln wird dich nach Hause bringen. Wir können uns morgen unterhalten, darüber sprechen, was auf dich zukommt.«

Ich starrte ihn an. Eine solche Zukunft kam für mich nicht infrage. Ich hatte gerade damit begonnen zu glauben, dass ich so ein Leben vielleicht durchhalten konnte, dass ich dadurch vielleicht die Schuld daran, was mit Claudia passiert war, irgendwie abtragen könnte. Aber ich konnte es nicht … Mein ganzer Körper schlotterte noch von dem, was gerade passiert war. Ich hatte keinerlei Kontrolle gehabt, und Kontrolle war eine Sache, auf die ich nicht gewillt war zu verzichten. Ich wollte nicht von diesen Sinneswahrnehmungen überwältigt werden. Besonders weil ich wusste, dass der Mensch, der mich auf das Schlimmste hintergangen hatte, auch der Einzige war, der dieser Sache Einhalt gebieten konnte.

»Eigentlich geht es mir gut«, sagte ich. »Hör mal, das verstehe ich, wirklich. Was ihr da tut, ist wichtig. Es ist nur … ich kann das nicht.« Ich schaute mich in der Halle um und entdeckte die Ausgangstür. »Tut mir leid, ich muss jetzt gehen.«

Ich stürzte zur Tür und ging, ohne mich umzuschauen, geradewegs nach draußen. Ich lief, bis ich am Ende der Straße zu einem kleinen Park kam. Ich war nicht weit gekommen, aber meine Beine waren noch immer zittrig und ganz abgesehen davon war ich nicht gerade geschickt in hochhackigen Schuhen. Ja, ich war ein Feigling und Weglaufen war gegen die Regeln, aber ich musste da einfach weg.

Ich setzte mich auf eine abgewetzte Parkbank. Es war spät, oder vielmehr früh. Es sah aus, als würde sich die Morgendämmerung in den Himmel stehlen. Ich hörte Schritte. Ohne mich umzudrehen wusste ich, dass er es war. Er setzte sich neben mich und griff nach meiner Hand, aber ich zog sie weg.

»Tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie ich diesen Kram steuern soll.« Ich fragte mich, wie schmerzhaft es gewesen war. Seine Schreie hatten ziemlich schlimm geklungen.

»Ich war froh, dass ich dir helfen konnte. Ich wollte dir helfen. Es waren sowieso nicht die Sinneswahrnehmungen, die wehgetan haben.« Er legte den Kopf in die Hände und stützte die Ellbogen auf die Knie. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Dich zu küssen ist … ich habe so lange, so sehr versucht, mich selbst zu verleugnen. Ich habe versucht, das Richtige zu tun. Aber seit wir uns an deinem Geburtstag geküsst haben … ich wusste, wenn wir erst mal anfangen würden, wäre ich nie in der Lage … auch wenn wir das nicht tun können.«

»Du sagst immer, dass wir das nicht tun können. Das ist nur eine Ausrede, Linc.«

»Nein, ist es nicht.«

»Warum denn? Warum können wir nicht?« Ich wusste, dass ich mir wahrscheinlich nur noch mehr Schmerzen zufügen würde, wenn ich mit ihm darüber sprach, aber ich konnte nicht anders.

»Wir sind füreinander bestimmte Partner, Vi. Wie Griffin schon sagte, ergänzen sich unsere Fähigkeiten, unsere Seelen beeinflussen sich. Grigori-Partner können niemals zusammen sein … auf diese Weise. Es ist zu gefährlich. Es schwächt unsere Kräfte, macht uns Verbannten gegenüber verwundbar.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Deshalb habe ich immer versucht, Distanz zu wahren, fernzubleiben, professionell zu sein. Aber jetzt …«

»Jetzt was?«, fragte ich, während ich versuchte zu verarbeiten, was er sagte. Wir konnten niemals zusammen sein? Jedenfalls nicht, wenn ich ein Grigori werde... sein? Jedenfalls nicht, wenn ich ein Grigori werde …

Er schüttelte den Kopf. »Jedes Mal, wenn ich dich jetzt anschaue, kann ich sehen, dass du meine Anwesenheit nicht ertragen kannst, und ich kann es nicht einmal in Ordnung bringen.«

Ich schwieg. Ich sagte ihm nicht, dass das nicht stimmte, dass ich ihm eigentlich unbedingt nah sein wollte. Dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als die Kraft zu haben, ihn einfach … gehen zu lassen.

»Wirst du mir je vergeben?«, fragte er.

Meine Mutter hatte mich in ihrem Brief um genau dasselbe gebeten. Es verstehen; das konnte ich versuchen. Vergeben schien immer schwieriger zu sein.

»Ich glaube, meine Mutter war ein Grigori«, sagte ich und wich damit seiner Frage aus.

»Was?« Er schien ehrlich überrascht zu sein, was eine Erleichterung war. Ich hatte ihm das nicht zuletzt deshalb noch nicht gesagt, weil ich Angst hatte, er könnte auch das bereits gewusst und vor mir geheim gehalten haben.

»Dad gab mir ein Kästchen, das sie mir zu meinem siebzehnten Geburtstag hinterlassen hatte. Es war das gleiche wie deines und darin lag eines der Silberarmbänder und … ein Brief.«

»Himmel. Das wusste ich nicht, ich schwör’s dir. Ich habe noch nie von einem anderen Grigori gehört, dessen Mutter oder Vater Grigori war. Was stand in dem Brief?«

»Dass es verschiedene Mächte auf dieser Welt gibt und sie manchmal zurückgeschickt werden müssen … und dass ich ihr verzeihen soll.«

»Oh.«

Das Schweigen sprach Bände, bis Lincoln es schließlich brach. »Ich weiß, dass ich dein Vertrauen enttäuscht habe. Wenn du deine Zusage hinter dir hast und ein Grigori bist, werden keine Geheimnisse mehr notwendig sein. Ich verspreche dir, dass ich dann nie wieder etwas für mich behalten werde.

»Tut mir leid, Lincoln, aber hast du verdammt noch mal den Verstand verloren? Glaubst du wirklich, ich will ein Grigori werden? Nach alldem, was gerade passiert ist? Was wird mit mir, wenn ich mich tatsächlich auf diese Zusage einlasse? Ich komme ja jetzt schon nicht zurecht!«

Er runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«

»Ich sags dir noch einmal ganz klar und deutlich: Ich – will – kein – Grigori – sein. Ein für allemal! Es tut mir leid, dass du so großartige Pläne hast, aber ich möchte einfach nur zur Schule gehen und mein Leben leben. Einfach nur mein normales, menschliches Leben.« Während ich es sagte, merkte ich, dass das stimmte.

Er stand auf und begann, auf und ab zu gehen. Ich stand ebenfalls auf. »Das geht nicht, Vi. Du bist nicht wie alle anderen. Selbst Phoenix hat das gesagt. Deine Macht erregt zu viel Aufmerksamkeit. Du musst lernen, wie du deine Grigori-Macht nutzen kannst, damit du sicher bist.«

»Nein, muss ich nicht. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Denk daran – freier Wille. Du kannst es Griffin ausrichten.«

Er ging vor mir in die Hocke, den Kopf in die Hände gestützt, dann sank er auf die Knie. »Violet, bitte. Ich kann nicht einfach danebenstehen und zuschauen, wie sie dir wehtun. Du kannst mich für immer hassen, aber bitte tu das nicht. Sie werden dich finden und … sie werden dich umbringen.«

Wow. Es geht doch nichts über eine Todesdrohung, wenn man die Nacht ein bisschen heller scheinen lassen will.

Ich stand auf, während er zu meinen Füßen hocken blieb. In diesem Moment kam mir das ironisch vor. Sonst hatte ich immer ihm zu Füßen gelegen, ihn verehrt.

»Das Risiko geh ich ein.«

Er starrte zu Boden, aber als er sprach, klang seine Stimme fest. »Glaubst du wirklich, dass dich dieser Verbannte beschützen kann? Bist du sicher, dass er nicht vielmehr genau das ist, wovor du weglaufen solltest?«

Fast hätte ich gelacht. »Das klingt nach Eifersucht, Lincoln.«

Er blickte nicht auf. »Natürlich. Ist es nicht das, was du wolltest?«

Es wäre einfacher gewesen, mir selbst mit dem Zahnstocher ins Auge zu pieksen, als mich zu zwingen, mich umzudrehen und wegzugehen. Aber irgendwie schaffte ich es. Ich verließ den Mann, von dem ich mich früher niemals freiwillig abgewandt hätte, und ließ ihn dort im nassen Gras knien.