KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
»Auch heute noch werden überall Opfer erbracht und überall leiden die Auserwählten jeder Generation, um den Rest zu retten.«
HENRI-FRÉDÉRIC AMIEL
Ich stand völlig bewegungsunfähig in Lincolns Küche. Mein Shirt war jetzt ärmellos. Ich erinnerte mich vage daran, dass Magda die Ärmel abgerissen hatte, um Lincolns Blutung damit zu stillen. Was noch übrig war, war ohnehin völlig durchnässt. Meine Hände waren voller roter Flecken und beunruhigend klebrig, weil Blut zwischen meinen Fingern zusammengelaufen war.
Phoenix hatte darauf bestanden, in einem Taxi zurückzufahren. Er war sich nicht sicher, wie Lincoln mit seinen Verletzungen die Geschwindigkeit verkraften würde. Nachdem sie Lincoln in sein Zimmer getragen hatten, waren er und Griffin sofort wieder losgegangen, um Medikamente und Verbandszeug zu besorgen. Ich wusste, dass Phoenix sich unbehaglich fühlte, und das lag nicht nur an der Tatsache, dass Griffin und Magda einen weiten Bogen um ihn machten. Irgendetwas war unten am Pier passiert, was ihn untypischerweise nervös gemacht hatte – aber im Moment konnte ich nur an Lincoln denken.
Magda hatte mich aus seinem Zimmer geworfen und mich angewiesen, mich zu waschen und umzuziehen. Sie sagte, an mir klebe mehr Blut, als er noch in sich hätte, und ich sei ihr keine Hilfe. Sie hatte recht. Ich war überhaupt keine Hilfe. Meine Hände zitterten, als ich ein paar Paracetamol mit einem bebenden Glas Wasser hinunterschluckte.
Der nächste vernünftige Schritt wäre eine Dusche gewesen, aber ich stand einfach nur wie gelähmt da. Ich konnte die Stimme in meinem Kopf nicht ignorieren – sie sang, spottete, quälte – Er wird sterben, Violet. Wir wussten es alle. Sogar Lincoln, denn es stand in seinen Augen, als er im Taxi kurz zu sich kam. Er wusste es. Sie wussten es. Ich wusste es. Ich wusste … was ich zu tun hatte. Hoffnung und Furcht wetteiferten um meine Aufmerksamkeit und ich warf mich über die Spüle. Ich erbrach mich, bis nichts mehr übrig war, und dann noch ein bisschen mehr. Meine Hände griffen an meinen wunden Hals. Ich genoss den Schmerz, fand Erleichterung in der kurzen Ablenkung.
Ich musste jetzt stark sein für Lincoln und benahm mich ganz und gar nicht danach. Das war nicht akzeptabel. Zusammenklappen konnte ich auch später noch, sagte ich mir. Viel später. Ich rappelte mich wieder auf, schnappte mir das Wasser und schluckte noch mehr Paracetamol. Später. Viel, viel später.
Als Phoenix und Griffin wieder zurückkamen und abgesehen von einem Krankenhausbett so ungefähr alles mitgebracht hatten, war ich geduscht und saß auf der Couch. Ich hatte mir von Lincoln eine Jogginghose und eines seiner T-Shirts angezogen. Ich hatte es auch geschafft, einen Kaffee auf der noch funkelnden Kaffeemaschine zu machen, die einen Ehrenplatz auf der Küchentheke einnahm. Die Kaffeemaschine war so ungefähr das Einzige, was sauber war. Die ganze Lagerhalle sah aus wie der Ort einer Katastrophe. Überall lagen Bücher herum, die Couch war in ein provisorisches Bett verwandelt worden und in der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr; Essensreste lagen herum, die nicht mehr in den überquellenden Mülleimer gepasst hatten. Das sah überhaupt nicht nach Lincoln aus.
»Magda ist bei ihm. Sie braucht Platz.« Noch bevor sie fragen konnten, stieß ich meine schwache Ausrede hervor. Jetzt, wo mir klar wurde, wo das hinführen würde, war ich nicht in der Lage, zu ihm zu gehen.
Ich konzentrierte mich auf Phoenix. »Wenn Grigori-Kräfte von Engeln stammen, bedeutet das dann, dass du auch die Kraft zu heilen besitzt?«
Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich kann dir nicht helfen.«
»Nur wenige Verbannte sind in der Lage, ihre heilerischen Fähigkeiten zu behalten, wenn sie Menschenform annehmen, Violet«, sagte Griffin, während er eine Reisetasche auf den Esstisch legte.
»Warum hat mir Lincoln nicht erzählt, dass Partner sich gegenseitig heilen können?«
»Er wollte nicht, dass du deine Entscheidung aus anderen Gründen triffst als aufgrund dessen, was du wirklich willst.«
Ich war mir sicher, ich war nicht die Einzige, die diese Bemerkung ironisch fand. »Was passiert mit einem Grigori, wenn sich sein Partner gegen die Zusage entscheidet?«
Griffin öffnete den Mund, aber bevor er noch antworten konnte, hob ich die Hand. »Eigentlich spielt das jetzt keine Rolle mehr.«
»Violet?«
Ich nickte. Ich hatte mich entschieden. »Wir müssen reden«, sagte ich. Wir hatten keine Zeit mehr.
Griffin gab Phoenix die Medikamente und bat ihn, sie zu Magda zu bringen. Als Phoenix an mir vorbeiging, warf er mir einen mitfühlenden Blick zu. Ich war mir sicher, dass er meine Gefühle las. Ich wandte mich ab.
Griffin saß mit einer Flasche Wasser an der Küchenbar. Er nahm ein paar langsame Schlucke, spielte mit dem Deckel, indem er ihn durch seine Finger rollen ließ. »Du musst das nicht tun. Er würde dich nie darum bitten, dass du – nicht so.«
»Ich weiß.«
Ich gesellte mich zu ihm an die Bar und versuchte, tapfer zu sein. »Wir haben nicht viel Zeit. Sag mir, was ich wissen muss.«
»Es ist ein Sprung. Eine Hingabe. Du kannst es nicht rückgängig machen, wenn du es getan hast, Violet.«
Ich ignorierte ihn. »Ein Sprung. Shit, Griffin, das klingt gefährlich nach blindem Vertrauen.«
»Auf eine Art ist es das auch.«
»Also, wir sitzen alle wunderbar in der Patsche. Im Moment kann ich mich nicht einmal für den Gedanken erwärmen, dass es möglicherweise einen Gott gibt.«
»Es geht um Vertrauen, Violet, das muss nicht mit Gott zu tun haben. Du brauchst einfach nur Vertrauen.«
Ich presste die Zähne zusammen und machte weiter. Es klang noch immer wie eine verdammte Gott-Angelegenheit für mich. »Prima, wo werde ich springen?«
»Es gibt ein Ritual, in dem du dich bereit erklären musst. Du musst in die Wildnis gehen und eine Nacht dortbleiben. Dort gibt es einen Berg, den du besteigen musst, an dessen Spitze sich ein Felsen befindet. Im ersten Augenblick der Morgendämmerung springst du. Ab da trittst du deine eigene Reise an. Nur eines ist für uns alle gleich. Du wirst sowohl zum Licht als auch zur Finsternis gehen. Da gibt es keine Ausnahmen.«
Ich holte tief Luft. Ich sollte von einem Felsen springen.
»Kann man dabei sterben?« Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Antwort darauf wollte, war mir nicht sicher, ob es irgendetwas ändern würde.
»Nicht dass ich wüsste, aber einige kamen zurück und waren in Mitleidenschaft gezogen … geistig.«
Großartig.
Irrsinn, ich komme.
Ich schaute aus dem Fenster. Es war beinahe dunkel. »Kann ich heute Abend gehen?«
»Vielleicht …«, sagte Griffin, aber er sah aus, als wäre er sich da nicht so sicher.
»Vielleicht?«, hakte ich nach.
»Vielleicht, wenn Phoenix dich dorthin bringen kann, aber wir kennen ihn immer noch nicht, Violet. Irgendetwas ist da geschehen zwischen Onyx und ihm, was wir noch nicht verstehen, und kein anderer Verbannter, den ich je gesehen habe, kann sich so schnell bewegen wie er und … na ja, du solltest wissen, dass er für mich nicht zu entschlüsseln ist. Ich kann seine Wahrheit nicht lesen. Das ist noch nie passiert.«
»Aber in der Lagerhalle hast du ihn gelesen.«
»Ich weiß. Ich glaube, er kann es kontrollieren – als würde er eine Tür öffnen, wenn er das will. Aber er kann sie auch geschlossen halten. Dasselbe scheint er tun zu können, wenn wir versuchen, ihn zu spüren. Es ist, als würde er es manchmal erlauben, manchmal aber auch nicht. Ich habe einfach ein schlechtes Gefühl.«
Ich holte tief Luft und stieß sie durch zusammengepresste Lippen wieder aus.
»Steck dir deine Instinkte sonstwohin, Griffin. Sie haben sich heute nicht gerade bezahlt gemacht.« An jedem anderen Tag wäre ich diplomatischer gewesen, aber wie ich gerade herausfand, konnte das Leben verdammt schwierig sein.
Er legte beide Hände auf die Küchenbank und ließ den Kopf hängen. »Du würdest jetzt losgehen müssen«, räumte er ein.
»Ich bringe sie hin.« Phoenix’ Stimme erklang ruhig aus der Küchenecke. Ich fragte mich, wie lang er schon zugehört hatte.
Griffin nahm meine Hände. »Lincoln ist wie ein Bruder für mich, aber du musst das nicht tun. Du musst es aus den richtigen Gründen wollen.«
»Ja, klar.« Fast lachte ich. »Gründe sind Gründe. In dem Moment, als er verletzt wurde, hatte ich keine Wahl mehr.«
»Eine schreckliche Freiheit.« Er lächelte traurig und drückte meine Hände.
»Ja.« Ich brachte das Wort kaum heraus. Besser hätte er es nicht sagen können.
»Er hat Glück, dass er dich hat.«
Ich schaute zu Phoenix hinüber, der wieder seinen allgegenwärtigen Gleichmut erlangt hatte. Was auch immer die anderen vielleicht sagen mochten – er war für mich da gewesen, seit all das begonnen hatte. Er hatte mich nie unter Druck gesetzt oder mich dazu gezwungen, etwas zu tun, jemand Bestimmtes zu sein. Ich zog meine Hände aus Griffins Griff.
»Er hat mich nicht.«
Ich wusste, dass Phoenix die Entschlossenheit aus meinen Gefühlen herauslesen würde. Vielleicht hatte ich meine Wahlmöglichkeit verloren. Vielleicht würde ich nicht in der Lage sein, ihm beizustehen, und würde Lincoln sterben lassen. Vielleicht war ich für immer in diese verdrehte Realität von Engeln und Grigori, Gut und Böse verstrickt – aber alles andere lag bei mir. Ich kam mir lächerlich vor, je geglaubt zu haben, Lincoln und ich könnten zusammen sein.
Dem stand immer etwas im Weg. Durch das, was ich jetzt vorhatte, würde sichergestellt, dass es immer so sein würde. Grigori-Partner können niemals zusammen sein.
Magda kam heraus und warf einen Haufen blutiger Handtücher in die Wäsche. Dann kam sie in die Küche, wo sie fortfuhr, Schranktüren zu öffnen und zu schließen, auf der Suche nach etwas … oder nichts.
Schließlich wirbelte sie herum und starrte mich vorwurfsvoll an.
»Das ist alles deine Schuld! Er hat sich solche Sorgen um dich gemacht, dass er nicht mehr richtig funktionieren konnte. Er isst nichts.« Sie rümpfte die Nase über den schmutzigen Tellern. »Na ja… zumindest nicht seine normalen Portionen. Er hat seit Tagen nicht geschlafen. Er gibt sich selbst für alles die Schuld. Deshalb konnte ihn Onyx auch so leicht überwältigen. Selbst jetzt…« Sie schob einen Teller in der Spüle beiseite, sodass ein Glas unter den Wasserhahn passte. Damit löste sie einen Domino-Effekt aus und der ganze Stapel Teller verrutschte und knackte. Ich hörte, wie etwas zerbrach. Dennoch ließ sie hartnäckig weiterhin Wasser in das Glas schießen und knallte es dann auf die Theke, nachdem sie kaum daran genippt hatte. »Er fragt nach seinem Regenbogen«, spottete sie.
»Was soll eigentlich dieser ganze Regenbogen-Mist?«, fragte ich, wobei ich mich an Griffin wandte und Magda ignorierte. Entweder so oder ein Gruß mit dem erhobenen Mittelfinger.
Griffin blickte von der Karte auf, die er Phoenix gerade gezeigt hatte. »Ich glaube, es hat etwas mit deiner Macht zu tun. Wir alle haben individuelle Stärken – deine scheinen in deiner Aura einen Regenbogen zu reflektieren. Lincoln kann die Schatten sehen, die an Leuten haften, wenn sie von einem Verbannten verändert wurden. Es kann sein, dass er in seinem geschwächten Zustand auch deine Aura deutlicher sehen kann.«
»Großartig. Er hat also Superkräfte und Macht, was die Sehkraft anbelangt, du bist eine Art menschlicher Lügendetektor und ich bekomme meinen eigenen Umzugswagen beim Karneval.« Ich stemmte die Hände in die Hüften und holte ein weiteres Mal tief Luft, um meine Mitte wieder zu finden. Ich blickte Phoenix an, der das Zimmer mit mildem Interesse beobachtete.
»Gehen wir. Ich muss unterwegs noch einen kurzen Zwischenstopp einlegen«, sagte ich. Dann wandte ich mich an Magda, die mich anscheinend noch immer nicht anschauen wollte. »Sag ihm … dass er nicht sterben soll.«
Sie starrte mich ungläubig an. »Du wirst deine Zusage machen?« Ich bedachte sie mit meinem besten Jetztkomm-mir-bloß-nicht-blöd-Blick. »Halt ihn einfach am Leben, bis ich wieder zurückkomme.«
»Gehst du nicht zu ihm?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Nein. Wir müssen los.« Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich nicht wusste, ob ich ihm momentan gegenübertreten konnte, nicht wenn ich wusste, dass mir mein Leben, wie ich es bisher kannte, entglitt.
Phoenix kam zu mir und nahm meine Hand, er spürte, dass ich hier rausmusste. »Wohin?«
»Nach Hause. Ich brauche etwas.«