KAPITEL ZWANZIG
»Denn von heute an in sieben Tagen will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles Lebendige, das ich gemacht habe.«
GENESIS 7, 4
Ich verkroch mich in meinem Atelier. Es war der einzige Ort, an den mir Phoenix nicht folgen würde. Nach unserem katastrophalen Kuss – oder eher meiner katastrophalen Reaktion darauf – erwartete ich, dass er selbst den Weg hinaus fand. Deshalb war ich überrascht, ihn noch immer im Wohnzimmer vorzufinden, als ich eine Weile später wieder auftauchte.
Ich hatte nicht das Herz oder die Energie, ihm zu sagen, dass er gehen sollte, also ignorierte ich ihn einfach. Ich hätte wirklich lernen müssen – in einer Woche, wenn die Schule wieder anfing, begannen auch die Prüfungen und ich hatte noch kaum ein Buch in der Hand gehabt. Letztendlich siegte jedoch mein übermächtiges Bedürfnis, mit einem weichen Kissen und einer flauschigen Decke auf die Couch zu kriechen, fernzusehen und dabei Salz-und-Essig-Chips in mich hineinzustopfen. Die Tatsache, dass Lincoln nicht bei mir war, wirkte sich ganz schlecht auf meine Ernährung aus – mal ganz abgesehen von allem anderen.
Kaum hatte ich die Fernbedienung in die Hand genommen, als mich Phoenix bat, ihm die Mordszene der vergangenen Nacht genau zu schildern. Am liebsten hätte ich ihm einfach gesagt, dass er weggehen sollte. Ich war ganz und gar nicht beeindruckt davon, wie seine »Vertrau mir«-Masche geendet hatte, aber ich merkte, dass ich mich allmählich beruhigte. Dann wurde mir bewusst, dass dafür wahrscheinlich Phoenix verantwortlich war. Ich gab ein frustriertes Geräusch von mir und vergrub meinen Kopf in meinem Kissen. »Ich werde es dir sagen, wenn du aufhörst, mir in meine Gefühle reinzupfuschen!«
Er sagte nichts, aber ich begann, mich wieder mehr wie ich selbst zu fühlen – zorniger –, deshalb wusste ich, dass er sich zurückgezogen hatte.
Es schien keine Rolle zu spielen, wie sehr ich mit meinem eigenen Leben weitermachen wollte, alles lief früher oder später wieder auf Grigori und Verbannte hinaus. Ich bekam allmählich das ungute Gefühl, dass ich dem so oder so nicht würde entkommen können.
Ich berichtete Phoenix von den drei toten Grigori; dass sie von Verbannten ermordet worden waren, nicht von Verbannten der Lichts oder der Finsternis, sondern von beiden. Als ich ihm von Griffins Theorie erzählte, begann er unbehaglich auf seinem Sitz herumzurutschen und Kissen herumzuschieben, als wäre er sehr beschäftigt mit ihnen.
Ich verlor die Geduld. »Was?«
Er seufzte. »Die Regeln haben sich geändert, Violet. Eure Leute müssen endlich die Augen öffnen.« Er schüttelte den Kopf.
»Was meinst du damit?«
»Ich sollte nicht über dieses Zeug reden.«
»Grigori sind gestorben. Wenn du etwas darüber weißt, musst du es mir sagen.«
Phoenix’ Augenbrauen schossen nach oben. »Entschuldigung, du verwechselst mich wohl mit jemandem, dem das nicht total egal ist. Grigori sind die Feinde der Verbannten – aller Verbannten, mich eingeschlossen.«
»Warum hilfst du mir dann? Warum hast du vorgestern Abend diesen anderen Verbannten getötet?«
»Ich habe ihn getötet, weil er dir sonst den Kopf abgerissen hätte.«
»Und wenn nicht? Wärt ihr dann zusammen ein Bier trinken gegangen?« Ich wurde immer wütender.
Seine Augen blitzten gefährlich auf.
»Ich würde niemals mit einem Cherub irgendwohin gehen. Ich sagte doch, dass ich sie nicht mag.« Er presste die Lippen zusammen und beobachtete mich. »Ich dachte, das würde dir ohnehin nichts ausmachen. Du willst ja nicht mal deine eigenen Leute beschützen. Warum gehst du dann davon aus, dass ich es tun würde, wenn sie mich später ohnehin töten würden … oder Schlimmeres.«
»Ich habe nie gesagt, dass es okay ist, wenn sie ermordet werden«, verteidigte ich mich. Ich wurde so zornig. Und ich war nicht die Einzige – Phoenix sah aus, als würde er gleich hinausstürmen.
»Hör mal, du hast recht, ich kann schlecht erwarten, dass es dir etwas ausmacht«, sagte ich zwischen tiefen, beruhigenden Atemzügen. »Aber du bist hier und du hast mich vor dem Cherub gerettet. Ich weiß, andere Grigori sind dir egal … und trotzdem möchtest du, dass ich einer von ihnen werde. Aber wozu wäre das gut, wenn die anderen alle tot wären? Bitte, Phoenix.«
»Hör auf«, knurrte er. Ich wusste, dass sich das auf meine Gefühle bezog, auf die Tatsache, dass ich spüren konnte, dass ich ihn hatte.
»Ganz schön lästig, was?«, sagte ich und warf ihm ein besserwisserisches Grinsen zu.
Er steckte die Hände in die Taschen und tigerte eine Weile im Wohnzimmer herum, schließlich verschwand er im Flur. Ich ließ ihm Zeit zum Nachdenken. Schließlich stritten wir hier nicht über Pizzabeläge.
Als er wieder seinen Platz auf dem Sofa einnahm, sackte er in sich zusammen, lehnte seinen Kopf nach hinten und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Okay. Du musst wissen, dass es eine Zeit gab, in der Verbannte die Welt beherrschten. Eine Zeit, in der sie hierherkommen konnten, sich nehmen konnten, was sie wollten, und tun konnten, was ihnen behagte. Sie nahmen sich Männer als Sklaven und Frauen, die ihnen Kinder gebaren. Sie zögerten nicht, zu töten, wer sich ihnen widersetzte, und die Menschheit fiel rasch unter ihre Herrschaft.«
»Sie wollten, dass die Menschen ihnen dienten«, sagte ich, weil ich mich daran erinnerte, was Griffin gesagt hatte.
Phoenix nickte. »Sicher hat man dir schon Einiges davon erklärt. Wie manche Engel hierherkamen, um zu töten und zu erobern, während andere wegen der Körper kamen. Verstehst du, das Reich kann einem manchmal wie zwei gegnerische Länder vorkommen – voller Propaganda und unvermeidlichem Krieg. Anders als hier ist es jedoch nicht besonders witzig, Krieg zu führen, wenn man keine körperliche Gestalt hat.« Er lächelte ironisch. »Die aufregenden Belohnungen fehlen einfach.«
In Form von Blut und Eingeweiden. Ich schauderte.
»Zu dieser Zeit waren die Grigori eine Rangstufe der Engel«, fuhr Phoenix fort. »Sie waren nicht so sehr Kämpfer als vielmehr Wächter, die über die Menschheit wachten und den Seraphim Bericht erstatteten. Aber sie hatten Tausende von Jahren auf der Erde gelebt und waren durch ihre menschliche Form geschwächt, anfällig für Versuchung und Begierde.«
»Griffin sagte, je länger ein Verbannter menschlich ist, desto eher kann er leiden«, sagte ich, wobei ich meine Worte sorgfältig wählte.
»Das stimmt, aber ich sagte dir schon, dass ich nicht wie andere Verbannte bin«, sagte er und beantwortete damit meine unausgesprochene Frage. »Jedenfalls überhäuften die Verbannten die Engelsgrigori mit Frauen und Macht. Die waren zu schwach, zu widerstehen. Sie schlossen sich zusammen. Gemeinsam waren sie unaufhaltsam. Die Menschen fügten sich und die, die das nicht taten, waren dazu verdammt, sich in Höhlen in den Bergen zu verstecken.«
»Und was passierte dann?« Wir lebten schließlich nicht mehr in Höhlen.
Phoenix stand auf und begann, im Zimmer umherzugehen. Die ganze Zeit spielte er mit seinen Manschettenknöpfen herum, knöpfte sie auf und wieder zu. Er trug ein marineblaues Hemd, das sein Haar betonte, und immer wenn er unter dem Deckenstrahler durchging, schimmerte es.
»Schließlich entsandten die Seraphim eine Legion Engelskrieger auf die Erde – sowohl Engel des Lichts als auch Engel der Finsternis. Zum ersten Mal seit Äonen riefen Licht und Finsternis einen Waffenstillstand aus, um die Erde den Menschen zurückzugeben. Die Engelskrieger schwärmten in Form einer großen Flut auf der Erde aus und zerstörten alles, was sie berührten. Sie radierten die verdorbene Menschheit aus, vernichteten die Nachkommen der Verbannten und ergriffen die verbannten Engel und alle, die das Gesetz der Engel gebrochen hatten. Als abschließende Botschaft an alle Engel, die eine solche Entscheidung in Betracht zogen, teilten sie das Rote Meer, offenbarten die Gruben der Verdammnis und verbannten sie zu einer Ewigkeit aus Qual und Schmerz.«
»Die Hölle«, flüsterte ich
»So kannst du es nennen, wenn es die Sache für dich erleichtert.«
»Warte – ist das der Ort, wo alle verbannten Engel enden?« Er wusste, was ich da fragte. Er antwortete nicht. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf seine Manschettenknöpfe.
»Die Seraphim waren sich einig, dass die Menschheit die Chance erhalten sollte, ohne die direkte Einmischung der Engel zu überleben. Und natürlich hing die Rolle der Engel von der weiteren Existenz der Menschheit ab, sodass das Überleben aller davon abhing, eine Art Lösung zu finden. Sie wussten, dass sie es nicht riskieren konnten, noch mehr Engelsgrigori auf die Erde zu schicken, weil sonst dasselbe noch einmal passiert wäre.«
»Keine Engel mehr auf der Erde«, sagte ich.
Er nickte. »Engeln wurde es nie wieder erlaubt, auf die Erde zu kommen, es sei denn als spirituelle Visionen – Träume, Trugbilder, all dieser Mist. Aber sie konnten diejenigen Engel nicht aufhalten, die sich dazu entschlossen, sich selbst auf Dauer aus dem Engelreich zu verbannen, um ins irdische Reich zu kommen. Und sie brauchten noch immer eine Macht, die diese Verbannten kontrollieren konnte, eine Macht, die die Eigenschaften des Lichts und der Finsternis in sich tragen konnte.« Seine Hand streckte sich mir entgegen. »Menschliche Grigori.«
Seine Version enthielt definitiv mehr Information als Griffins Geschichte. »Okay, aber jetzt verstehe ich immer noch nicht, was das mit diesen Morden zu tun hat.«
Phoenix nickte und kam zurück, um sich neben mich zu setzen. »Ich weiß, es ist kompliziert, aber versuch es mal. Die Verbannten wissen, dass sie unaufhaltsam waren, bevor die menschlichen Grigori auftauchten.«
»Nicht gut für die Grigori.«
»Nein. Und die Verbannten haben sich weiterentwickelt. Die Gruppe, der deine Leute auf der Spur sind, ist gut organisiert. Der Grund, warum es so aussieht, als wären sie von Engeln des Lichts und Engeln der Finsternis ermordet worden, besteht darin, dass es tatsächlich so war. Sie haben ihre Kräfte gegen einen gemeinsamen Feind vereinigt.« Er beugte sich auf der Couch vor und ergriff meine beiden Hände.
»Violet, sie haben einen Waffenstillstand ausgerufen und sie haben einen Plan.«
»Alle Grigori umzubringen«, beendete ich den Satz für ihn.
Er antwortete nicht. Er schaute mir nur in die Augen.
Sch… !