KAPITEL VIERUNDDREISSIG
»…und die Wahrheit wird euch frei machen.«
JOHANNES 8, 32
Phoenix trat in den Kreis. Mein schlechtes Gefühl verstärkte sich noch, als ich sein Gesicht sah. Es war starr und Schatten lagen darauf.
»Du hast sie gehen lassen, du Schwachkopf! Warum? Du hattest sie fest im Griff. Und sie wusste es noch nicht einmal!«, schrie Joel.
Sein Irrsinn war auf vollen Touren.
»In welchem Griff?«, fragte ich und schaute Phoenix an.
»Mir war nicht klar, dass das passieren würde. Ich schwöre es, Violet.«
»Wovon redest du?«, fragte ich, wobei ich jedes Wort langsam und mit Bedacht aussprach.
Onyx schien einen neuen Grund gefunden zu haben, zu lächeln. Er bewegte sich auf Phoenix zu, wobei er sich von Joel entfernte. Mein Blick huschte zu Lincoln, der ein paar Schritte in Richtung Joel machte. Das Letzte, was wir jetzt brauchten, war, dass Joel so etwas versuchen würde wie Maleachi, als Onyx von einer seiner Schwärmereien davongetragen wurde.
»Er hat dich manipuliert, dich geschwächt! Und in Anbetracht seines Erbes gehe ich jede Wette ein, dass du dich ihm vor deiner Zusage hingegeben hast … im körperlichen Sinne.«
Ich rutschte unbehaglich herum. Musste unbedingt alle Welt dieses eine Detail über mich erfahren? Ich versuchte, Ruhe zu bewahren, aber das gelang mir höchstens ein kleines bisschen. »Was hat das mit allem anderen zu tun?«
»Lass mich raten – ihr zwei habt eine Nacht unbeschreiblicher Verführung erlebt.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. »Die Welt drehte sich um euch und seitdem kannst du nicht mehr erkennen, wann er an deinen Gefühlen herumspielt – es sei denn natürlich, er wollte, dass du es weißt.«
Meine Gedanken ließen in rasender Geschwindigkeit alle Momente Revue passieren, die ich seit jener Nacht mit Phoenix verbracht hatte. Abgesehen von der heftigen Dosis Verlangen, die er mir vorhin eingeflößt hatte, konnte ich mich nicht daran erinnern, bemerkt zu haben, dass er mich beeinflusste, seine Gefühle in mich einströmen ließ wie vorher. Ich schaute Phoenix an. Er wich meinem Blick aus.
»Die »Macke« in meiner Macht?«
»Und das Beste ist …«, fuhr Onyx fort, »womit war er wohl so beschäftigt, seit er seine kleine Annehmlichkeit genossen hat? Möchtest du, dass ich es dir sage?« Er zog die Augenbrauen hoch.
Phoenix trat vor. »NEIN!«
Ich schaute ihn erneut an, aber wieder wollte er meinen Blick nicht erwidern. »Ja«, sagte ich.
»Na schön. Er hat dir Hass gegeben, kleiner Regenbogen. So viel Hass, dass er dich schließlich zerstört hätte. Er hat dein Urteilsvermögen vernebelt und jedes andere Gefühl durch Zorn gedämpft; er hat ihn tief eingepflanzt und ihm ein Ziel gegeben.«
Ich blickte Lincoln an, der ruhig dastand, aber ich merkte, dass seine Gedanken ebenso rasten wie meine, während er alles zusammenfügte. Als meine Augen ihn voll erfassten, war es, als hätte ich ihn seit Wochen nicht gesehen. Das Bedürfnis, mich in seine Arme zu werfen, überwältigte mich fast.
Ich schaute zurück zu Phoenix. »Du hast mich dazu gebracht, Lincoln zu hassen.« Meine Unterlippe bebte und eine Träne lief mir über das Gesicht.
»Ich wusste nicht, dass sich die Verbindung bilden würde, bevor es passierte.« Phoenix’ Stimme war ernst. »Selbst nachdem wir … ich konnte spüren, was du für ihn empfindest, als du ihn heiltest. Ich konnte nicht riskieren, dich zu verlieren.«
»Und meine Gefühle für dich? Hast du sie beeinflusst?« Schon als ich die Frage stellte, wusste ich bereits die Antwort. Es lag nicht nur an Onyx’ Enthüllungen, dass meine Gefühle für Phoenix jetzt getrübt waren. Er antwortete nicht.
»Ich dachte, du sagtest, das wäre geschummelt«, sagte ich und wartete darauf, dass er mir sagte, ich hätte unrecht. Das tat er nicht.
Onyx fing an, zwischen uns herumzuspazieren, wobei er in den Folgen seiner Boshaftigkeit schwelgte. »Aber, aber, Phoenix, zier dich nicht so. Das war eine richtige Heldentat in Anbetracht ihrer Macht. Sie muss dir ihren Körper voll und ganz überlassen haben. Darf ich annehmen, dass sie dir ein einzigartiges Opfer dargebracht hat?«
»Das reicht«, warnte Lincoln mit einem bedrohlichen Knurren.
»Wir sind wohl eifersüchtig? Oder weigerst du dich einfach, es einzugestehen? Sag mir, Lincoln, wirst du sie je wieder mit denselben Augen anschauen? Wenn du weißt, dass sie ihren Körper zum ersten Mal einem Engel der Finsternis schenkte?«
Der letzte Teil meines Magens sackte vollends ab. Das schlimme Absacken. Das, wovon man sich nie mehr erholt. Meine Hand legte sich auf meinen Mund.
»Ja, der Finsternis! Du dummes Ding!« Onyx knirschte erwartungsvoll mit den Zähnen. »Oh, aber du musst dich doch selbst gefragt haben, Lincoln. Sag mir, hattest du etwa nicht deine eigenen Vermutungen?«
»Nicht«, warnte ihn Lincoln erneut, aber das stachelte Onyx nur noch mehr an.
»Er ist mächtig, unser Phoenix. Wie könnte es anders sein, mit so einer Mutter?«
Meine Gedanken rasten. Mutter? Engel hatten keine Mütter.
»Zu deiner Verteidigung lässt sich sagen, dass er tatsächlich schwieriger zu wittern ist als die meisten andern. Phoenix ist einzigartig. Sohn der Göttin der Nacht und des unsterblichen Menschen. Er fügt sich gut ein, weil er sein menschliches Erbe einsetzt, wenn es seinen Zwecken dient.«
Onyx ging um Phoenix herum und schlängelte sich dann wieder zurück zu mir. Ich versuchte, ihn im Auge zu behalten; ich wusste, dass Lincoln Joel beobachtete und Griffin die Übrigen abdeckte. Phoenix blieb still und stumm.
»Phoenix?« Ich schaute ihn an, bat ihn, mir das zu sagen, von dem ich jetzt wusste, dass er es nicht sagen würde.
Er schaute von mir zu Onyx, Zorn loderte in seinen Augen. »Ich hatte niemals eine Wahl, Violet. Alle anderen …«, er machte eine ruckartige Kopfbewegung zu dem Kreis der Verbannten hin, »… haben ihre Entscheidung getroffen, doch ich … ich war verurteilt, bevor ich überhaupt anfing, ich saß im Reich fest, verteilte Strafen, bis es mich aufzufressen begann. Als das passierte, warfen sie mich auf die Erde, wo ich verrotten sollte.«
Onyx hatte mir diese Geschichte erzählt. Alles ergab nun einen Sinn.
»Du hast eine Mutter.« Das nächste Wort brachte ich kaum heraus. »Lilith.«
»Die Mutter der Finsternis«, flüsterte mir Onyx ins Ohr. Ich zuckte zusammen, er stand jetzt direkt hinter mir. Ich hatte ihn nicht im Auge behalten. Als ich meinen Fehler erkannte, rammte er mir seine Klinge in den Rücken, stieß sie ganz durch meinen Körper, bis ich ihre Spitze aus meinem Bauch kommen sah. Ich schrie vor Schmerz – sowohl wegen Phoenix’ Verrat als auch wegen Onyx’ Klinge.
Er zog das Schwert mit einer sauberen Bewegung wieder heraus und ich stieß einen weiteren markerschütternden Schrei aus. Ich fühlte die Vibration der Klinge, als sie gegen die Knochen meiner Wirbelsäule schabte. Blut strömte aus meinem Körper, wärmte meine Haut und ließ mein Inneres erkalten.
Ich hörte Lincoln meinen Namen rufen und blickte auf; ich sah, dass er in einen wilden Kampf mit Joel verwickelt war. Alle kämpften. Mein Blick schwenkte durch den Raum, während meine Beine unter mir nachgaben. Der Zauber hielt noch. Die Leute lachten und tanzten auf der einen Seite des Raumes, während auf der anderen Seite ein erbarmungsloser Krieg tobte. Sogar Phoenix kämpfte, obwohl ich nicht sicher war, auf wessen Seite er stand.
Onyx stand über mir, während ich mich auf dem Boden wand. Sein Lächeln hatte sich von amüsiert zu ekstatisch gesteigert. Der Gedanke an meinen Tod bescherte ihm pure Freude.
»Weißt du, für jemanden, der so mächtig ist, bist du nicht besonders schlau. Als ich dir die Geschichte von Lilith erzählte, hatte ich eigentlich gedacht, ich hätte dir genug Information gegeben, damit du den Zusammenhang herstellen kannst.«
Er kniete neben mir und meine Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der ich die Leichen gesehen hatte, deren Inneres herausgerissen war. Er krempelte sich die Ärmel hoch. Mein Blick suchte die Schlacht ab, die um mich herum tobte. Wir würden verlieren. Ich konnte Lincoln kaum sehen, er war unter mindestens drei Verbannten begraben.
Ich dachte an die Wüste zurück. Meine Stärke bestand in meiner Entschlossenheit, niemals aufzugeben. Mein Schwachpunkt war nicht mehr wichtig. Ich war verwundet – mehr als verwundet –, aber noch nicht tot. Ich griff nach oben und umklammerte Onyx’ Handgelenk. Ich fühlte, wie die Macht mich durchströmte. Er sah selbstzufrieden auf mich herunter.
»Ich bewundere deinen Kampfgeist, aber du hast keinen Dolch, und der Schmuck, den du da am Handgelenk trägst, wird mir keinen Schaden zufügen.«
Ich zuckte vor Schmerz zusammen, als ich mich vorbeugte, meine Armreifen zurückschob und die Male entblößte, die sich wie spiegelnde Quecksilberflüsse um meine Handgelenke schlängelten.
Onyx’ Augen weiteten sich. »Du hast immer noch keinen Dolch und du kannst keinen Menschen aus mir machen, wenn ich es nicht will, und ich will es nicht.« Aber seine Stimme war jetzt nicht mehr so sorglos.
Ich konnte meine Macht spüren, und dieses Mal musste ich nicht in mein Inneres gehen, um sie daraus zu ziehen. Ich setzte sie einfach frei. Ich wusste jetzt, wozu sie fähig war. Uri hatte es mir gesagt – mein Wille hatte die Macht, den Willen eines anderen zu überwinden.
»Nein, aber ich will es.« Ich hielt meine Stimme so gleichmäßig wie möglich und schenkte ihm mein eigenes dramatisches Lächeln mit Lippen, von denen das Blut troff. Mein Nebel umgab uns wie eine Blase und ich entriss Onyx seine Engelskräfte. Er fiel neben mir zu Boden. Kein Engel oder Verbannter mehr, nur noch machtlos und menschlich.
»Ich wäre lieber tot, als dass ich zu ranzigem Fleisch werde!«, schrie er.
Ich spuckte Blut. »Ach ja? Dann willkommen im Club derjenigen, die es sich nicht aussuchen dürfen.«
Ich wandte meine Aufmerksamkeit Joel zu, der Lincoln am Boden hielt und mit eiserner Faust auf ihn einschlug. Ich war nicht nahe genug, um ihn zu berühren, aber das brauchte ich auch nicht. Ich schleifte meinen Arm über den Boden und zeigte damit in Joels Richtung. Meine Handgelenke brannten vor eisiger Hitze und ich spürte, wie sich eine Verbindung zwischen uns bildete. Er war blockiert.
Er hörte auf, Lincoln zu attackieren, und wandte sich wild zu mir um – aber ich hatte ihn bereits. Genau wie sie meinen Körper mit Illusionen gesteuert hatten, konnte ich ihren mit der Macht meines Willens steuern. Ich konnte fühlen, wie sie sich aufbaute. Ich ließ sie aus mir strömen, den Raum durchsuchen und sich an alle Verbannten heften; alle außer Phoenix. Ich hielt sie fest, ließ sie auf eine Art erstarren, aber ich konnte ihnen nicht allen ihre Macht rauben. Ich konnte sie gerade so alle im Griff behalten. Griffin war in meiner Nähe und arbeitete sich zu mir vor.
»Ich kann sie nicht mehr lange halten«, sprudelte es durch das Blut aus mir heraus.
Griffin überblickte die Szene und registrierte staunend, was ich da tat. »Schickt sie zurück!«, brüllte er den anderen Grigori zu. Ich spürte, wie sich eine Verbindung nach der anderen auflöste, als Grigori Dolche in die Verbannten stießen und sie zu ihrer Verurteilung ins Engelreich zurückschickten. Ich sah zu, wie Onyx langsam davonkroch, geduckt und armselig. Er war unsere geringste Sorge – ohne seine Engelskräfte konnte er nichts gegen uns ausrichten.
Als nur noch Joel übrig war, trat Magda vor ihn und stieß ihm ihren Dolch in die Seite. Sie lächelte, als sich seine Augen weiteten. »Ich wette, als du heute Abend das Hades betreten hast, hättest du nicht gedacht, dass du nicht wieder herauskommst.«
Sie zog ihren Dolch wieder heraus; das Blut spritzte. Joel fiel auf die Knie, verschwand, indem er mit der Umgebung verschmolz. In diesem Moment mochte ich sie fast.
Mit Joels Abgang lüftete sich der Zauber. Die Menge der trinkenden, tanzenden Menschen nahm plötzlich das Schlachtfeld wahr, das mit verwundeten Grigori übersät war. Zum Glück war ich in der hinteren Ecke und Griffin ließ sich rasch neben mir fallen, um mich zu verdecken. Aber zuvor hörte ich noch einen schrillen Schrei, den ich auf der Stelle erkannte.
Steph kam herübergerannt und fiel neben mir auf die Knie. »Oh nein, oh nein, oh nein, Violet. Oh mein Gott. Sag mir, was ich tun soll!«
Griffin versuchte, Druck auf die Wunde auszuüben, bis er sah, dass ich auch am Rücken blutete. »Alles wird gut. Hast du noch Kraft, dich selbst zu heilen?«
Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Selbst wenn ich die leiseste Ahnung gehabt hätte, wie ich mich selbst heilen könnte, hatte ich doch all meine Kraft aufgebraucht, um mit Onyx fertigzuwerden und die anderen aufzuhalten.
»Gleich wird Lincoln da sein, er kann dich heilen. Alles wird gut.« Griffin wischte mir Blut aus dem Gesicht und lächelte mich mit einer Art väterlichem Stolz an. Das war seltsam, wenn man bedachte, dass er aussah, als wäre er erst etwa fünfundzwanzig.
»Du warst unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen. Du hast uns alle gerettet.«
Ich tat mein Bestes, um zurückzulächeln. Ich wusste, dass ich durch die Opfer, die ich gebracht hatte, dadurch, dass ich eine Grigori geworden war, und dadurch, dass ich meine Pflicht tat, nun Griffins Respekt … und seine Freundschaft gewonnen hatte.
Ich drehte meinen Kopf in Lincolns Richtung. Ich konnte sehen, dass er am Boden lag und sich nicht rührte. Magda schüttelte ihn. Aber ich wusste, dass er in Ordnung war, ich konnte spüren, dass sein Herz stark klopfte. Ich blickte zu Griffin hinauf. »Wie alt bist du?«, fragte ich.
Er lachte auf. »Nächsten August werde ich zweiundachtzig«, sagte er in seinem ländlichen Dialekt. Ich hätte wetten können, dass er auf einer Farm aufgewachsen war. Das passte auch zu ihm.
»Ich nehme an, das k-kann auch ein Vorteil sein.« Mein Inneres zog sich zusammen und mein Blick vernebelte sich. Griffin rüttelte mich an der Schulter, als meine Augenlider schwer und müde wurden.
»Violet, du musst wach bleiben. Lincoln hat sich gerade ein bisschen bewegt, in einer Minute haben sie ihn auf den Beinen. Komm schon. Du weißt, dass ich dich ohrfeigen werde, wenn es sein muss.«
Aber wir wussten es beide. Er würde mich nicht ohrfeigen und ich hatte keine Minute mehr.
Steph war an meiner Seite, sie strich mir das Haar aus dem Gesicht und murmelte vor sich hin. Sie betete.
»Ich dachte, w-wir wären uns einig gewesen … keine Sonntagsschule«, sagte ich; meine Stimme war kaum hörbar.
»Na ja, jeden anderen verdammten Mist scheint es zu geben, warum nicht auch Gott?«, schluchzte sie. Die Theorie überzeugte. Die Frage war, was für eine Art Gott war er?
Ich fühlte einen Druck auf meinem Magen und stöhnte vor Schmerz, unfähig, die Energie aufzubringen, zu schreien. Ich schaute zur Seite und sah Phoenix, der neben mir kniete. Schatten bewegten sich um ihn herum und winzige Linien aus Gold umkreisten ihn. Ich sah, wie ein Nebel der Macht aus ihm in mich hineinströmte. Ich konnte fühlen, wie die Knochen meiner Wirbelsäule sich zusammenfügten, sich die Muskeln in meinem Bauch wieder verbanden. Er heilte mich … schmerzhaft. Als ich stärker wurde, schmerzte es noch mehr und ich begann zu schreien. Dann hörten die Schmerzen einfach auf.
Ich brauchte die Wunde nicht zu untersuchen, als Phoenix seine Hände herabgleiten ließ. Ich wusste, er hatte mich vollkommen geheilt. Obwohl mich der Blutverlust schwächte, ging es mir gut. Steph begann ein Ave Maria zu beten.
Ich lag am Boden und Tränen flossen aus meinen Augen. Phoenix setzte sich auf seine Fersen zurück.
»Du hast mich geheilt«, sagte ich.
»Ja.« Seine Hände, die er halb hochgehalten hatte, fielen schlaff zur Seite herunter. Besiegt.
»Du sagtest, du hättest diese Kraft nicht.«
»Ich sagte, nicht alle Verbannten hätten die Kraft, zu heilen.« Er schaute mehr den Boden an als mich.
Der Schleier war gelüftet, ich war von Wahrheit umgeben. Hässlicher, schmerzlicher Wahrheit. Und was noch schlimmer war: den schrecklichen, unveränderbaren Folgen.
»Du … du hättest Lincoln heilen können. Du hast ihn da liegen lassen, als er im Sterben lag. Du hast mich ein Grigori werden lassen, obwohl ich es damals nicht wollte.«
»Ich wusste, sie würden dich finden und vernichten. Die Zusage war deine einzige Chance.«
»Warum hast du mich geheilt?«
»Spielt das jetzt wirklich eine Rolle?« Für einen kurzen Moment schaute er mir in die Augen, bevor er wieder zu Boden blickte. Ich bemerkte etwas Blut auf seinem Hemd, über seinem Bauch. Ich wusste nicht, ob es von mir oder von ihm stammte.
Ich blickte auf und sah, dass Lincoln hinter ihm stand. Er hatte einen Dolch in der Hand. Er hatte alles gehört, aber ich wusste, dass er mich anschaute. Wieder lag die Entscheidung bei mir.
»Nein«, sagte ich leise, als ich Lincoln anschaute.
Phoenix wirbelte herum und Lincoln packte ihn am Hemd, zerrte ihn auf die Füße.
»Nein!« Das war Griffin. »Ich habe ihm Sicherheit versprochen. Er hat für heute seine Freiheit gewonnen.« Er schaute Phoenix an. »Aber mein Wort gilt ab jetzt nicht mehr.«
Lincoln ließ ihn grob los und schubste ihn weg. »Verschwinde. Du hast ihr das Leben gerettet, aber wenn ich dich jemals wiedersehe, werde ich dir mit Freuden diesen Dolch ins Herz stoßen. Ich glaube nicht, dass deine Verurteilung günstig ausfallen wird.«
Phoenix schaute wieder mich an, ich saß noch immer auf dem Boden.
»Violet?«, sagte er leise.
»Geh jetzt, Phoenix. Komm nicht zurück.«
Ich sah ihm in die Augen; Schmerz flackerte in ihnen und … noch etwas anderes. Dann verschwand er und hinterließ nur einen Lufthauch. Ich fragte mich, wie es passieren konnte, dass ich nie gefragt hatte, wer – oder was – er eigentlich war. Vielleicht hatte er mich beeinflusst, vielleicht hatte ich mich auch selbst beeinflusst. Vielleicht würde ich nie wissen, wie weit ich unter seinem Zauberbann gestanden hatte, seit dem Tag, an dem wir uns kennengelernt hatten. Lincoln ließ seinen Dolch fallen und fiel vor mir auf die Knie. Er zog mich auf seinen Schoß und wiegte mich vor und zurück.
Keiner von uns sagte ein Wort.