KAPITEL EINS
»Nach außen hin, unter
Seinesgleichen, unter
Fremden, muss man den äußeren Schein
wahren,
es gibt hundert Dinge, die man nicht tun
kann; doch im Inneren herrscht die
schreckliche
Freiheit!«
RALPH WALDO EMERSON
Geburtstage sind überhaupt nicht mein Ding. Es ist schwer, sich auf den Todestag seiner eigenen Mutter zu freuen. Nicht dass ich mir die Schuld dafür geben würde, dass sie nicht mehr da ist. Niemand konnte ahnen, dass sie meine Geburt nicht überleben würde. Es ist auch nicht so, dass ich sie vermisse. Ich meine, ich kenne sie ja überhaupt nicht. Aber jedes Jahr an diesem Tag stehe ich irgendwann vor der Frage, ob es das wert war. War mein Leben es wert, dass ihres dafür genommen wurde?
Ich starrte aus dem Busfenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Steph plapperte weiter, irgendetwas über das perfekte Kleid, und war völlig vertieft in das, was sie gerade sagte. Sie war unerbittlich, wenn es um die hohe Kunst des Shoppens ging. Ich spürte ihren Blick auf mir, voller Enttäuschung über meinen Mangel an Begeisterung. Gebäude blitzten im Rahmen des verschmierten Busfensters auf und zogen vorüber und unwillkürlich wünschte ich mir, dass mein siebzehnter Geburtstag morgen ebenso rasch und schemenhaft vorbeiziehen möge.
»Violet Eden!«, sagte Steph streng und riss mich dadurch aus meiner Trance. »Wir haben die American-Express-Karte von deinem Dad, grünes Licht und kein festgelegtes Limit.« Ihre vorgetäuschte Strenge verwandelte sich in ein hinterhältiges Grinsen. »Kann man sich ein besseres Geburtstagsgeschenk vorstellen?«
Streng genommen war es meine American Express. Mein Name, meine Unterschrift. Sie lief nur zufällig über Dads Konto. Eine Nebenwirkung, wenn man die einzige Person zu Hause war, die dafür sorgte, dass die Rechnungen bezahlt wurden.
Ich wusste, dass mich Steph nicht verstehen würde, wenn ich ihr sagte, dass ich nicht in Stimmung wäre, deshalb log ich: »Ich kann heute nicht shoppen gehen. Ich … ähm … muss ins Training.«
Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute mich an. Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde meine Ausrede hinterfragen. Aber dann wechselte sie zu einem Thema, das wir in letzter Zeit immer öfter diskutierten.
»Mit Lincoln?«
Ich zuckte die Achseln und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie allein schon die Erwähnung seines Namens auf mich wirkte. Das mit dem Training stimmte zwar nicht, aber ich hatte tatsächlich vor, ihn später zu treffen, und gab mir schon die größte Mühe, nicht jede Minute bis dahin zu zählen.
Steph rollte die Augen. »Also wirklich! Irgendwann werde ich ihm sagen, dass du lieber auf eine andere Art und Weise mit ihm ins Schwitzen geraten würdest!« Sie bedachte mich mit diesem fiesen Lächeln, das sie normalerweise für andere Leute reserviert hatte.
Ich lehnte mich zurück und wartete, bis sie fertig war. Das war einfacher. Steph kapierte es einfach nicht, und das konnte ich ihr nicht übel nehmen – ich hatte ihr nie alle Gründe dafür genannt, weshalb das Training so wichtig für mich war. Über manche Dinge konnte ich einfach nicht sprechen.
»Aber du merkst schon, dass du dich so langsam in einen dieser Sportfreaks verwandelst, oder? Und tu bloß nicht so, als würde dir das alles Spaß machen. Ich weiß ganz genau, dass du Langstreckenlauf hasst.« Steph konnte einfach nicht verstehen, dass jemand lieber klettern oder boxen ging als zu shoppen.
»Es macht einfach Spaß, mit ihm zu trainieren«, sagte ich in der Hoffnung, das Thema damit zu beenden, auch wenn sie mit dem Langstreckenlauf nicht ganz unrecht hatte. Wenn ich nicht die ganze Zeit auf Lincolns Hintern starren könnte, wäre ich wahrscheinlich nicht so motiviert.
Ich kramte in meinem Rucksack herum, der mit all den Büchern vollgestopft war, die sie einem am Ende des Schuljahrs aufs Auge drückten. Steph schien sich nicht vom Thema abbringen zu lassen.
»Man könnte meinen, er trainiert dich für einen Kampfeinsatz oder so was.« Ihre Augen leuchteten auf. »Hey, vielleicht leitet er einen illegalen Schlägertrupp und versucht, dich dafür aufzubauen!«
»So wird es sein, Steph. Ganz bestimmt.«
Ich wollte nicht darüber reden. Wollte nicht zugeben, dass ich am liebsten rund um die Uhr bei Lincoln gewesen wäre. Als würde etwas tief in mir Trost in seiner Anwesenheit finden.
In den Besten von allen verknallt, Vi!
Wirklich Pech, dass es aussichtslos war. Das war es schon von dem Moment an, als ich ihn vor zwei Jahren kennenlernte. Er stieß etwas verspätet zu dem Selbstverteidigungskurs, für den ich mich angemeldet hatte.
Eigentlich dachte ich, es wäre nur wieder einer meiner Versuche, fit und stark zu werden, aber es wurde sehr viel mehr, als er mein Trainingspartner wurde.
Ich fand nie heraus, weshalb Lincoln den Kurs belegt hatte. Offensichtlich wusste er mehr als der Lehrer und absolvierte die Übungen mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die klarmachten, dass er in einer anderen Liga spielte. Nach den ersten paar Wochen, als ich schließlich in der Lage war, mehr als zwei Wörter in seiner Gegenwart aneinanderzureihen, fragte ich ihn, weshalb er da war. Er tat es ab und sagte, dass es immer gut wäre, einen Auffrischungskurs zu machen.
Am Ende des dreimonatigen Kurses hatte ich mehr von ihm gelernt als vom Lehrer, und er bot an, mir Unterricht im Kickboxen zu geben. Dadurch hatte ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ich wurde jeden Tag stärker – die Liste unserer Sportarten weitete sich auf Klettern, Laufen und sogar Unterricht im Bogenschießen aus – und ich konnte mit Lincoln zusammen sein. Es war perfekt … beinahe jedenfalls.
»Na gut, das heißt wohl, dass wir erst morgen shoppen gehen«, schmollte Steph, konnte es aber nicht lange durchhalten. Sie konnte einem nie lange böse sein.
Leider hatte sie recht. Ich wusste, dass Dad ihr wegen meiner Lustlosigkeit und seines Mangels an Know-how strenge Anweisungen gegeben hatte, weil er sichergehen wollte, dass ich für mein Geburtstagsessen morgen Abend ein neues Kleid hatte. Die Zeit lief – shoppen war unumgänglich.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte ich und warf ihr ein gut einstudiertes falsches Lächeln aus meinem Geburtstagsrepertoire zu.
Es klingelte, weil eine Gruppe Jugendlicher auf den Halteknopf gedrückt hatte. Der Bus wurde langsamer, Steph stand von unserem Sitz in der dritten Reihe von hinten auf. Sie war davon überzeugt, dass nur die Möchtegern-Coolen ganz hinten saßen. Die Streber saßen ganz vorne, gleich dahinter die Goths und die Durchgeknallten. So blieben nur drei Reihen, in die wir uns setzen konnten, um zu zeigen, dass wir nicht zu denen gehörten, die versuchten cool zu sein, sondern dass wir einfach nichts dafür konnten, dass wir es waren. Das Ironische daran war, dass Steph die größte Streberin war, die ich jemals kennengelernt hatte – wenn man mal ausschließlich von ihren Noten ausging. Natürlich würde sie niemals an die große Glocke hängen, dass sie so etwas wie ein Genie war.
Sie wickelte ihren schmalen Körper um die Metallstange an den Türen, setzte ihre Lieblingssonnenbrille von D&G auf und warf mir eine Kusshand zu. Ich lachte. Glücklicherweise ließ sich Steph nicht nur auf Marken reduzieren. Dafür, dass sie mit einer kompletten Designerausstattung herumlief, war sie erstaunlich ausgeglichen. Dass sie aus einer schwerreichen Familie stammte und für gewöhnlich Kleider trug, die so viel kosteten wie mein ganzer Kleiderschrank zusammengenommen, wirkte sich nicht nachteilig auf unsere Freundschaft aus. Ich machte mir nicht allzu viel aus materiellem Besitz, und ihr machte es nicht allzu viel aus, dass das so war.
»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte sie, während sie zur Tür hinausging. Dabei nahm sie keinerlei Notiz davon, dass sich hinter ihr die Jugendlichen wie Sardinen in einer Dose zusammendrängten. »Wenn du hier schon die ganze Zeit Mr Fantastic ansabberst, dann tritt ihm wenigstens ab und zu ordentlich in den Magen dafür, dass er deine ganze Freizeit in Anspruch nimmt und meine beste Freundin mit Beschlag belegt.«
»Geht klar«, sagte ich und warf ihr ebenfalls eine Kusshand zu. Mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich meine beste Freundin angelogen hatte, unterdrückte ich dabei.