KAPITEL FÜNFZEHN

»Wenn es also Engel gibt, lasst uns klar und nüchtern bleiben wie in der Anwesenheit von Tutoren; denn es gibt auch einen Dämon unter uns.«

HL. JOHANNES CHRYSOSTOMOS

 

Phoenix bestand darauf, mich nach Hause zu begleiten, trotz meiner halbherzigen Beteuerungen, dass es mir gut ginge. Wir traten aus der Pizzeria hinaus auf eine inzwischen ruhige Straße. Die Stille wurde rasch unangenehm.

Sobald wir die Gasse hinter dem Restaurant erreichten, nahm ich es wahr. Das strenge, saure Aroma grüner Äpfel. Es erinnerte mich an das Gefühl, wenn man in eines dieser mit Flüssigkeit gefüllten Kaubonbons biss. Die hasste ich auch.

Phoenix erstarrte neben mir.

»Das bist nicht du, oder?«, flüsterte ich mit klopfendem Herzen.

Er antwortete nicht. Das brauchte er auch nicht.

»Phoenix?«

Er wirbelte zu mir herum und legte mir die Hände auf die Schulter. »Bleib hier.« Er schüttelte mich. »Ich bin gleich zurück. BLEIB HIER!«

Ich nickte. Er wandte sich um und ging in die Gasse, wobei er eine Wolke White Musk hinterließ. Straßenlichter gab es keine. Es war eine dieser schmalen kleinen Straßen, die nicht breit genug für ein Auto waren. Auf der einen Seite stand eine Reihe Mülltonnen, daneben stapelten sich hier und da Tüten, aus denen Müll und Essensreste aus dem Restaurant quollen. Nach ein paar Schritten verschluckte die Dunkelheit Phoenix’ Silhouette.

Es war heiß, schwül sogar, aber trotzdem schlang ich die Arme um mich, weil ich einen Kälteschauer spürte.

Ich strengte meine Augen an, konnte aber nichts sehen. Dann hörte ich über dem Schlagen von Flügeln den erstickten Schrei eines Mädchens. Der nächste Schrei war nicht erstickt. Er ertönte laut und klar. Ein Schrei, der absolute Verzweiflung ausdrückte. Meine Füße trugen mich in die Dunkelheit hinein, bevor ich mir dessen überhaupt bewusst war.

Phoenix stand vor jemandem, den ich auf der Stelle ebenfalls als Verbannten identifizierte. Er war groß und schmal, hatte aber breite Schultern. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte leuchtendes, weißblondes Haar. Er hatte ein Mädchen in seiner Gewalt, er hatte ihr den Arm um den Hals gelegt und hielt sie fest. Sie trat um sich und versuchte, sich loszureißen. Mein Blick blieb an ihrem hellroten Haar hängen. Dann registrierte ich ihre Kellnerkluft. Die Bluse war zerrissen; der schwarze Rock war zwar noch an Ort und Stelle, aber es war klar, dass das nicht mehr lange so sein würde. Ihr goldenes Namensschildchen blinkte mir im Mondlicht zu. Claudia.

Als ich auf Phoenix zuging, entdeckte sie mich und schrie: »Violet! Gott sei Dank! VIOLET! HILF MIR!«

Der blonde Verbannte verstärkte seinen Griff um ihren Hals und legte ihr die andere Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen.

Ich blieb neben Phoenix stehen.

»Ich habe doch gesagt, du sollst warten. Geh zurück!«, knurrte er mir zu. Ich hatte keine Zeit zu antworten, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Blonden zuwandte.

»Lass sie los.« Er sprach leise, aber die Drohung war dadurch nur umso stärker. Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Der Blonde zuckte zusammen und warf Claudia zu Boden. Ihr Kopf traf so hart auf dem Pflaster auf, dass er aufprallte.

»Knie vor mir nieder«, sagte der Verbannte höhnisch.

Zu meinem Entsetzen beobachtete ich, wie Claudia sich aufstützte und auf Knien zu ihm kroch. Blut strömte aus einer klaffenden Wunde über ihrem linken Auge. Als sie seine Füße erreichte, hielt sie an und kniete vor ihm, wie er es befohlen hatte.

»Bettle darum, dass ich dir das Leben nehme«, befahl er, als würde er mit einem tollwütigen Hund sprechen.

Claudia schlotterte vor Angst, aber sie konnte die Worte nicht zurückhalten. »Töte mich. B-b-bitte«, weinte sie.

»Nein! Lass sie los!«, schrie ich. »Claudia! Claudia, lauf!«

Aber sie lief nicht. Und anstatt sie loszulassen, legte ihr der blonde Verbannte rechts und links eine Hand auf das Gesicht.

»Wenn du sie willst, dann komm doch her und hol sie dir«, fauchte er und schaute dabei mich an. »Grigori!«

Er hob Claudia hoch und hielt sie uns hin. Ihre Füße baumelten in der Luft. Bevor ich noch wusste, was ich tat, rannte ich los. Ich fühlte kurz Phoenix’Hand an meinem Rücken, als er nach mir griff, um mich aufzuhalten. Ich rannte mit ausgestreckten Armen, auch wenn ich wusste, dass ich zu langsam war und er viel zu schnell.

Seine Arme bewegten sich mit rascher Präzision. Eine so kleine Bewegung – aber die Kraft, die dahintersteckte, war unverkennbar. Claudias Hals knickte mit einem tödlichen Knacken zur Seite. Ein unüberhörbares Geräusch, das mich auf ewig begleiten würde.

Ich kam weniger als eine halbe Sekunde zu spät. Wären es Stunden gewesen, hätte es auch keinen Unterschied gemacht. Er ließ sie los und ließ sie in meine ausgestreckten Arme fallen. Ihr totes Gewicht sackte auf mir zusammen wie eine Stoffpuppe, und ich ging zu Boden. Der Verbannte nahm einen tiefen, zufriedenen Atemzug, hielt einen Augenblick die Luft an und schaute mich dann geradewegs an, während ich verzweifelt versuchte, mich zu befreien. Sein Gesicht war versteinert. Keinerlei Reue.

»Du bist dran«, sagte er lächelnd, als würde er mich gerade zu einer Fahrt mit dem Riesenrad einladen. Er machte einen Satz auf mich zu.

Ich hatte keine Chance – allerdings brauchte ich die auch nicht. Er hatte sich mir noch kaum auf Armlänge genähert, bevor Phoenix da war und wie ein Güterzug in ihn hineinraste.

Sie tauschten einen Schlag nach dem anderen aus, und das in Lichtgeschwindigkeit. Wenn ich es nicht gesehen hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Der Blonde war so schnell, ließ Phoenix seine Faust mit roher Gewalt ins Gesicht sausen und schleuderte ihn dabei quer über die Gasse in die Backsteinmauer gegenüber. Erstaunlicherweise verlangsamte das Phoenix kaum, er war schneller wieder zurück, als ich es mit meinem menschlichen Auge nachvollziehen konnte. Phoenix zögerte nicht, zurückzuschlagen. Er war eine schöne, tödliche Maschine – geschmeidig und fließend, wenn er den Schlägen des Verbannten auswich. Bald war klar, dass sie beide gleich stark waren, aber nicht gleich geschickt. Mit grausamer Präzision manövrierte Phoenix den Blonden zum Ende der Gasse, wobei er immer wieder mit den Fäusten auf ihn einschlug.

Endlich sackte der Verbannte zu Boden. Phoenix kniete auf ihm. Ich konnte in der Dunkelheit nicht richtig sehen, und darüber war ich froh. Ein grausiger Stoß, dann das nasse, klebrige Geräusch, wenn etwas zerrissen und gebrochen wird. Es war ein Geräusch, das ich nie zuvor gehört hatte und auch nie wieder hören will.

Phoenix hob rasch Claudia von mir herunter und half mir auf. Er wischte mir die Tränen aus den Augen und zog mich an sich. Die Sinneswahrnehmungen beeinträchtigten mich noch immer, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich umklammerte ihn, so fest ich konnte. Dabei spürte ich seine Erschöpfung … und noch etwas anderes. Er war starr, angespannt.

»Was ist passiert?«, stammelte ich und wich ein bisschen zurück.

»Er ist tot.«

»Wie?«

»Grigori haben ihre Methoden – Verbannte haben ihre eigenen.«

»Ich habe es gehört. Du hast ihm das Herz herausgerissen?«

»Ja«, sagte er.

Das Beängstigendste daran war, dass mir das überhaupt nichts ausmachte. »Wie hat er sie dazu gebracht, um ihren Tod zu betteln?« Selbst als ich die Frage stellte, schüttelte ich den Kopf. Es war unmöglich.

»Vorstellungskraft. Er sorgte dafür, dass sie etwas anderes sagte, als sie tatsächlich wollte. Sie war schwach, und er hat ihr ohne Weiteres ihren Willen genommen.«

Wieder dachte ich an den Brief meiner Mutter, den ich inzwischen unzählige Male gelesen hatte. Sie werden am besten von der Vorstellungskraft geleitet, wir von unserem freien Willen.

Meine Gedanken überschlugen sich, ich durchlebte die Momente noch einmal. Ich war fast wieder mittendrin.

»Er nannte mich Grigori«, sagte ich. »Er hat sie umgebracht, weil sie mich rief.« Bei dem Gedanken schnürte sich mir die Kehle zusammen. War ich der Grund dafür, dass Claudia getötet wurde? Bitte nicht.

»Er hätte sie so oder so umgebracht, nur nicht so schnell.«

Ich riss mich los und schaute ihn zum ersten Mal richtig an. Sein Atem ging schnell. Nicht vor Erschöpfung … Adrenalin. Seine Augen waren so … lebendig … aufgedreht.

»Er war ein Verbannter der Finsternis, ein Cherub. Cherubs konnte ich noch nie leiden – weder hier noch im Engelreich.« Er wischte sich die Hände an seiner Jeans ab, als wäre er durch die Berührung des Cherubs schmutzig geworden. »Sein einziges Ziel bestand darin, Schmerz zu verursachen. Du hast ihr nur die Folter erspart.«

»Sie hieß Claudia.« Ich hatte das Bedürfnis, ihren Namen laut auszusprechen. Ich würde ihn niemals wieder vergessen.

»Wir müssen gehen«, sagte Phoenix und schaute sich um.

»Nein. Wir müssen etwas tun. Die Polizei rufen«, sagte ich und war entsetzt, dass er vorhatte, sie einfach in der schmutzigen Gasse zurückzulassen.

»Jemand anderes wird sie finden.« Er versuchte, mich in Richtung Hauptstraße zu schieben. Ich weigerte mich, mich zu bewegen, und schließlich seufzte er und nickte.

Als die Polizei kam, beantworteten wir alle ihre Fragen. Ich fühlte mich schrecklich, zu lügen, aber Phoenix machte mir klar, dass wir keine andere Wahl hatten. Wenigstens mussten wir nur Claudias Leichnam erklären. Die Leiche des Verbannten war verschwunden. Es war keine Spur mehr von ihm übrig. Die Polizei nahm unsere Aussagen auf und akzeptierte nur allzu schnell, dass unser Blick flüchtig auf eine am Boden liegende Frauenleiche gefallen war, als wir auf dem Nachhauseweg von der Pizzeria an der Gasse vorbeigekommen waren. Phoenix beantwortete ihre Fragen schnell und mit verstörender Gelassenheit. Ich fragte mich, ob er ein wenig nachhalf. Die Beamten waren ein wenig zu entgegenkommend, und das Ganze war innerhalb von Minuten erledigt. Ich bekam schreckliche Gewissensbisse, weil Claudias Angehörigen die Wahrheit nie erfahren würden. Aber wie ich gerade gelernt hatte, war die Wahrheit nicht immer besser.

Nachdem er mich zu unserem Haus begleitet hatte, stand Phoenix verlegen auf dem Gehsteig, während ich in meiner Tasche nach meiner Magnetstreifenkarte für die Haupttüren suchte. Das Schweigen hatte angedauert, denn ich hatte fast den ganzen Heimweg gehickst und geschluchzt. Zu jeder anderen Zeit wäre mir das peinlich gewesen, aber im Augenblick verkroch ich mich in eine Art Betäubungszustand.

»Violet?«

»Was?« Ich verkrampfte mich, weil ich befürchtete, er könnte fragen, ob er noch mit hochkommen konnte. Aber es kam noch schlimmer.

»Du solltest dich mit Linc treffen.«

»Nein!« Ich schüttelte heftig den Kopf, als versuchte ich, auf diese Weise das ganze Gespräch abzuschütteln.

Phoenix hob verteidigend die Arme. »Hey, ich kenne den Typ nicht einmal und ich mag ihn nicht. Aber die Dinge da draußen sind … du hast es selbst gesehen. Du musst lernen, dich selbst zu schützen. Denk darüber nach.«

Das war genau das, was ich nicht wollte. Wenn ich darüber nachdachte, würde ich mich am liebsten in Luft auflösen, und das konnte, das wollte ich nicht.

»Vielleicht«, sagte ich, nur damit es wegging.

Bilder von Claudias totem Körper spukten mir durch den Kopf und die Gedanken an Lincoln folgten ihnen auf dem Fuß. Schmerz und Liebe und Verlust. Zu viel, um alles zu begreifen.

»Ich muss gehen.« Ich zog meine Karte mit zu viel Schwung durch die Türen, sodass sie sich erst bei meinem dritten Versuch öffneten.

»Du kannst nicht einfach so tun, als würde er gar nicht existieren«, murmelte er.

Ich wirbelte herum und Hitze stieg in mir auf. »Das kann ich wohl! Und wenn du mich wiedersehen willst, dann wirst du das auch können müssen!« Mein Herz krampfte sich bei meinen Worten zusammen, als ich durch die Tür stürmte.

»Das werden wir sehen.«

Ich machte mir nicht die Mühe, mich umzudrehen. Ich ging einfach in die helle Eingangshalle und ließ ihn draußen auf der dunklen Straße stehen. Als ich hörte, wie sich die Türen hinter mir schlossen, atmete ich erleichtert auf.