30
Etwas Erstaunliches war geschehen.
Etwas Gutes oder Schlechtes. Auf jeden Fall etwas Entscheidendes, etwas Abschließendes. Es war das Ende des Lebens, wie Jed es bisher gekannt hatte.
Der Anruf hatte sie am frühen Abend aufgeschreckt. Persönlich und vertraulich, Chef, hatte der Kapitän vorsichtig gesagt. Es ist Sir Anthony, Chef, ich bin nicht sicher, ob ich das zu Ihnen durchstellen soll. Roper wälzte sich knurrend auf die Seite und nahm das Gespräch entgegen. Er trug wieder seinen Morgenmantel. Sie lagen auf dem Bett, nachdem sie sich geliebt hatten, wenn es auch weiß Gott wenig mit Liebe und sehr viel mit Haß zu tun gehabt hatte. Seine alte Lust auf einen Fick am Nachmittag war seit kurzem wieder erwacht. Bei ihr auch. Es schien, als wüchse ihr Verlangen nach einander in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Zuneigung. Sie fragte sich allmählich, ob Sex überhaupt etwas mit Liebe zu tun habe. »Ficken kann ich gut«, hatte sie hinterher zu ihm gesagt und die Decke angestarrt. »Ja, allerdings«, hatte er zugestimmt. »Da kannst du jeden fragen.« Dann dieses Telefongespräch, mit dem Rücken zu ihr. Ah, dieser Idiot, ja, stellen Sie's durch. Und wie sich dann sein Rücken versteifte, die Rückenmuskulatur unter der Seide erstarrte, sein Hintern unbehaglich herumrutschte, die Beine sich schützend übereinander legten.
»Tony, Sie sind aus der Sache raus. Sind Sie wieder besoffen? ... Wen haben Sie da? Na, geben Sie ihn mir. Warum nicht?... Na schön, reden Sie, wenn's sein muß. Ich höre. Geht mich zwar nichts an, aber ich kann's mir ja mal anhören ... Bloß keine rührseligen Geschichten, Tony, so was mag ich nicht...« Doch bald wurden diese barschen Unterbrechungen kürzer und die Abstände dazwischen immer länger,
bis Roper vollkommen reglos, den ganzen Körper in Alarmbereitschaft, nur noch schweigend zuhörte.
»Also Moment mal, Tony«, befahl er plötzlich. »Ruhe jetzt.« Er drehte sich zu ihr um, ohne sich die Mühe zu machen, die Hand auf den Hörer zu legen. »Laß ein Bad einlaufen«, sagte er. »Geh ins Badezimmer, mach die Tür zu, dreh die Hähne auf. Sofort.«
Also ging sie ins Badezimmer und drehte die Hähne auf und hielt sich den isolierten Hörer des Nebenanschlusses ans Ohr. Aber natürlich hörte er das Wasser laufen und brüllte sie an, aus der Leitung zu gehen. Darauf drehte sie die Hähne zu, bis sie nur noch tröpfelten, und hielt ihr Ohr ans Schlüsselloch, doch plötzlich explodierte ihr die Tür ins Gesicht und schleuderte sie über die glasierten Fliesen, die sie beide erst kürzlich ausgesucht hatten. Dann hörte sie Roper rufen: »Reden Sie weiter, Tony. Kleine häusliche Schwierigkeiten.«
Danach lauschte sie, wie er lauschte, hörte aber nicht mehr. Sie stieg in die Wanne und dachte daran, wie er früher oft und gern zu ihr hineingestiegen war; er schob ihr einen Fuß zwischen die Beine und las die Financial Times, während sie mit den Zehen an ihm herumspielte und eine Erektion herbeizuführen versuchte. Und manchmal zerrte er sie dann gleich zu einer weiteren Nummer ins Bett, so daß die Laken vom Badewasser naß wurden.
Aber diesmal stand er bloß in der Tür.
In seinem Morgenmantel. Starrte sie an. Überlegte, was zum Teufel er mit ihr anfangen sollte. Mit Jonathan. Mit sich selbst. Sein Gesicht trug diesen versteinerten Komm-mir-nicht-zu-nahe-Ausdruck, den er nur sehr selten und nie vor Daniel aufsetzte, ein Ausdruck, wenn es zu bedenken galt, was alles zu seiner Rettung erforderlich war.
»Du solltest dich anziehen«, sagte er. »In zwei Minuten taucht Corkoran hier auf.«
»Wozu?«
»Zieh dich einfach an.«
Dann ging er wieder ans Telefon und wählte, besann sich aber mittendrin eines Besseren. Er legte den Hörer mit solcher Beherrschung auf die Gabel zurück, daß sie spürte, am liebsten hätte er das Telefon und das ganze Schiff dazu in Stücke geschlagen. Die Hände auf den Hüften, sah er ihr mit starrem Blick beim Ankleiden zu, als gefalle ihm nicht, was sie da anzog.
»Nimm besser vernünftige Schuhe«, sagte er.
Und da blieb ihr das Herz stehen, denn an Bord gingen alle stets nur in Deckschuhen oder barfuß; lediglich am Abend durften die Damen Pumps tragen, aber nicht mit Pfennigabsätzen.
Sie entschied sich für vernünftige Wildlederschnürschuhe mit Gummisohlen, die sie auf einem ihrer Ausflüge nach New York bei Bergdorf gekauft hatte, und als Corkoran an die Tür klopfte, führte Roper ihn ins Empfangzimmer und sprach zehn Minuten lang allein mit ihm, während Jed auf dem Bett saß und an die Chance dachte, die sie noch immer nicht gefunden hatte, jene Zauberformel, die Jonathan und ihr die Rettung bringen würde. Aber ihr fiel nichts ein.
In der Phantasie hatte sie das Boot mit dem Arsenal im vorderen Laderaum in die Luft gesprengt - so ähnlich wie in African Queen, mit allen Leuten an Bord, einschließlich Jonathan und sie selbst; sie hatte die Wachen vergiftet, sie hatte Ropers Verbrechen vor den versammelten Gästen in einer dramatischen Rede angeprangert, was am Ende dazu führte, daß alle nach dem versteckten Gefangenen suchten; sie hatte Roper mit dem Tranchiermesser als Geisel genommen. Noch einige andere Lösungen, die im Kino so gut funktionierten, waren ihr durch den Kopf gegangen, aber die Wahrheit sah so aus, daß Mannschaft und Personal sie unablässig beobachteten; zudem hatten mehrere Gäste sich darüber geäußert, daß sie sehr nervös war, und das Gerücht in Umlauf gebracht, sie sei schwanger; es gab keinen einzigen Passagier an Bord, der ihr Glauben schenken oder irgend etwas unternehmen würde - und selbst wenn sie sie überzeugen konnte, daß sie recht hatte, wäre es ihnen völlig egal.
Roper und Corkoran kamen aus dem Empfangszimmer, und Roper zog sich ein paar Sachen an, nicht ohne sich vorher nackt vor ihnen auszuziehen - das hatte ihm noch nie etwas ausgemacht, im Gegenteil, er tat es gern; einen schlimmen Augenblick lang fürchtete sie, er werde sie aus irgendeinem Grund, und das konnte bestimmt kein guter sein, mit Corkoran allein lassen. Zu ihrer Erleichterung ging Corkoran mit ihm zur Tür.
»Bleib hier drin und warte«, sagte Roper, als sie gingen. Dann drehte er noch von außen den Schlüssel um, was er noch nie zuvor getan hatte.
Zuerst saß sie auf dem Bett, dann legte sie sich hin; sie kam sich vor wie eine Kriegsgefangene, die nicht wußte, ob die Richtigen oder die Falschen das Lager stürmen würden. Aber irgend jemand setzte zum Sturm an, da war sie sicher. Obwohl sie in der Kabine eingeschlossen war, spürte sie die Spannung draußen, die gemurmelten Anweisungen ans Personal, die hastigen, leichten Schritte auf dem Gang. Die Motoren begannen zu stampfen, das Schiff legte sich ein wenig auf die Seite. Roper hatte einen neuen Kurs bestimmt. Sie sah aus dem Bullauge, der Horizont drehte sich. Sie stand auf und bemerkte zu ihrer Überraschung, daß sie Blue Jeans trug und keine der Millionen-Dollar-Hosen, die Roper auf Kreuzfahrten an ihr zu sehen wünschte; das erinnerte sie an jene magischen letzten Tage vor den Ferien, an denen man die verhaßte graue Uniform der Klosterschule ablegen und etwas richtig Gewagtes, zum Beispiel ein Baumwollkleid, für jenen wunderbaren Augenblick anziehen durfte, wenn endlich das elterliche Auto über Mutter Angelas Straßenschwellen heranrumpelte, um dich abzuholen.
Aber niemand außer ihr selbst hatte ihr gesagt, daß sie jetzt gehen würde. Es war eine eigene Idee, und es war nur ihr Wille, den sie verwirklichen konnte.
Sie beschloß, Fluchtgepäck zusammenzustellen. Wenn sie vernünftige Schuhe brauchte, brauchte sie offenbar auch andere vernünftige Dinge. Also nahm sie ihre Schultertasche aus dem obersten Fach des Kleiderschranks und legte ihren Toilettenbeutel, die Zahnbürste und Unterwäsche zum Wechseln hinein. Sie zog die Schreibtischschubladen auf und entdeckte verblüfft ihren Paß - Corkoran mußte ihn Roper gegeben haben. Als sie zu ihrem Schmuck kam, nahm sie sich vor, Edelmut zu beweisen. Roper hatte sie immer gern mit Schmuck beschenkt, und für jedes Stück wußten die beiden, an welches Ereignis es erinnern sollte: Die Halskette aus Rosendiamanten stand für ihre erste gemeinsame Nacht in Paris; das Smaragd-Armband für ihren Geburtstag in Monaco; die Rubine für Weihnachten in Wien. Vergiß das Zeug, sagte sie sich schaudernd; laß die Erinnerungen in der Schublade. Dann dachte sie, was soll's, ist doch nur Geld, und nahm sich drei oder vier Stück zur Finanzierung ihrer gemeinsamen Zukunft. Aber kaum hatte sie den Schmuck in die Schultertasche gesteckt, holte sie ihn wieder raus und warf ihn auf Ropers Frisierkommode. Ich werde nie mehr dein Schmuckmädchen sein.
Kein Problem hatte sie freilich damit, für den Fall, daß Jonathan keine mehr haben sollte, ein paar von Ropers maßgeschneiderten Hemden und seidenen Unterhosen einzustecken. Und ein paar von Ropers geliebten Gucci-Espadrilles, die aussahen, als könnten sie Jonathan passen.
Damit war ihr Mut erschöpft, und sie ließ sich wieder aufs Bett fallen. Das ist ein Trick. Ich gehe nirgendwo hin. Sie haben ihn umgebracht.
Jonathan hatte immer gewußt, wenn es endlich soweit wäre - welches Ende auch immer sie ihm zugedacht hatten -, würden sie zu zweit kommen. Seine Erfahrung ließ ihn vermuten, daß diese beiden Frisky und Tabby sein mußten, denn Folterer haben genauso ihr Protokoll wie alle anderen: Das ist mein Job, dies ist dein Job, und die wichtigsten Jobs werden von den wichtigsten Leuten ausgeführt. Gus war immer bloß ein Gehilfe gewesen. Die beiden hatten Jonathan gemeinsam zur Toilette geschleift, sie hatten ihn gemeinsam gewaschen, was sie übrigens offenbar nicht ihm, sondern nur sich selbst zuliebe taten: Sie waren nie darüber hinweggekommen, wie er ihnen in Colon gedroht hatte, sich vollzumachen, und wenn sie wütend auf ihn waren, sagten sie ihm bei jeder Gelegenheit, was für ein mieses Dreckschwein er sei, schon der Gedanke daran sei eine Zumutung.
Als dann Frisky und Tabby die Tür aufstießen und das blaue Sturmlicht einschalteten und Frisky der Linkshänder sich rechts neben Jonathan stellte, damit er für den Notfall den linken Arm frei hatte, und Tabby sich links neben Jonathans Kopf hinkniete - wobei er wie üblich mit seinen Schlüsseln herumfuhrwerkte, weil er nie den richtigen bereithielt -, verlief alles exakt so, wie der Beobachter es vorausgesehen hatte; nur eins hatte er nicht erwartet, nämlich daß sie sich über den Zweck des Besuchs so offen äußern würden.
»Wir alle hier haben leider die Nase gestrichen voll von dir, Tommy. Besonders der Chef«, sagte Tabby. »Und deshalb wirst du jetzt auf die Reise gehen. Tut mir leid, Tommy. Du hattest deine Chance, aber du mußtest dich ja stur stellen.«
Nach diesen Worten versetzte er Jonathan einen halbherzigen Tritt in den Magen, falls er vorhaben sollte, Ärger zu machen.
Aber wie sie sehen konnten, war Jonathan längst über das Stadium hinaus, in dem man Ärger machte. Einen peinlichen Augenblick lang schienen Frisky und Tabby sich sogar schon zu fragen, ob es mit dem Ärger für immer vorbei sei, denn als sie ihn so zusammengesackt, mit zur Seite gedrehtem Kopf und offenem Mund sahen, ging Frisky in die Knie, riß ihm mit dem Daumen ein Lid hoch und spähte ihm ins Auge.
»Tommy? Los jetzt. Du willst doch nicht dein eigenes Begräbnis verpassen, oder?«
Dann taten sie etwas Erstaunliches. Sie ließen ihn liegen. Sie nahmen ihm die Fesseln und den Knebel ab, und während Frisky ihm das Gesicht wusch und ein frisches Pflaster auf den Mund klebte, aber ohne Knebel, zog Tabby ihm aus, was von seinem Hemd übriggeblieben war, und steckte ihn, einen Arm nach dem anderen, in ein neues.
Jonathan stellte sich schlapp wie eine Stoffpuppe, gleichzeitig aber ergoß sich sein geheimer Energievorrat in jeden Teil seines Körpers. Seine Muskeln, zerschunden und von Krämpfen halb gelähmt, schrien geradezu danach, endlich etwas tun zu dürfen. Seine zerschlagenen Hände und verkrümmten Beine glühten, und sein verschwommener Blick klärte sich, noch während Frisky ihm die Augen abwischte.
Er wartete. Er erinnerte sich, welchen Vorteil eine zusätzliche kleine Verzögerung brachte.
Du mußt sie einlullen, dachte er, als sie ihn mühsam auf die Füße stellten. Du mußt sie einlullen, dachte er noch einmal, als er jedem einen Arm um die Schultern schlang, sein ganzes Gewicht auf sie verlagerte und sich von ihnen durch den Korridor schleppen ließ.
Du mußt sie einlullen, dachte er, als Frisky ihm gebeugt auf der Wendeltreppe vorankletterte und Tabby ihn von unten abstützte.
O Gott, dachte er, als er die Sterne am schwarzen Himmel und einen riesigen roten Mond auf dem Wasser schwimmen sah. O Gott, gib mir diesen letzten Augenblick.
Die drei standen an Deck wie eine Familie, aus der Bar im Heck schallte durch die frühe Dunkelheit Ropers Dreißiger-Jahre-Musik zu Jonathan hinüber und das fröhliche Geplauder zu Beginn der abendlichen Lustbarkeiten. Der vordere Teil des Schiffs war unbeleuchtet, und Jonathan fragte sich, ob sie vorhatten, ihn zu erschießen; ein Schuß, wenn die Musik am lautesten war, wer würde das schon hören?
Das Schiff hatte den Kurs gewechselt. Nur wenige Meilen entfernt lag ein Küstenstreifen. Eine Straße war zu erkennen. Er sah die Reihe der Straßenlampen unter den Sternen, wohl doch eher Festland, keine Insel. Oder vielleicht eine Inselkette? Schwer zu sagen. Sophie, bringen wir's gemeinsam hinter uns. Zeit, vom schlimmsten Mann der Welt freundlich Abschied zu nehmen.
Seine Wächter waren stehengeblieben, sie warteten auf irgend etwas. Zwischen ihnen zusammengesackt, noch immer mit beiden Armen ihre Schultern umklammernd, wartete Jonathan mit ihnen; zufrieden stellte er fest, daß sein Mund unter dem Pflaster wieder zu bluten begonnen hatte, was zweierlei zur Folge haben würde: Erstens würde sich dadurch das Pflaster lösen, und zweitens sähe er damit noch ramponierter aus, als er in Wirklichkeit war.
Dann sah er Roper. Wahrscheinlich war er schon die ganze Zeit da gewesen, und Jonathan hatte ihn in seiner weißen Smokingjacke vor der weißen Brücke bloß nicht bemerkt. Auch Corkoran war da, nur Sandy Langbourne hatte es nicht geschafft. Vögelte vermutlich eines der Küchenmädchen.
Und zwischen Corkoran und Roper konnte er Jed sehen, beziehungsweise, falls er es nicht konnte, hatte Gott sie dort hingestellt. Aber doch, er konnte Jed sehen, und sie konnte ihn sehen, sie sah überhaupt nichts außer ihn, aber Roper mußte ihr befohlen haben, still zu sein. Sie trug normale Jeans und keinen Schmuck, was ihm außerordentlich gefiel; er konnte es nicht ausstehen, wie Roper sie mit seinem Geld behängte. Sie sah Jonathan an, und er erwiderte ihren Blick, aber das konnte sie bei dem furchtbaren Zustand seines Gesichts nicht erkennen. Und so, wie er stöhnte und sich hängen ließ, hatte sie wahrscheinlich ohnehin keine allzu romantischen Gefühle.
Jonathan sackte in den Armen seiner Wächter noch mehr zusammen, sie bückten sich zuvorkommend und packten ihn fester um die Hüfte.
»Ich glaub, der macht einen Abgang«, murmelte Frisky.
»Wohin?« fragte Tabby.
Und das war für Jonathan das Stichwort, mit mehr Kraft, als er je in seinem Leben aufgebracht hatte, ihre Köpfe aneinanderzurammen. Die Kraft kam aus seinem Sprung, es war, als schnellte er aus dem Loch, in dem sie ihn angekettet hatten. Die Kraft ergoß sich in seine Schultern, als er die Arme ausbreitete und dann mit einem gewaltigen beidseitigen Schwung zusammenschlug, und noch einmal: Schläfe an Schläfe. Gesicht an Gesicht. Ohr an Ohr. Schädel an Schädel. Sie strömte durch seinen Körper, als er die zwei Männer von sich wegstieß, sie zu Boden schleuderte und jedem mit der Außenseite des rechten Schuhs einen mörderischen Tritt an den Kopf versetzte und dann noch einen an den Hals. Er machte einen Schritt nach vorn, riß sich das Pflaster vom Gesicht und ging auf Roper zu, der ihm wie damals im Hotel Meister Anweisungen erteilte.
»Pine. Das hätten Sie nicht tun sollen. Keinen Schritt weiter. Corks, zeig ihm deine Kanone. Bringt Sie an Land, Sie beide. Haben Ihren Job vermasselt. Totale Zeitverschwendung, völlig albern das Ganze.«
Jonathan hatte die Reling gefunden und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Aber er ruhte nur aus. Die Kraft verließ ihn nicht. Er gab seinen geheimen Hilfstruppen Zeit, sich neu zu formieren.
»Das Zeug ist längst abgeliefert, Pine. Hab ihnen ein paar Schiffe spendiert, ein paar Verhaftungen - was soll's? Sie glauben doch wohl nicht, daß ich so eine Aktion alleine durchziehe?« Dann wiederholte er, was er schon zu Jed gesagt hatte. »Das ist kein Verbrechen. Das ist Politik. Kein Grund, sich aufs hohe Roß zu setzen. So ist die Welt nun mal.«
Jonathan ging jetzt wieder auf ihn zu, allerdings breitbeinig und taumelnd. Corkoran spannte die Pistole.
»Sie können nach Hause gehen, Pine. Nein, können Sie nicht. London hat Ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Auch in England läuft ein Haftbefehl gegen Sie. Erschieß ihn, Corks. Los, mach schon. Kopfschuß.«
»Jonathan, bleib stehen!«
Wer rief da? Jed oder Sophie? Gehen war gar nicht so einfach. Er wünschte, er könnte wieder ans Geländer zurück, aber jetzt stand er mitten auf dem Deck. Er watete. Das Deck schwankte. Ihm versagten die Knie. Doch der Wille, der in ihm steckte, wollte nicht nachgeben. Er war entschlossen, das Unerreichbare zu packen, er wollte Ropers schöne weiße Smokingjacke mit Blut beflecken, sein Delphinlächeln zerschlagen, ihn schreien lassen: Ich bin ein Mörder, ein Verbrecher, es gibt Gute und Böse, und ich bin böse\
Roper zählte, wie Corkoran auch gern gezählt hatte. Entweder zählte er furchtbar langsam, oder Jonathan hatte kein Zeitgefühl mehr. Er hörte eins und dann zwei, aber er hörte nicht drei und fragte sich, ob dies eine andere Art zu sterben sei: Man wird erschossen, aber das Leben geht genauso weiter wie vorher; nur daß niemand weiß, daß man noch da ist. Dann hörte er Jeds Stimme, und sie hatte jenen autoritären Klang, der ihn immer besonders geärgert hatte.
»Jonathan, um Gottes willen, sieh mich an\«
Ropers Stimme tauchte wieder auf wie ein weit entfernter Radiosender, den man zufällig einstellt. »Ja, sehen Sie hin«, bekräftigte er. »Sehen Sie mal, was ich hier habe, Pine. Ich mache mit ihr die Daniel-Nummer, Pine. Aber diesmal ist es kein Spiel.«
Obwohl Jonathan alles vor den Augen verschwamm, gelang es ihm hinzusehen. Und er sah, daß Roper sich wie ein guter Kommandeur einen Schritt vor seinen Adjutanten gestellt und in seiner weißen schicken Jacke so etwas wie Habachtstellung eingenommen hatte, nur daß er mit einer Hand Jed bei den kastanienbraunen Haaren gepackt hielt und ihr mit der anderen Corkorans Pistole an die Schläfe drückte -typisch für den guten alten Corky, eine echte Armeewaffe, eine Neun-Millimeter-Browning mit sich rumzuschleppen. Dann legte Jonathan sich hin oder brach zusammen, und diesmal hörte er Jed und Sophie im Chor: Sie schrien ihn an, wachzubleiben.
Sie hatten ihm eine Decke besorgt, und nachdem Jed und Corkoran ihn auf die Beine gestellt hatten, betätigte Jed sich wie damals in Crystal als Krankenschwester und legte ihm die Decke um die Schultern. Während Roper noch immer die Waffe hielt, falls Jonathan ein zweitesmal zum Leben erwachen sollte, schleppten Jed und Corkoran ihn, vorbei an dem, was von Frisky und Tabby noch übrig war, zur Reling.
Corkoran ließ Jed vorangehen, dann halfen sie Jonathan gemeinsam die Sprossen hinunter, wobei Gus unten vom Beiboot aus nachhelfen wollte. Aber Jonathan schlug seine Hilfe aus und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Jed fand das typisch für seine Halsstarrigkeit, gerade als alle ihm zu helfen versuchten. Corkoran machte die überflüssige Bemerkung, es handele sich um eine venezolanische Insel, aber als Jed sagte, er solle den Mund halten, gehorchte er. Gus wollte ihr erklären, wie der Außenbordmotor funktionierte, aber damit kannte sie sich genauso gut aus wie er, und das sagte sie ihm auch. Jonathan, wie ein Mönch in seine Decke gehüllt, hockte mitten im Boot und begann es instinktiv zu trimmen. Seine fast bis zur Unkenntlichkeit zugeschwollenen Augen waren nach oben auf die Pasha gerichtet, die wie ein Wolkenkratzer über ihnen aufragte.
Auch Jed blickte nach oben und sah Roper in seiner weißen Jacke, der suchend nach etwas im Wasser blickte, das er verloren hatte. Für wenige Sekunden sah er genauso aus, wie sie ihn an jenem ersten Tag in Paris gesehen hatte, ein anständiger, amüsanter englischer Gentleman, ein Idealtyp seiner Generation: Dann verschwand er, und sie glaubte zu hören, daß die Musik vom Achterdeck über dem Wasser ein wenig lauter wurde, als er wieder tanzen ging.