18

 

Den verbotenen Angriff auf die Prunkgemächer hatte Jonathan in dem Moment ins Auge gefaßt, als er hörte, daß Roper wieder einmal Farmen verkaufte und Langbourne ihn begleitete, während Corkoran sich in Nassau um Ironbrand kümmerte.

Jonathan wurde in seinem Entschluß bestätigt, als er von Stallmeister Claud erfuhr, daß Jed und Caroline planten, am Morgen nach der Abreise der Männer mit den Kindern einen Ponytreck um die Insel zu unternehmen; sie wollten um sechs Uhr aufbrechen, rechtzeitig zum Brunch in Crystal zurück sein und noch vor der Mittagshitze schwimmen gehen.

Von diesem Augenblick an ging er taktisch vor. Am Tag vor dem Angriff nahm er Daniel auf dessen erste schwierige Klettertour an der Nordwand von Miss Mabel Mountain mit - genauer gesagt, an der Vorderseite eines kleinen Steinbruchs, der in den steilsten Teil des Hügels gehauen war -, sie schlugen drei Haken ein und querten angeseilt die Wand, bevor sie triumphierend die Ostseite der Landebahn erreichten. Auf dem Gipfel pflückte er einen Strauß duftender gelber Freesien, die von den Inselbewohnern Schifferblumen genannt wurden.

»Für wen sind die?« frage Daniel, während er seine Schokolade mampfte, doch Jonathan gelang es, der Frage auszuweichen.

Am nächsten Tag stand er wie gewöhnlich früh auf und joggte ein Stück weit den Küstenpfad entlang, um sich zu vergewissern, daß die Trecker tatsächlich wie geplant aufgebrochen waren. An einer windigen Kurve kamen ihm Jed und Caroline entgegen, gefolgt von Claud und den Kindern.

»Ah, Thomas, kommen Sie rein zufällig nachher noch in Crystal vorbei?« fragte Jed; sie beugte sich vor und tätschelte ihrem Araber den Hals, als spielte sie die Hauptrolle in einer Zigarettenreklame. »Großartig. Würden Sie dann so furchtbar lieb sein und Esmeralda ausrichten, daß Caro wegen ihrer Diät nichts mit Milchfett essen kann?«

Esmeralda wußte sehr wohl, daß Caro kein Milchfett essen konnte, denn Jed hatte es ihr schon einmal in Jonathans Gegenwart gesagt. Aber Jonathan lernte in diesen Tagen, von Jed das Unerwartete zu erwarten. Ihr Lächeln wirkte zerstreut, ihr Verhalten war gekünstelter denn je, und sie brachte kaum einen unbefangenen Satz zustande.

Jonathan joggte bis zu seinem Versteck weiter. Da heute nur sein Wille galt, holte er das Funkgerät nicht heraus, sondern nur die als Feuerzeug getarnte Miniaturkamera und einen Bund ungetarnter Dietriche. Er nahm sie in die Faust, damit sie beim Laufen nicht klimperten, kehrte zu Woodys Haus zurück, zog sich um und ging dann durch den Tunnel nach Crystal. Seine Schultern prickelten im Vorgefühl der Schlacht.

»Was zum Geier ha'm Sie mit den Schifferblumen vor, Mist' Thomas?« fragte ihn der Posten am Tor gutgelaunt. »Ha'm Sie die arme Miss Mabel beraubt? Ach, Scheiße. He. Dover, komm mal her und steck deine dumme Visage in diese Schifferblumen. Schon mal so was Schönes gerochen? Den Teufel hast du! Du hast ja noch nie was gerochen außer dem Pflaumenkuchen von deiner Kleinen.«

Als er am Hauptgebäude ankam, hatte Jonathan das schwindelerregende Gefühl, wieder im Hotel Meister zu sein. Nicht Isaac, sondern Herr Kaspar empfing ihn am Eingang. Nicht Parker stand oben auf der Aluminiumleiter und wechselte Glühbirnen aus, sondern Bobbi, das Faktotum. Und nicht Isaacs Tochter, sondern Herrn Kaspars frühreife Nichte sprühte mit trägen Bewegungen Insektizide in das Potpourri. Das Trugbild schwand, und er war wieder in Crystal. In der Küche hielt Esmeralda zusammen mit Talbot, dem Bootsführer, und Queeny von der Wäscherei ein Seminar über weltpolitische Angelegenheiten ab.

»Esmeralda, würden Sie mir bitte eine Vase für diese Blumen besorgen? Ein Überraschungsgeschenk für Dan. Ach, und Miss Jed läßt ausrichten, daß Lady Langbourne absolut keine Milchprodukte essen kann.«

Diese betont schalkhaft vorgetragene Bemerkung ließ sein Publikum in schallendes Gelächter ausbrechen, das Jonathan noch auf der Marmortreppe hörte, als er, mit der Vase in der Hand, in die erste Etage stieg und scheinbar Daniels Zimmer ansteuerte. Vor der Tür zu den Prunkgemächern machte er halt. Unten ging das muntere Geplauder weiter. Die Tür war angelehnt. Er schob sie auf und trat in einen verspiegelten Flur. Die Tür am anderen Ende war geschlossen. Als er auf die Klinke drückte, mußte er an Irland und Sprengfallen denken. Er trat ein, nichts explodierte. Er schloß die Tür, sah sich um und schämte sich seiner Heiterkeit.

Das Sonnenlicht, gefiltert von Tüllgardinen, lag wie Bodennebel auf dem weißen Teppich. Ropers Seite des riesigen Betts war unbenutzt. Die Kopfkissen waren noch aufgeschüttelt. Auf seinem Nachttisch lagen aktuelle Ausgaben von Fortune, Forbes, The Economist und ältere Kataloge von Auktionshäusern rund um den Globus. Notizblocks, Bleistifte, ein Taschenrecorder. Auf der anderen Seite des Betts erkannte Jonathan den Abdruck ihres Körpers; die Kopfkissen waren zerknautscht, als hätte sie eine unruhige Nacht gehabt. Ihr Nachthemd, ein zartes Gebilde aus schwarzer Seide; ihre utopischen Zeitschriften, illustrierte Bücher über Möbel, große Häuser, Gärten, berühmte Pferde, noch mehr Pferde; Bücher über arabische Vollblutpferde und englische Rezepte und Italienisch in acht Tagen. Es roch nach kleinen Kindern -Babypuder, Schaumbad. Eine üppige Spur der gestern getragenen Kleider war über die Chaiselongue verstreut; und durch die offene Badezimmertür sah er die Dreiecke des gestrigen Badezeugs an der Duschstange hängen.

Mit immer schnellerem Blick las er nun die ganze Seite auf einmal: ihre Frisierkommode, übersät mit Andenken an Nachtclubs, Leute, Restaurants und Pferde; Fotos von lachenden Menschen Arm in Arm, von Roper in Bikinishorts, die seine Männlichkeit deutlich hervortreten ließen, Roper am Steuer eines Ferrari, eines Rennboots, Roper in weißer Schirmmütze und Segeltuchhose auf der Brücke der Iron Pasha; die Pasha selbst in voller Beflaggung an ihrem Ankerplatz im Hafen von New York, dahinter die gewaltige Skyline von Manhatten; Streichholzbriefchen; eine offene Schublade, aus der handschriftliche Briefe von Freundinnen quellen; ein Kinder-Adreßbuch mit einem Foto von schmachtend dreinblickenden Bluthunden auf dem Umschlag; Notizen auf gelben Zetteln, die sie in die Ränder ihre Spiegels gesteckt hatte: »Tauchuhr für Dan zum Geburtstag?« »Marie wg. Sarahs Bein anrufen!« »S.J. Phillips wg. Rs Manschettenknöpfen!«

Es kam ihm stickig in dem Zimmer vor. Ich bin ein Grabräuber, aber sie lebt noch. Ich bin in Meisters Keller, aber das Licht ist an. Schnell weg, bevor sie mich einmauern. Aber er war nicht hier, um zu fliehen. Sondern um sich heranzumachen. Und zwar an sie beide. Er wollte hinter Ropers Geheimnisse kommen, aber ihre interessierten ihn mehr. Er wollte das Rätsel lösen, was sie mit Roper verband, falls es so etwas gab; warum sie so lächerlich affektiert tat; und warum du mich mit deinen Augen berührst. Er stellte die Blumenvase auf einen Sofatisch, nahm eins ihrer Kopfkissen, hielt es sich ans Gesicht und roch den Holzrauch aus dem Herd seiner singenden Tante Annie. Natürlich. Das hast du letzte Nacht gemacht. Du hast, während die Kinder schliefen, mit Caroline am Kamin gesessen und geredet. Soviel Gerede. Soviel Zuhören. Was sagst du? Was hörst du? Und der Schatten auf deinem Gesicht. Du bist wieder ein Kind, du siehst alles zum ersten Mal. Nichts ist dir mehr vertraut, auf nichts kannst du dicht mehr verlassen.

Er schob die Spiegeltür zu Ropers Ankleidezimmer auf und betrat nicht ihre, sondern seine eigene Kindheit. Hatte mein Vater auch so eine Armeekiste mit Messinggriffen, um sie durch die Olivenhaine in Zypern zu schleppen? So einen mit Tinte und nächtlichen Getränken vollgekleckerten Klapptisch? So ein Paar gekreuzter Krummsäbel, die in den Scheiden an der Wand hingen? Oder solche Hausschuhe mit Monogrammen, die militärischen Rangabzeichen glichen? Selbst die Reihe Maßanzüge und Smokings, von Weinrot über Schwarz zu Weiß, die maßgefertigten Schuhe auf hölzernen Spannern, weiße Wildlederschuhe, schwarze Lackleder-Abendschuhe, all das hat die unverwechselbare Ausstrahlung von Uniformen, die auf das Signal zum Vorrücken warten.

Wieder zum Soldaten geworden, suchte Jonathan nach Spuren des Feindes: verdächtige Drähte, Anschlüsse, Sensoren, irgendeine verlockende Falle, in der er bis zum Ende aller Tage festsitzen würden. Nichts. Bloß die gerahmten Klassenfotos von vor dreißig Jahren, Schnappschüsse von Daniel, ein Haufen Kleingeld in einem halben Dutzend Währungen, eine Weinliste von Berry Bros. & Rudd, der Jahresbericht seines Londoner Clubs.

Kommt Mr. Roper häufig nach England? hatte Jonathan Jed im Hotel Meister gefragt, als sie darauf warteten, daß das Gepäck in die Limousine verladen wurde.

Großer Gott, nein, erwiderte Jed. Roper sagt, wir seien ja furchtbar nett, aber von hier an aufwärts komplett aus Holz. Außerdem kann er sowieso nicht.

Warum nicht? fragte Jonathan.

Ah, keine Ahnung, sagte Jed allzu gleichmütig. Wegen der Steuer oder so was. Warum fragen Sie ihn nicht selbst?

Vor ihm war die Tür zum inneren Büro. Das Allerheiligste, dachte er. Das letzte Geheimnis bist du selbst - aber welches Selbst, seins oder meins oder ihres? Die Tür war aus massivem Zypressenholz und in einen Stahlrahmen gefaßt. Er horchte. Fernes Geplauder, Staubsauger, Bohnermaschinen. Laß dir Zeit, mahnte sich der Beobachter. Zeit ist Sorgfalt. Zeit ist Unschuld. Niemand kommt nach oben und entdeckt dich. In Crystal werden die Betten um die Mittagszeit gemacht, damit die sauberen Laken in der Sonne trocknen können: Anweisung des Chefs, gewissenhaft von Jed befolgt. Jed und ich, wir sind gehorsame Leute. Wir sind nicht umsonst in Klöstern und Klosterschulen gewesen. Er bewegte die Klinke. Abgeschlossen. Nur ein konventionelles Schloß. Der beste Schutz des Zimmers ist seine Abgelegenheit. Jeder, der in der Nähe angetroffen wird, wird ohne Vorwarnung erschossen. Als er nach seinen Dietrichen griff, hörte er Rookes Stimme. Knacken Sie niemals ein Schloß, wenn Sie den Schlüssel finden können: erste Einbrecherregel. Er drehte sich von der Tür weg und streifte mit der Hand über ein paar Regale. Er hob einen Läufer an, dann einen Blumentopf; er klopfte die Taschen der vordersten Anzüge ab, dann die Taschen eines Morgenmantels. Er nahm ein paar Schuhe und drehte sie um. Nichts. Zum Teufel damit.

Er schüttelte die Dietriche fächerförmig auseinander und wählte einen aus, der ihm am ehesten zu passen schien. Zu dick. Er wählte einen zweiten, und als er ihn gerade ins Schloß stecken wollte, überkam ihn kindliche Panik, das polierte Messing um das Schlüsselloch zu zerkratzen. Vandale! Wer hat dich denn erzogen? Er ließ die Hände sinken, atmete, um seine Einsatzruhe wiederzuerlangen, ein paarmal langsam durch und fing wieder von vorne an. Sachte hinein... Pause... sachte ein winziges Stück zurück... und wieder hinein. Nimm sie mit Geduld, nicht mit Gewalt, wie wir in der Armee sagen. Du mußt ihr zuhören, ihre Bewegungen spüren, die Luft anhalten. Drehen. Sachte... noch ein kleines Stück zurück ... jetzt kräftiger drehen... und noch ein bißchen fester... Gleich bricht der Dietrich ab und bleibt im Schloß stecken! Jetzt*

Das Schloß gab nach. Nichts brach ab. Niemand schoß ihm mit seiner Heckler ins Gesicht. Er zog den Dietrich unversehrt heraus, steckte ihn in das Mäppchen und das Mäppchen in die Tasche seiner Jeans und hörte im selben Augenblick, wie der Toyota mit quietschenden Bremsen auf dem Stallhof zum Stehen kam. Ruhig jetzt. Jetzt. Der Beobachter stahl sich ans Fenster. Mr. Onslow Roper ist unerwartet aus Nassau zurückgekommen. Untergrundkämpfer sind über die Grenze gekommen, um ihre Waffen zu holen. Es war aber nur das Brot, das täglich frisch aus Townside gebracht wurde.

Aber nicht schlecht gehört, sagte er sich. Ruhig, konzentriert, panikfrei zugehört. Gut gemacht. Ganz der Sohn deines Vaters.

Er war in Ropers Höhle.

Und wenn Sie aus der Reihe tanzen, werden Sie wünschen, nie auf die Welt gekommen zu sein, sagt Roper.

Nein, sagt Burr. Und Rob sagt ebenfalls nein. Sein Allerheiligstes ist Sperrgebiet. Das ist ein Befehl.

Schlicht. Die Schlichtheit eines Soldaten. Die anständige Bescheidenheit des Jedermann. Kein bestickter Thron, kein Schildpattschreibtisch, keine drei Meter langen Bambussofas mit Kissen, auf denen man unverzüglich einschläft, keine Silberpokale, keine Sotheby-Kataloge. Bloß ein schlichtes, langweiliges, kleines Büro, in dem Geld und Geschäfte gemacht werden. Ein schlichter grauer Büroschreibtisch mit Ablagekörben auf einem ausziehbaren Gestell: Zieh dran, und sie klappen nach vorn, Jonathan zog, und sie klappten nach vorn. Ein Stahlrohrsessel. Ein rundes Gaubenfenster, das wie ein totes Auge in ein leeres Stück Himmel starrte. Zwei Schwalbenschwänze. Wie zum Teufel sind diese Schmetterlinge hier reingekommen? Eine Schmeißfliege, sehr geräuschvoll. Ein Brief, der auf einem Stapel anderer Briefe lag. Adressiert an Hampden Hall, Newbury. Unterschrift: Tony. Thema: die beschränkten Verhältnisse des Verfassers. Tonfall: bittend und drohend.

Nicht lesen, fotografieren. Er zog ruhig die übrigen Papiere aus dem Korb, breitete sie wie Spielkarten offen vor sich auf dem Tisch aus, entfernte den unteren Pfeil des Feuerzeugs, machte die Kamera darin startklar und spähte durch das winzige Okular. Die richtige Entfernung bekommen Sie, wenn Sie die Finger beider Hände spreizen und eine lange Nase machen, hatte Rooke gesagt. Jonathan machte eine lange Nase. Die Kamera hatte ein Fischaugenobjektiv. Alle Papiere lagen in Schußweite. Nach oben zielen, nach unten zielen. Und Schuß. Die Papiere austauschen. Keinen Schweiß auf den Schreibtisch tropfen lassen. Noch einmal eine lange Nase machen, um die Entfernung zu kontrollieren. Ruhig. Immer mit der Ruhe, eiskalt. Er stand wie erstarrt am Fenster. Beobachten, aber nicht aus allzu großer Nähe. Der Toyota fährt weg. Gus am Steuer. Zurück an die Arbeit. Langsam.

Als er mit dem ersten Korb fertig war, legte er die Papiere zurück und machte sich an den zweiten. Sechs eng beschriebene Seiten in Ropers sauberer Schrift. Die Kronjuwelen? Ein langer Brief an seine Exfrau über Daniel? Er breitete sie von links nach rechts vor sich aus. Nein, kein Brief an Paula. Namen und Zahlen, jede Menge, mit Kugelschreiber auf Millimeterpapier geschrieben, die Namen links, daneben die Zahlen, jede Ziffer sorgfältig in eins der Quadrate gesetzt. Spielschulden? Haushaltsabrechnungen? Geburtstagsliste? Nicht denken. Erst spionieren, später denken. Er trat einen Schritt zurück, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und atmete aus. Und dabei sah er es.

Ein Haar. Ein langes, weiches, glattes, schönes kastanienbraunes Haar, das in ein Amulett oder einen Liebesbrief gehörte oder auf einem Kopfkissen liegen und nach Holzrauch riechen sollte. Einen Augenblick lang empfand er Wut, eine Wut, wie Forscher sie empfinden, wenn sie am Ziel eines höllischen Marschs den Kochtopf des verhaßten Rivalen finden, der ihnen zuvorgekommen ist. Du hast mich angelogen! Du weißt genau, was er treibt. Er macht das schmutzigste Geschäft seiner Karriere, und du steckst mit ihm unter einer Decke! Gleich darauf gefiel ihm die Vorstellung, daß Jed dieselbe Reise wie er selbst gemacht hatte, ohne daß Rooke oder Burr oder der Mord an Sophie sie dazu getrieben hatte.

Und dann bekam er Angst. Nicht um sich, sondern um sie. Um ihre Zerbrechlichkeit. Um ihre Unbedachtsamkeit. Um ihr Leben. Wie kannst du nur so dämlich sein, sagte er ihr, direkt am Tatort deine Unterschrift zu hinterlassen! Hast du noch nie eine schöne Frau gesehen, der man das Gesicht zu Brei geschlagen hat? Einen kleinen Hund, den man von hinten nach vorn aufgeschlitzt hat?

Jonathan wickelte das verräterische Haar um die Spitze seines kleinen Fingers, steckte es in die schweißnasse Tasche seines Hemdes, legte die zweite Akte in ihren Korb zurück und breitete gerade den Inhalt des dritten aus, als er plötzlich vom Stallhof her das Geräusch von Pferdehufen hörte, begleitet von laut protestierenden und schimpfenden Kinderstimmen.

Sorgfältig legte er die Papiere an ihren rechtmäßigen Platz zurück und trat ans Fenster. Dabei hörte er aus dem Inneren des Hauses irgendwen mit schnellen Schritten laufen, dann heulte Daniel nach seiner Mutter und stürmte durch die Küche zur Eingangshalle. Dann schrie Jed hinter ihm her. Und im Stallhof sah er Caroline Langbourne und ihre drei Kinder; und Stallmeister Claud, der Jeds Araberstute am Zügel hielt; daneben stand der Stallbursche Donegal und hielt Daniels Pony Smoky fest, das unwillig den Kopf senkte, als fände es das ganze Theater widerlich.

Kampfbereit.

Klar zum Gefecht.

Der Sohn seines Vaters. Begrabt ihn in Uniform.

Jonathan schob die Kamera in die Hosentasche und kontrollierte, ob er auf dem Schreibtisch leichtsinnige Spuren hinterlassen hatte. Er wischte die Schreibtischplatte und dann die Ränder der Ablagekörbe mit seinem Taschentuch ab. Daniel schrie lauter als Jed, aber Jonathan konnte weder ihn noch sie verstehen. Eins der Langbourne-Kinder auf dem Stallhof hatte beschlossen, sich dem Gebrüll anzuschließen. Esmeralda war aus der Küche gekommen und sagte zu Daniel, er solle sich nicht so dumm anstellen, was würde wohl sein Papa dazu sagen? Jonathan trat ins Ankleidezimmer, machte die stahlgerahmte Tür der Höhle zu und verschloß sie wieder mit dem Dietrich; wegen seiner Angst, das Messingschild nicht zu verkratzen, dauerte es ein wenig länger als nötig. Als er endlich im Schlafzimmer war, hörte er Jed in Reitstiefeln bereits die Treppe hochstapfen und laut vor sich hinschimpfen, niemals im Leben werde sie mit Daniel noch einmal auch nur einen Ausritt machen.

Er überlegte, ob er sich ins Bad verziehen oder in Ropers Ankleidezimmer zurückgehen sollte. Aber sich zu verstecken schien auch keine Lösung zu sein. Genüßliche Trägheit überkam ihn, der Wunsch, wie in der Liebe, die Sache noch weiter hinauszuzögern. Als Jed dann in ihren Reitsachen, ohne Peitsche und Sturzhelm, dafür mit vor Hitze und Wut gerötetem Gesicht in der Tür erschien, stand Jonathan am Sofatisch und arrangierte die Schifferblumen, die auf dem Weg nach oben ein wenig von ihrer Makellosigkeit eingebüßt hatten.

Zunächst war sie zu wütend auf Daniel, als daß sie irgend etwas überraschen konnte. Und es beeindruckte ihn, daß sie wenigstens in ihrer Wut echt wirkte.

»Thomas, also wirklich, falls sie tatsächlich irgendwie Einfluß auf Daniel haben, dann bringen Sie ihm doch bitte bei, sich nicht so absolut idiotisch aufzuführen, wenn er sich mal weh tut. Ein lächerlicher Sturz, nichts verletzt außer seinem Stolz, und er stellt sich an - ach übrigens, Thomas, was zum Teufel machen Sie hier eigentlich?«

»Ich habe Ihnen Schifferblumen gebracht. Von unserer Klettertour gestern.«

»Warum haben Sie die Blumen nicht Miss Sue gegeben?«

»Ich wollte sie selbst arrangieren.«

»Sie hätten Sie arrangieren und dann Miss Sue unten geben können.«

Sie starrte auf das ungemachte Bett. Ihre Kleider von gestern auf der Chaiselongue. Die offene Badezimmertür. Daniel heulte noch immer »Halt's Maul, Daniel!« Ihr Blick kehrt zu Jonathan zurück. »Thomas, also wirklich, Blumen hin, Blumen her, ich finde das verdammt dreist von Ihnen.«

Immer noch dieselbe Wut. Du hast sie einfach von Daniel auf mich umgeschaltet, dachte er, während er weiter zerstreut an den Blumen herumfummelte. Plötzlich empfand er das starke Bedürfnis, sie zu beschützen. Die Dietriche drückten tonnenschwer auf seinen Oberschenkel, die Feuerzeug-Kamera fiel ihm praktisch aus der Hemdtasche, die Geschichte mit den Schifferblumen, nur für Esmeralda zurechtgebastelt, wurde immer fadenscheiniger. Dennoch dachte er nur an Jeds erschreckende Verwundbarkeit, nicht an seine eigene. Daniel hatte sein Geheul eingestellt und wartete jetzt auf die Wirkung.

»Warum rufen Sie denn nicht Ihre Schlägertypen?« Jonathan machte diesen Vorschlag weniger ihr als den Blumen. »Der Alarmknopf ist gleich neben Ihnen an der Wand. Oder, wenn Ihnen das lieber ist, nehmen Sie das Haustelefon. Wählen Sie die Neun, und ich werde für meine verdammte Dreistigkeit auf bewährte Weise bezahlen. Daniel macht keine Szene, weil er sich weh getan hat. Er will bloß nicht nach London zurück, und es gefällt ihm nicht, daß er Sie mit Caroline und ihren Kindern teilen muß. Er will Sie ganz für sich allein haben.«

»Verschwinden Sie«, sagte sie.

Aber nun war er wieder ruhig, nun sorgte er sich nur noch um sie, und das machte ihn überlegen. Das Training mit Übungsmunition war vorbei. Jetzt wurde scharf geschossen.

»Schließen Sie die Tür«, befahl er mit gedämpfter Stimme. »Kein guter Zeitpunkt zum Reden, aber ich muß Ihnen etwas sagen, und ich möchte nicht, daß Daniel es hört. Er bekommt ohnehin schon genug durch Ihre Schlafzimmerwand mit.«

Sie starrte ihn an, und er sah die Unsicherheit in Ihrem Gesicht. Sie schloß die Tür.

»Sie gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich denke Tag und Nacht an Sie. Das heißt nicht, daß ich verliebt in Sie bin. Ich schlafe mit Ihnen, ich wache mit Ihnen auf, ich kann mir nicht mal die Zähne putzen, ohne Ihre mitzuputzen, und die meiste Zeit streite ich mit Ihnen. Das ist weder logisch, noch macht es mir Spaß. Ich habe noch kein vernünftiges Wort von Ihnen gehört, und meistens reden Sie bloß affektiertes Zeug. Aber jedesmal, wenn ich an etwas Komisches denke, möchte ich, daß Sie darüber lachen, und wenn es mir schlechtgeht, will ich nur von Ihnen aufgeheitert werden. Ich weiß nicht, wer Sie sind, ob Sie überhaupt jemand sind. Oder ob Sie bloß zum Spaß hier sind, oder ob Sie total in Roper verliebt sind. Und ich bin sicher, Sie wissen es selber nicht. Ich halte Sie für völlig verkorkst. Aber das stößt mich nicht ab. Nicht im geringsten. Es macht mich ärgerlich, es macht mich zum Narren, am liebsten würde ich Ihnen den Hals umdrehen. Aber das ist nur die eine Seite.«

Das alles waren seine eigenen Worte. Er sprach für sich selbst und niemand anderen. Trotzdem konnte sich das rücksichtslose Waisenkind in ihm nicht enthalten, Jed wenigstens einen Teil der Schuld zuzuschieben. »Vielleicht hätten Sie mich nicht so freundlich pflegen, mir Mut machen, auf meinem Bett sitzen sollen. Sagen wir, es war Daniels Fehler, sich kidnappen zu lassen. Nein, sagen wir, es war meiner, mich zusammenschlagen zu lassen. Und Ihrer, mich so treuherzig anzusehen.«

Sie schloß ihre aufreizenden Augen und schien kurz zu schlafen. Dann machte sie die Augen wieder auf und hob eine Hand vors Gesicht. Hoffentlich hatte er sie nicht zu hart angegriffen und den sensiblen Bereich verletzt, den sie beide voreinander hüteten.

»Das ist die unverschämteste Sauerei, die ich jemals von irgendwem gehört habe«, sagte sie nach einer beträchtlichen Pause mit unsicherer Stimme.

Er ließ sie hängen.

»Thomas!« sagte sie, als flehe sie ihn um Unterstützung an.

Aber er kam ihr noch immer nicht zu Hilfe.

»Herrgott, Thomas... ach Scheiße. Thomas, das hier ist Ropers Haus!«

»Es ist Ropers Haus, uns Sie sind Ropers Mädchen, solange Sie das aushalten können. Mein Gefühl sagt mir, daß Sie es nicht mehr lange aushalten können. Roper ist ein Gangster, wie Caroline Langbourne Ihnen zweifellos berichtet hat. Er ist kein Freibeuter, kein Spieler, kein romantischer Abenteurer, er gehört in keine der Kategorien, in die Sie ihn eingeordnet haben, als Sie sich kennengelernt haben. Er ist ein Waffenschieber, und er hat auch etwas von einem Mörder.« Dann wagte er etwas Unerhörtes. Mit einem einzigen Satz brach er alle von Burr und Rooke aufgestellten Regeln: »Das ist der Grund, warum Leute wie Sie und ich ihm letztlich nachspionieren«, sagte er. »Überall in seinem Büro die fettesten Spuren hinterlassen. >Jed war hier.< >Jed Marshall, ihr Zeichen, ihr Haar zwischen seinen Papieren.< Er könnte Sie dafür umbringen. Ja. Schließlich ist er ein Mörder. Denken Sie daran.« Er verstummte, um die Wirkung seines indirekten Geständnisses abzuwarten, aber sie rührte sich nicht. »Ich sollte jetzt mit Daniel reden«, sagte er. »Wo hat er sich denn angeblich weh getan?«

»Weiß der Himmel«, sagte sie.

Als er ging, tat sie etwas Seltsames. Sie stand noch an der Tür und trat einen Schritt zurück, als er auf sie zukam, um ihn vorbeizulassen. Aber dann streckte sie aus einem Impuls heraus, für den sie wahrscheinlich selbst keine Erklärung gehabt hätte, die Hand aus, drückte die Klinke herunter und gab der Tür einen Stoß, als hätte Jonathan beide Hände voll und brachte Hilfe.

Daniel lag auf dem Bett und las in seinem Buch über Monster.

»Jed ist einfach durchgedreht«, erklärte er. »Ich hatte bloß einen Wutanfall. Aber Jed hat sich aufgeführt wie ein Berserker.«