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Die Iron Pasha, eintausendfünfhundert Tonnen, sechsundsiebzig Meter Länge, 1987 von Feadship in Holland nach den Angaben des gegenwärtigen Eigentümers gebaut, Innenausstattung von Lavinci in Rom, von zwei Zweitausend-PS-MWM-Dieselmotoren angetrieben und mit Vosper-Stabilisatoren, Immarisat-Satelliten-Telekommunikationssystem-Radar einschließlich Kollisionsschutz-Radar und Radardetektor ausgerüstet - ganz zu schweigen von Fax und Telex, einem Dutzend Kisten Dom Perignon und einer Stechpalme im Kübel für die bevorstehenden Weihnachtsfeierlichkeiten -, verließ mit der Morgentide Nelsons Dockyard in English Harbour auf der Antilleninsel Antigua und begab sich auf ihre Winterkreuzfahrt, die sie zu den Windward- und Grenadine-Inseln und von dort weiter über Blanquilla, Orchila und Bonaire schließlich nach Curacao führen sollte.

Am Hafen hatten sich einige der prominenteren Mitglieder von Antiguas vornehmen St. James Club versammelt, um sie zu verabschieden. Hupen und Schiffssirenen lärmten, man rief »Gute Fahrt« und »Amüsier dich ordentlich, Dicky, du hast es verdient«, während der allseits beliebte internationale Unternehmer Mr. Dicky Onslow Roper und seine elegant gekleideten Gäste winkend am Heck des auslaufenden Schiffes standen. Mr. Ropers persönlicher Wimpel mit dem glitzernden Kristall wehte am Hauptmast. Gesellschaftsbeobachter registrierten mit Genugtuung die bekannten Lieblinge des Jetset wie Lord (Sandy für seine Vertrauten) Langbourne Arm in Arm mit seiner Frau Caroline - womit die Gerüchte über ihre Trennung hinfällig waren -, und die zauberhafte Miss Jemima (Jed für ihre Freunde) Marshall, Mr. Ropers ständige Begleiterin seit über einem Jahr und berühmte Gastgeberin in Ropers Xanadu auf den Exumas.

Die anderen sechzehn Gäste waren eine handverlesene Schar internationaler Macher und Magnaten, darunter gesellschaftliche Schwergewichte wie Petros (Patty) Kaloumenos, der kürzlich versucht hatte, der griechischen Regierung die Insel Spetsai abzukaufen. Bunny Saltlake, die amerikanische Suppen-Erbin, der britische Rennfahrer Gerry Sandown mit seiner französischen Gattin und der amerikanische Filmproduzent Marcel Heist, dessen eigene Jacht Marceline sich zur Zeit in Bremerhaven in Bau befand. Kinder waren nicht an Bord. Gäste, die vorher noch nie auf der Iran Pasha gefahren waren, kamen während der ersten Tage nicht aus dem Entzücken über die luxuriöse Einrichtung heraus: die acht Kabinen, ausgestattet mit übergroßen Betten, Hifi-Anlage, Telefon, Farbfernseher, Redoute-Drucken und historischer Vertäfelung; der Salon im Stil King Edwards mit seiner sanften Beleuchtung, dem roten Plüsch, einem antiken Spieltisch und gewölbten, aus massivem Walnußholz gefertigten Nischen, in denen Bronzeköpfe aus dem achtzehnten Jahrhundert standen; das in Ahorn gehaltene Speisezimmer mit Waldgemälden nach Watteau; Swimmingpool, Whirlpool, Solarium und das italienische Achterdeck für zwanglose Zwischenmahlzeiten.

Von Mr. Derek Thomas aus Neuseeland schrieben die Klatschreporter freilich kein Wort. Er kam in den Werbeprospekten der Firma Ironbrand nicht vor. Er war nicht an Deck, um den Freunden an Land zum Abschied zu winken. Er kam nicht zum Essen, um die Reisegefährten mit seinen geistreichen Gesprächen zu unterhalten. Er befand sich in einem Raum der Pasha, der Herrn Meisters Weinkeller sehr ähnlich war; er lag gefesselt und geknebelt im Dunkeln, in entsetzlicher Einsamkeit, die nur unterbrochen wurde, wenn Major Corkoran und seine Gehilfen ihn besuchen kamen.

Zu den insgesamt zwanzig Mitgliedern von Besatzung und Personal der Pasha zählten der Kapitän, der Maat, ein Maschinist, ein Hilfsmaschinist, ein Koch für die Gäste, ein Koch für die Mannschaft, eine Oberstewardeß, eine Wirtschafterin, vier Matrosen und ein Zahlmeister. Ferner ein Pilot für den Hubschrauber und einer für das Wasserflugzeug. Das Sicherheitsteam wurde von den zwei Deutsch-Argentiniern verstärkt, die mit Jed und Corkoran aus Miami eingeflogen waren, und war genauso aufwendig ausgestattet wie das Schiff, das es beschützen sollte, denn die Tradition der Seeräuberei ist in jener Gegend keineswegs untergegangen. Mit seiner Bewaffnung konnte das Schiff einem längeren Feuergefecht auf See standhalten, plündernde Flugzeuge verjagen und feindliche Boote versenken, die sich längsseits wagten. Das Waffenlager war im vorderen Laderaum untergebracht; dort, hinter einer wasserdichten Stahltür, die wiederum von einem Eisengitter gesichert wurde, befanden sich auch die Quartiere des Sicherheitsteams. War dies der Ort, an dem Jonathan gefangengehalten wurde? Nach drei qualvollen Tagen auf See war Jed davon überzeugt. Doch als sie Roper danach fragte, schien er sie nicht zu hören, und als sie Corkoran fragte, streckte er das Kinn vor und zog die Stirn in strenge Falten.

»Stürmische Zeiten, meine Liebe«, zischte Corkoran durch die Zähne. »Laß dich sehen, aber nicht hören, rate ich dir. Kost und Logis und größte Zurückhaltung. Sicherer für alle Beteiligten. Beruf dich nicht auf mich.«

Die Verwandlung, die sie an Corkoran beobachtet hatte, war jetzt abgeschlossen. Seine frühere Faulheit war einer rattenhaftigen Geschäftigkeit gewichen. Er lächelte selten und kommandierte die männlichen Besatzungsmitglieder, ganz gleich, ob sie hübsch oder häßlich waren, mit barschem Ton herum. An seine vergammelte Smokingjacke hatte er sich eine Reihe Ordensbänder geheftet, und wann immer Roper einmal nicht in der Nähe war und ihm den Mund verbot, hielt er schwülstige Monologe über die Probleme dieser Welt.

Der Tag ihrer Ankunft in Antigua war für Jed der schlimmste ihres Lebens. Bis dahin hatte es schon viele schlimmste Tage gegeben - ihr katholisches Schuldgefühl hatte ihr bereits zu einigen verholfen. Da war zum Beispiel der Tag, an dem die Oberin in den Schlafsaal marschierte und ihr befahl, ihre Sachen zu packen, das Taxi warte bereits vor der Tür. Es war derselbe Tag, an dem ihr Vater sie in ihr Zimmer schickte, während er sich bei einem Priester Rat holte, was mit einer sechzehnjährigen Jungfrau und Hure anzufangen sei, die splitternackt im Geräteschuppen erwischt worden war, zusammen mit einem Dorfjungen, der sich vergeblich abmühte, sie zu deflorieren. Oder der Tag in Hammersmith, als zwei Jungen, mit denen sie nicht hatte schlafen wollen, sich erst betranken und dann gemeinsame Sache machten, einer hielt sie jeweils fest, während der andere sie vergewaltigte. Und schließlich die allzu wilden Tage in Paris, bevor sie über die Schlafenden direkt in Ropers Arme stieg. Aber der Tag, an dem sie in English Harbour auf Antigua an Bord der Pasha gegangen war, hatte alle anderen von der Anzeigetafel gewischt.

Im Flugzeug hatte sie sich hinter ihren Zeitschriften vor Corkorans spitzen Bemerkungen verstecken können. Auf dem Flughafen von Antigua hatte er ihr aufdringlich eine Hand unter den Arm geschoben, und als sie ihn abschütteln wollte, hatte er sie mit eisenhartem Griff festgehalten; unterdessen hefteten sich auch noch die beiden Blondschöpfe an ihre Fersen. In der Limousine saß Corkoran vorne, die beiden anderen zwängten sich rechts und links neben sie. Und als sie die Gangway der Pasha hochstieg, umringten sie die drei, zweifellos um Roper - falls er sie beobachtete - zu zeigen, daß sie seine Anweisungen befolgten. Dann brachten sie sie im Polizeigriff vor die Tür der Staatsgemächer, und sie mußte warten, während Corkoran anklopfte.

»Wer ist da?« fragte Roper von innen.

»Eine Miss Marshall, Chef. Heil und halbwegs gesund.«

»Bring sie rein, Corks«.

»Mit Gepäck, Chef, oder ohne?«

»Mit.«

Sie trat ein und sah Roper am Schreibtisch. Er wandte ihr den Rücken zu und blieb auch so sitzen, während ein Steward ihr Gepäck im Schlafzimmer abstellte und wieder verschwand. Roper las ein Schriftstück und strich gelegentlich etwas darin an. Ein Vertrag oder so was. Sie wartete, daß er fertig wurde oder unterbrach und sich zu ihr umdrehte. Oder daß er aufstand. Nichts davon. Er kam ans Ende der Seite, kritzelte etwas, vermutlich seine Initialen, schlug die nächste Seite auf und las weiter. Es war ein umfangreiches, getipptes Dokument, blau, mit rotem Bändchen und rot liniiertem Rand. Es waren noch etliche Seiten übrig. Er schreibt sein Testament,

dachte sie. Und meiner ehemaligen Geliebten Jed vermache ich einfach absolut alles...

Er trug seinen marineblauen, maßgeschneiderten seidenen Morgenmantel mit Schalkragen und karmesinrotem Schnurbesatz, und wenn er den anhatte, bedeutete es normalerweise, daß sie entweder gleich miteinander schlafen würden oder es gerade getan hatten. Beim Lesen wechselte er gelegentlich die Haltung der Schultern, als ob er spürte, daß sie sie bewunderte. Auf seine Schultern war er immer stolz gewesen. Sie stand noch immer. Zwei Meter von ihm entfernt. Sie trug Jeans und einen Westenpulli, dazu mehrere goldene Halsketten. Gold sah er gern an ihr. Der Teppich war braunrot und brandneu. Sehr kostspielig, sehr dick. Sie hatten ihn gemeinsam nach Mustern ausgesucht, vor dem Kamin in Crystal. Jonathan hatte sie beraten. Es war das erste Mal, daß sie den Teppich an Ort und Stelle sah.

»Störe ich?« fragte sie; er hatte sich noch immer nicht zu ihr umgedreht.

»Kaum«, erwiderte er, ohne den Kopf von den Papieren zu heben.

Sie saß auf einer Sesselkante und klammerte sich an die Gobelintasche auf ihrem Schoß. Sein Körper wirkte so übermäßig beherrscht und seine Stimme so angespannt, daß sie jeden Augenblick damit rechnete, er werde aufspringen und sie schlagen, wahrscheinlich in einer einzigen Bewegung: ein Sprung und ein mächtiger Rückhandschlag, der sie glatt außer Gefecht setzen würde. Sie hatte einmal einen italienischen Freund gehabt, der sie auf diese Weise für eine geistreiche Bemerkung bestraft hatte. Der Hieb hatte sie quer durchs ganze Zimmer geschickt. Eigentlich hätte sie zu Boden gehen müssen, aber ihr reiterisches Gleichgewicht half ihr, sich von der Wucht des Schlages erst ins Schlafzimmer, wo sie ihre Sachen zusammenraffte, und dann gleich weiter aus dem Haus befördern zu lassen.

»Ich habe Hummer bestellt«, sagte Roper, während er irgend etwas in dem Dokument abzeichnete. »Dachte mir, nach Corkys Schaueinlage bei Enzo bin ich dir einen schuldig. Du bist doch mit Hummer einverstanden?«

Sie antwortete nicht.

»Wie ich höre, hast du's mit Bruder Thomas getrieben. War's schön? Sein richtiger Name ist übrigens Pine. Für dich natürlich Jonathan.«

»Wo ist er?«

»Dachte mir, daß du danach fragst.« Blättere um. Hob den Arm. Rückte an der Halbbrille herum. »Läuft schon eine ganze Weile, wie? Schäferstündchen im Sommerhaus? Hose runter im Gebüsch? Ihr beide wart ganz schön gut, das muß man euch lassen. Bei dem ganzen Personal überall. Und ich bin ja auch nicht blöd. Habe nichts davon mitbekommen.«

»Falls man dir erzählt, ich hätte mit Jonathan geschlafen: Das ist nicht wahr.«

»Von Schlafen war nicht die Rede.«

»Er ist nicht mein Liebhaber.«

Dasselbe hatte sie zu der Oberin gesagt, erinnerte sie sich, hatte aber keinen sonderlichen Eindruck damit gemacht. Roper unterbrach seine Lektüre, drehte aber noch immer nicht den Kopf um.

»Was denn sonst?« fragte er. »Wenn ihr euch nicht geliebt habt, was dann?«

Wir lieben uns, gab sie benommen zu. Es war vollkommen gleichgültig, ob sie sich körperlich liebten oder irgendwie anders. Ihre Liebe zu Jonathan und ihr Verrat an Roper waren vollendete Tatsachen. Alles andere war, wie damals im Geräteschuppen, bloß eine Frage der Technik.

»Wo ist er?« fragte sie.

Zu beschäftigt mit Lesen. Eine Bewegung der Schultern, während wir mit unserem ellenlangen Mont Blanc etwas berichtigen.

»Ist er auf dem Schiff?«

Eine eisige Stille, das nachdenkliche Schweigen ihres Vaters. Aber ihr Vater hatte Angst, daß die Welt zum Teufel gehen würde, und der Ärmste hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, wie er sie daran hindern konnte. Wohingegen Roper sie noch dabei unterstützte.

»Behauptet, er habe das ganz alleine getan«, sagte Roper. »Stimmt das? Jed ist völlig unbeteiligt. Pine ist der Bösewicht,

Pine ist der Täter. Jed ist ein Unschuldslamm. Und viel zu dumm, weiß sowieso nicht, was sie will. Ende der Presseerklärung. Das Ganze allein sein Werk.«

»Wovon redest du?«

Roper schob den Füllfederhalter beiseite und erhob sich, wobei es ihm gelang, sie noch immer nicht anzusehen. Er durchquerte das Zimmer und drückte einen Knopf in der Wandvertäfelung. Die Türen des Getränkefachs glitten auf. Er öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche Dom heraus, entkorkte sie und goß sich ein Glas ein. Und dann machte er, anstatt sie direkt anzusehen, einen Kompromiß und sprach mit ihrem Spiegelbild im Innern des Schranks, das heißt mit dem, was er zwischen einer Reihe von Weinflaschen, den Vermouths und Camparis davon sehen konnte.

»Auch was?« fragte er beinahe zärtlich, wobei er die Flasche hob und sie ihrem Spiegelbild anbot.

»Wovon redest du? Was soll er getan haben?«

»Das sagt er nicht. Habe ihn darum gebeten, aber er schweigt. Was er getan hat, mit wem, warum, seit wann. Wer ihn bezahlt. Nichts. Könnte sich eine Menge Prügel ersparen, wenn er was sagte: Hast eine gute Wahl getroffen. Gratuliere.«

»Warum sollte er irgend etwas getan haben? Was machst du mit ihm? Laß ihn gehen.«

Er drehte sich um und ging auf sie zu; endlich sahen seine blassen, verwaschenen Augen sie direkt an, und jetzt war sie sicher, daß er sie schlagen würde, dann sein Lächeln war so unnatürlich entspannt, seine Haltung so betont gleichgültig, daß es in seinem Innern ganz anders aussehen mußte. Er trug noch immer seine Lesebrille, so daß er den Kopf senken mußte, um sie über den Rand hinweg anblicken zu können. Großmütig lächelnd, blieb er dicht vor ihr stehen.

»Dein Kavalier soll ein Unschuldsengel sein? Blütenweiß? Ein Saubermann? Totaler Quatsch, meine Liebe. Und ich habe ihn auch nur hier reingeholt, weil irgendein gekaufter Rüpel meinem Jungen eine Pistole an den Kopf gehalten hat. Du willst mir erzählen, daß er bei dem Ding nicht mitgespielt hat? Ist doch hirnverbrannt, Schätzchen. Zeig mir einen Heiligen, ich bezahl die Kerze. Bis dahin behalt ich mein Geld.« Der Sessel, auf dem sie saß, war gefährlich niedrig. Als Roper sich über sie beugte, waren seine Knie in Höhe ihres Kinns. »Habe über dich nachgedacht, Jeds. Mich gefragt, ob du wirklich so dumm bist, wie ich dachte. Ob ihr beide, du und Pine, nicht gemeinsame Sache macht. Wer hat wen bei der Pferdeauktion aufgegabelt, he? He?« Er zog sie am Ohr, machte einen bösen Scherz daraus. Frauen sind verdammt raffiniert. Sehr raffiniert. Auch wenn sie so tun, als hätten sie nur Stroh im Kopf. Machen dir weis, daß du selbst sie aussuchst, dabei suchen in Wirklichkeit sie dich aus. Bis du ein Spitzel, Jeds? Siehst nicht wie ein Spitzel aus. Eher wie eine verdammt hübsche Frau. Sandy meint, du bist ein Spitzel. Hätt's selbst gern mit dir getrieben. Corks wäre nicht überrascht, wenn du ein Spitzel wärst« - er grinste affektiert -, »und dein Liebhaber schweigt sich aus.« Bei jedem betonten Wort zog er sie am Ohr. Nicht schmerzhaft. Spielerisch. »Sei ehrlich, Jeds, ja, Schatz? Lach mit. Sei brav. Du bist ein Spitzel, hab ich recht? Ein Spitzel mit einem entzückenden Arsch, ja?«

Er nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und hob ihren Kopf, um sie anzusehen. Sie sah in seinen Augen die Belustigung, die sie so oft mit Freundlichkeit verwechselt hatte; und wieder einmal dachte sie, daß sie bei diesem Mann, den sie einst geliebt hatte, nur die Dinge gesehen hatte, an die sie glauben wollte, während sie das, was ihr nicht paßte, einfach ignoriert hatte.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte sie. »Ich habe mich von dir aufgabeln lassen. Ich hatte Angst. Du warst ein Engel. Du hast mir nie Unrecht zugefügt. Bis jetzt. Ich habe alles für dich getan. Das weißt du genau. Wo ist er?« fragte sie direkt in seine Augen.

Er ließ ihr Kinn los und ging, das Champagnerglas weit von sich haltend, durchs Zimmer.

»Gute Idee, Mädchen«, sagte er anerkennend. »Prima. Befrei ihn. Hol deinen Kavalier da raus. Steck ihm eine Feile ins Baguette. Schieb's ihm am Besuchstag durchs Gitter. Ein Jammer, daß du Sarah nicht mitgenommen hast. Dann könntet ihr zwei in den Sonnenuntergang reiten.« Keine Veränderung des Tonfalls. »Jeds, du kennst nicht rein zufällig eine Type namens Burr? Vorname Leonard? So ein Trampel aus Nordengland? Verschwitzte Achseln? Bibelfest? Schon mal über den Weg gelaufen? Es mit ihm getrieben? Hat sich vermutlich als Smith vorgestellt. Schade. Dachte, du kennst ihn vielleicht.«

»Ich kenne niemand, der so heißt.«

»Komisch. Pine auch nicht.«

Sorgfältig ihre Garderobe auswählend, zogen sie sich zum Essen um, Rücken an Rücken. Der offizielle Wahnsinn ihrer Tage und Nächte an Bord der Pasha hatte begonnen.

Die Menüs, Diskussion mit dem Steward und den Köchen. Mrs. Sandown ist Französin, deshalb wird ihre Meinung zu allem und jedem von der Küche als Evangelium betrachtet, obwohl sie selbst nur Salat ißt und schwört, von Essen keine Ahnung zu haben.

Wäsche. Wenn die Gäste nicht gerade essen, ziehen sie sich gerade um, baden und kopulieren, was zur Folge hat, daß sie täglich frische Laken, Handtücher, Kleider und Tischdecken brauchen. Ohne Küche und Wäscherei kann eine Jacht nicht fahren. Eine ganze Abteilung des Servicedecks besteht nur aus Waschmaschinen, Trocknern und Dampfbügeleisen, die zwei Stewardessen von morgens bis abends bedienen.    '

Frisuren. Die Seeluft wirkt sich verheerend auf die Frisuren der Passagiere aus. Jeden Nachmittag um fünf summen auf dem Gästedeck die Haartrockner, die die seltsame Eigenart haben, wenn die Gäste mit ihrer Toilette halb fertig sind, den Geist aufzugeben. Deshalb kann Jed damit rechnen, pünktlich um zehn vor sechs im Gangway auf irgendeine aufgebrachte, halb angezogene Dame mit der Frisur einer Klobürste zu stoßen, die ihr einen defekten Fön entgegenschwingt: »Jed, Schätzchen, wäre es wohl möglich?« - weil die Wirtschafterin inzwischen mit dem Überwachen der letzten Arbeiten am Eßtisch beschäftigt ist.

Blumen. Täglich fliegt das Wasserflugzeug die nächstgelegene Insel an, um Blumen, frischen Fisch, Meeresfrüchte, Eier und Zeitungen zu holen und Briefe zur Post zu geben.

Wobei Roper den größten Wert auf die Blumen legt; die Pasha ist berühmt für ihre Blumen, und der Anblick welker oder nicht angemessen arrangierter Blumen kann unter Deck zu erheblichen Erschütterungen Anlaß geben.

Freizeitgestaltung. Wo sollen wir anlegen, schwimmen, Schnorcheln; wen wollen wir besuchen; sollen wir zur Abwechslung einmal auswärts essen; sollen wir X mit dem Hubschrauber oder dem Flugzeug abholen oder dem Flugzeug abholen oder Y an Land bringen lassen? Die Gäste der Pasha sind nämlich keine feststehende Gruppe. Je nach vereinbarter Aufenthaltsdauer wechseln sie von Insel zu Insel, frisches Blut, neue Banalitäten, ein weiterer Schritt auf Weihnachten zu: »Wie schrecklich, so mit den Vorbereitungen im Rückstand, Schätzchen, ich habe noch nicht mal über meine Geschenke nachgedacht, und wird es nicht Zeit, daß du und Dicky endlich heiratet, ihr seid doch ein absolut entzückendes Paar?«

Und Jed fügt sich diesem wahnsinnigen Trott und wartet auf ihre Chance. Ropers Anspielung, eine Feile im Brot zu verstecken, ist nicht aus der Luft gegriffen. Sie würde, um in Jonathans Nähe zu gelangen, die fünf Wächter und Langbourne und sogar Corkoran vögeln, falls der das mit sich machen ließe.

Während sie wartet, spürt sie den demütigenden Zwang der Rituale ihrer strengen Kindheit und der Klosterschule - immer die Zähne zusammenbeißen und lächeln. Sie unterwirft sich; alles ist unwirklich, es tut sich aber auch nichts. Beides empfindet sie als Wohltat, für die sie dankbar ist, und sie kann weiter auf ihre Chance hoffen. Als Caroline Langbourne ihr einen Vortrag über die Wonnen ihrer Ehe mit Sandy hält, jetzt, wo diese kleine Schlampe von Kindermädchen wieder in London ist, sagt Jed mit verträumten Lächeln: »Ach Caro, Schatz, das freut mich ja so für euch beide. Und natürlich auch für die Kinder.« Als Caroline hinzufügt, sie habe wahrscheinlich ein paar absolut dämliche Sachen über Dickys und Sandys Geschäfte geäußert, inzwischen aber mit Sandy darüber gesprochen und müsse nun wirklich zugeben, daß sie manches einfach zu schwarz gesehen habe - und mal ehrlich, wie soll man denn heutzutage seine Brötchen verdienen, ohne sich die Finger ein ganz klein wenig schmutzig zu machen? -, nimmt Jed auch dies erfreut zur Kenntnis und versichert ihr, sie könne sich sowieso nicht erinnern, daß Caro auch nur ein Wort über diese Dinge gesagt habe; Geschäftskram, das gehe bei ihr zu einem Ohr hinein und zum andern heraus, und dafür danke sie Gott...

Und nachts schläft sie mit Roper und wartet auf ihre Chance.

In seinem Bett.

Nachdem sie sich in seiner Gegenwart an- und ausgezogen hat, seinen Schmuck getragen und seine Gäste bezaubert hat.

Die Begegnung findet meist in der Morgendämmerung statt, wenn ihr Wille, wie bei einem Sterbenden, am schwächsten ist. Er tastet nach ihr, und sofort reagiert Jed mit peinlicher Beflissenheit, denn sie sagt sich, daß sie damit Jonathans Unterdrücker die Zähne zieht, ihn zähmt, ihn besticht, Frieden mit ihm schließt, um Jonathan zu retten. Und auf ihre Chance wartet.

Denn das ist es, was sie während dieser ganzen wahnsinnigen Zeit des Schweigens, die sie seit ihrem ersten Schußwechsel miteinander verbringen, von Roper zu erlangen sucht: eine Chance, ihn zu überrumpeln. Über etwas so Weltbewegendes wie eine schlechte Olive können sie gemeinsam lachen. Aber selbst in der sexuellen Ekstase wird das einzige, das sie noch miteinander verbindet, nicht mehr erwähnt: Jonathan.

Wartet auch Roper auf etwas? Jed nimmt es an, da sie selbst wartet. Warum sonst klopft Corkoran zu den unmöglichsten Zeiten an die Kabinentür, steckt den Kopf herein, schüttelt ihn und verzieht sich wieder? In ihren Alpträumen tritt Corkoran als Jonathans Henker auf.

Sie weiß jetzt, wo er ist. Roper hat es ihr nicht gesagt, sondern sich bloß damit amüsiert zu beobachten, wie Jed die einzelnen Hinweise nach und nach zusammengesetzt. Und jetzt weiß sie es.

Als erstes bemerkt sie die ungewöhnliche Ansammlung im vorderen Teil des Schiffs, auf dem Unterdeck hinter den Gästekabinen: ein Knäuel von Männern, als sei dort ein Unfall passiert. Zu schließen ist daraus zunächst noch nichts, und im übrigen hat sie von diesem Teil des Schiffs nie eine klare Vorstellung gehabt. In den Tagen ihrer Unschuld hatte sie einmal gehört, dies sei der Sicherheitsbereich. Ein andermal war es das Lazarett. Auf diesem Teil des Schiffs haben weder die Gäste noch die Mannschaft Zutritt. Und da Jonathan selbst ja auch weder das eine noch das andere ist, meint Jed, das Lazarett sei der angemessene Ort für seine Unterbringung. Beunruhigt sucht sie immer wieder die Küche auf und sieht Tabletts mit Krankenkost, die sie nicht bestellt hat. Wenn sie weggebracht werden, sind sie voll. Wenn sie zurückkommen, sind sie leer.

Einmal kann sie Frisky abfangen und fragt ihn: »Ist jemand krank?«

Frisky hat jeden Respekt vor ihr verloren, falls er je welchen hatte. »Wieso das denn?« fragte er frech, das Tablett hochhaltend. Mit einer Hand.

»Und wer ißt dann dieses Schlabberzeug? - Joghurt? Hühnerbrühe - für wen ist das?«

Frisky tut so, als bemerkte er gerade zum erstenmal, was sich auf dem Tablett befindet. »Ach das, das ist für Tabby, Miss.« Er hat sie nie zuvor mit >Miss< angeredet. »Tabby hat ein bißchen Zahnschmerzen. Hat sich in Antigua einen Weisheitszahn ziehen lassen. Stark geblutet. Jetzt nimmt er Schmerzmittel. Ja.«

Sie bemüht sich darum herauszufinden, wer ihn besucht und wann. Ein Vorteil der Rituale, die ihr Verhalten bestimmen, besteht darin, daß die kleinsten Unregelmäßigkeiten auf dem Schiff ihr sofort auffallen; sie weiß instinktiv, ob die hübsche philippinische Stewardeß gerade mit dem Kapitän oder dem Bootsmann oder - wie es eines Nachmittags einmal kurz passiert ist, als Caroline auf dem Achterdeck ein Sonnenbad nahm - mit Sandy Langbourne gepennt hat. Sie hat beobachtet, daß Ropers drei Vertraute - Frisky, Tabby und Gus - in der Kabine über der geheimen Treppe schlafen, die in den Raum führt, den sie jetzt für Jonathans Zelle hält. Und daß die Deutsch-Argentinier auf der anderen Seite des Ganges dieses Geheimnis zwar ahnen dürften, aber nicht eingeweiht sind. Und daß Corkoran - der neue, aufgeblasene, aufdringliche Corkoran - mindestens zweimal am Tag dorthin marschiert, sich mit umständlichem Getue auf den Weg macht und dann gereizt wieder zurückkommt.

»Corky«, fleht sie ihn an, auf die alte Freundschaft spekulierend, »Corks, mein Lieber, bitte - um Gottes willen - wie geht es ihm, ist er krank? Weiß er, daß ich hier bin?«

Doch Corkorans Miene ist von der Finsternis, aus der er kommt, überschattet. »Ich habe dich gewarnt, Jed. Ich habe dir jede Chance gegeben«, entgegnet er verschnupft. »Du wolltest nicht auf mich hören. Du mußtest ja deinen Kopf durchsetzen.« Und verzieht sich wie ein beleidigter Büttel.

Auch Sandy Langbourne zählt zu den gelegentlichen Besuchern. Seine Stunde schlägt nach dem Abendessen, wenn er auf der Suche nach amüsanterer Gesellschaft als der seiner Frau an Deck herumschleicht.

»Du bist ein Arschloch, Sandy«, zischt sie ihn an, als er an ihr vorbeischlendert. »Ein absolut mieser dreckiger Scheißkerl.«

Langbourne nimmt diese Attacke unbeeindruckt zur Kenntnis. So etwas macht ihm nichts aus, dazu ist er zu schön und zu blasiert.

Und sie weiß, daß Jonathan noch einen Besucher hat: Roper, denn wenn Roper aus dem vorderen Bereich zurückkommt, ist er ungewöhnlich nachdenklich. Sie hat zwar nicht gesehen, daß er dorthin gegangen ist, merkt es aber an seinem Verhalten, wenn er wieder auftaucht. Wie Langbourne zieht er die Abendstunden vor. Erst ein Bummel an Deck, ein Schwatz mit dem Käpten, ein Telefonat mit einem seiner vielen Börsenmakler, Devisenhändler und Bankdirektoren rund um den Globus: Wie wär's mit einer kleinen Spekulation, Deutschmarks vielleicht, Bill? - Schweizer Fränkli, Jack? - Yen, Pfund, Escudo, malaiischer Kautschuk, russische Diamanten, kanadisches Gold? Über diese und ähnliche Zwischenstationen gerät er, wie unter dem Einfluß eines Magneten, allmählich auf den vorderen Teil des Schiffs. Und verschwindet. Wenn er wieder auftaucht, ist seine Miene umwölkt.

Aber Jed ist nicht so dumm, daß sie bettelt oder weint oder schreit oder sonst einen Skandal veranstaltet. Ein Skandal ist so ziemlich das einzige, was Roper gefährlich macht. Die unbefugte Verletzung seiner Selbstachtung. Dämliche Weiber, die heulend vor ihm herumkriechen.

Und sie weiß oder glaubt zu wissen, daß Jonathan jetzt dasselbe macht, was er in Irland versucht hat. Er tötet sich mit seinem eigenen Mut.

Es war besser als Herrn Meisters Keller, aber auch weit, weit schlimmer. Er mußte nicht ständig an schwarzen Wänden herumgehen. Und zwar deshalb nicht, weil er an sie gefesselt war. Er wurde nicht vernachlässigt, seine Anwesenheit war einer ganzen Reihe von aufmerksamen Leuten bekannt. Aber dieselben Leute hatten seinen Mund mit einem Ledertuch verstopft und mit Heftpflaster zugeklebt; es gab zwar eine Übereinkunft, nach der sie diese unangenehmen Dinge jedesmal entfernten, wenn er signalisierte, daß er zu sprechen wünschte, aber sie hatten ihm bereits die Konsequenzen klargemacht für den Fall, daß er dies leichtfertig signalisierte. Seitdem hatte er sich darauf verlegt, überhaupt nichts mehr zu sagen, nicht einmal »Guten Morgen«, oder »Hallo«, denn er hatte panische Angst davor, daß seine Neigung, sich irgendwelchen Leuten anzuvertrauen - wenn er bisher auch nur in seiner Eigenschaft als Hotelier dieser Neigung gefolgt war -, ihn ins Verderben stürzen würde: ein >Hallo< würde dann rasch zu einem >Ich habe Rooke die Nummern der Container und den Namen des Schiffes durchgegeben< - oder welches Geständnis ihm auch immer in der Qual des Augenblicks in den Sinn kommen mochte.

Aber was für ein Geständnis erwarteten sie von ihm? Gab es denn noch irgend etwas, das sie nicht schon wußten? Sie wußten, daß er ein Spitzel war und daß die meisten Geschichten über ihn erfunden waren. Auch wenn sie nicht wußten, wieviel er verraten hatte, wußten sie doch genug, daß sie ihre Aktionen ändern oder abbrechen konnten, bevor es zu spät war. Warum also drängten sie ihn so? Was frustrierte sie so? Im Lauf der immer heftigeren Sitzungen wurde Jonathan dann allmählich klar, daß sie meinten, sie hätten so etwas wie ein Recht auf sein Geständnis. Es war ihr Spion. Sie hatten ihn entlarvt. Ihr Stolz verlangte, daß Jonathan ein zerknirschtes Geständnis am Galgen ablegte.

Aber sie hatten ihre Rechnung ohne Sophie gemacht. Sie wußten nichts von seiner heimlichen Teilhaberin. Sophie, die das alles schon vor ihm durchgemacht hatte. Und jetzt bei ihm war und ihn über ihrem Kaffee - ägyptischen, bitte -anlächelte. Ihm verzieh. Ihn unterhielt: ihn ein bißchen verführte, ihn drängte, das Tageslicht zu suchen. Wenn sie ihn ins Gesicht schlugen - mit anhaltenden, sorgfältigen, aber verheerenden Schlägen -, verglich er sarkastisch sein Gesicht mit ihrem und erzählte ihr zur Ablenkung die ganze Sache mit dem irischen Jungen und der Heckler. Aber nichts Rührseliges, das konnte sie nicht ausstehen; sie aalten sich weder in Selbstmitleid, noch verloren sie ihren Sinn für Humor. Sie töten disse Frau? neckte sie ihn mit ihrem männlichen Lachen und zog die gezupften dunklen Augenbrauen hoch. Nein, er hatte diese Frau nicht getötet. Dieses Thema hatten sie längst hinter sich gebracht. Sie hatte sich seinen Bericht über seine Beziehung zu Ogilvey angehört; zuweilen lächelnd, zuweilen widerwillig die Stirn runzelnd, hatte sie ihn ausreden lassen. »Ich denke, Sie haben Ihre Pflicht getan, Mr. Pine«, erklärte sie, als er fertig war. »Leider gibt es sehr verschiedene Loyalitäten, denen wir nicht alle gleichzeitig genügen können. Wie mein Mann haben Sie sich für einen Patrioten gehalten. Das nächstemal werden Sie eine bessere Entscheidung treffen. Vielleicht wir beide gemeinsam.« Wenn Tabby und Frisky seinen Körper bearbeiteten - hauptsächlich, indem sie ihn in Stellungen fesselten, die anhaltende und qualvolle Schmerzen bereiteten -, erinnerte Sophie ihn daran, wie man auch ihren Körper vernichtet hatte: in ihrem Fall bis zur Vernichtung geprügelt hatte. Und wenn Jonathan ganz unten und fast eingeschlafen war und sich fragte, wie er aus der Gletscherspalte wieder herauskommen sollte, unterhielt er sie mit Erzählungen von schwierigen Klettertouren, die er im Oberland unternommen hatte - eine Nordwand der Jungfrau, die schlimm danebengegangen war; ein Biwak bei einem Sturm von hundertsechzig Stundenkilometern. Und falls Sophie sich langweilte, ließ sie sich nie etwas anmerken. Sie hörte ihm zu, ohne ihre großen braunen Augen von ihm abzuwenden, liebevoll und aufmunternd: Ich bin sicher, so billig werden Sie sich niemals mehr weggeben, Mr. Pine, hatte sie gesagt. Manchmal können unsere guten Manieren uns den Blick für unseren Mut verstellen. Haben Sie für den Rückflug nach Kairo etwas zu lesen dabei? Ich glaube, ich werde lesen. Das hilft mir, mich daran zu erinnern, daß ich ich selbst bin. Und dann war er zu seiner Überraschung wieder in der kleinen Wohnung in Luxor und sah ihr zu, wie sie einen Gegenstand nach dem anderen sehr überlegt in ihre Reisetasche packte, als wählte sie Gefährten für eine viel weitere Reise als nur nach Kairo aus.

Und natürlich war es Sophie, die ihm Mut machte, sein Schweigen zu bewahren. War sie selbst nicht gestorben, ohne ihn zu verraten?

Als sie das Pflaster abzogen und den Lederknebel entfernt hatten, folgte er Sophies Rat und verlangte Roper persönlich zu sprechen.

»Das hört man gern, Tommy«, sagte Tabby außer Atem von den Strapazen. »Du plauderst mit dem Chef. Und anschließend trinken wir alle ein schönes Bier wie in alten Zeiten.«

Und als es Roper dann beliebte, kam er angeschlendert -in Jachtkleidung und in den weißen Wildlederschuhen mit Kreppsohlen, die Jonathan in seinem Ankleidezimmer in Crystal bemerkt hatte - und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Und Jonathan ging durch den Kopf, daß Roper ihn zum zweitenmal mit zerschlagenem Gesicht erblickte und daß Ropers Miene jetzt denselben Ausdruck zeigte wie beim erstenmal: dasselbe Naserümpfen, dasselbe kritische Taxieren des Schadens und der Überlebenschancen Jonathans. Er fragte sich, wie Roper Sophie angesehen hätte, wenn er dabeigewesen wäre, als man sie zu Tode prügelte.

»Alles in Ordnung, Pine?« fragte er freundlich. »Keine Klagen? Zufrieden mit der Bedienung?«

»Die Betten sind ein wenig durchgelegen.«

Roper lachte gut gelaunt. »Kann nicht alles haben, nehme ich an. Jed vermißt Sie.«

»Dann schicken Sie sie mir.«

»Nicht der richtige Ort für sie, fürchte ich. Klosterschülerin. Mag ein behütetes Leben.«

Also erklärte Jonathan ihm, während seiner Vorgespräche mit Langbourne, Corkoran und den anderen sei immer wieder die Vermutung geäußert worden, daß Jed auf irgendeine Weise in Jonathans Aktivitäten verstrickt sei. Er müsse jedoch mit aller Entschiedenheit feststellen, daß er alles, was auch immer er getan habe, allein getan habe, ohne irgendeine Unterstützung durch Jed. Und daß die wenigen Besuche, die Jed ihm in Woodys Haus abgestattet habe, als Caroline Langbourne sie zu Tode langweilte und er selbst so einsam war, viel zu sehr aufgebauscht worden seien. Abschließend bekundete er sein Bedauern darüber, keine weiteren Aussagen machen zu können. Roper, sonst so schlagfertig, schien für eine Weile sprachlos.

»Ihre Leute haben meinen Sohn gekidnappt«, sagte er schließlich. »Sie haben sich in mein Haus eingeschlichen und mir die Frau ausgespannt. Sie haben versucht, mein Geschäft auffliegen zu lassen. Ist mir doch scheißegal, ob Sie reden oder nicht. Sie sind tot.«

Also geht es um Strafe, nicht bloß um ein Geständnis, dachte Jonathan, als sie ihn wieder knebelten. Und er fühlte sich Sophie noch stärker verwandt, falls das überhaupt möglich war. Ich habe Jed nicht verraten, erzählte er ihr. Und werde es auch nicht tun, das verspreche ich. Ich werde so standhaft bleiben wie Herr Kaspar mit seiner Perücke.

Herr Kaspar hat eine Perücke getragen?

Aber hab ich Ihnen das nicht erzählt? Großer Gott! Herr Kaspar ist ein Schweizer Held! Er hat auf zwanzigtausend steuerfreie Franken im Jahr verzichtet, nur um sich selbst treu zu bleiben!

Sie haben recht, Mr. Pine, stimmte Sophie ihm feierlich zu,

nachdem sie sich alles, was er ihr zu sagen hatte, aufmerksam angehört hatte. Sie dürfen Jed nicht verraten. Sie müssen stark sein wie Herr Kaspar und dürfen auch sich selbst nicht verraten. Und jetzt legen Sie bitte Ihren Kopf an meine Schulter, so wie Sie es mit Jed machen, und dann wollen wir schlafen.

Von da an blieben alle Fragen, ob einzeln oder geballt dargestellt, unbeantwortet; gelegentlich sah Jonathan Roper wieder auf demselben Stuhl sitzen, allerdings nicht mehr in den weißen Wildlederschuhen. Und immer stand Sophie hinter ihm, nicht rachsüchtig, sondern nur, um Jonathan daran zu erinnern, daß sie sich in Gegenwart des schlimmsten Mannes der Welt befanden.

»Die werden Sie umbringen, Pine«, warnte Roper ihn einige Male. »Corky wird über die Stränge schlagen, und dann ist es aus. Diese Schwulen sind unberechenbar. Ich rate Ihnen, geben Sie auf, ehe es zu spät ist.« Dann lehnte er sich zurück und zeigte jenen Ausdruck persönlicher Enttäuschung, die wir alle empfinden, wenn wir einem Freund einfach nicht helfen können.

Dann tauchte Corkoran wieder auf und saß ungeduldig nach vorn gebeugt auf demselben Stuhl. Er feuerte seine Fragen wie Befehle ab und zählte, auf eine Antwort wartend, bis drei. Und bei drei machten sich Frisky und Tabby wieder an die Arbeit, so lange, bis Corkoran es satt hatte oder zufrieden war:

»Also, wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, mein Lieber. Ich schlüpfe jetzt in meinen paillettenbesetzten Sari, steck mir einen Rubin in den Nabel und lasse mir ein paar Pfauenzungen schmecken«, sagte er und katzbuckelte grinsend zur Tür. »Schade, daß du nicht mitfeiern kannst. Aber was soll man machen, wenn du nicht für dein Essen singen willst?«

Nach einer Weile hielt es niemand mehr, nicht einmal Corkoran, lange bei ihm aus. Wenn ein Mann nicht reden will und entschlossen an diesem Vorsatz festhält, wird die Sache bald eintönig. Nur Jonathan, der mit Sophie seine Innenwelt durchstreifte, empfand so etwas wie Befriedigung. Er besaß nichts, was er nicht besitzen wollte, sein Leben war in Ordnung, er war frei. Er gratulierte sich dazu, seine alten Schulden beglichen zu haben. Sein Vater, seine Mutter, seine Waisenhäuser, die singende Tante Annie, sein Land, seine Vergangenheit und Burr - er hatte sie alle vollständig und prompt ausgezahlt. Was seine diversen Gläubigerinnen anging, so kamen die mit ihren Vorwürfen nicht mehr an ihn heran.

Und Jed? Nun, es war schon ziemlich wunderbar, im voraus für Sünden zu bezahlen, die erst noch begangen werden mußten. Hintergangen hatte er sie natürlich - bei Mama Low; er hatte sich verstellt, um in die Burg zu gelangen -, aber er hatte das Gefühl, daß er auch Jed gerettet hatte. Sophie sah das genauso.

»Und Sie meinen nicht, zu oberflächlich?« fragte er Sophie wie ein junger Mann, der eine kluge Frau wegen seiner Geliebten um Rat fragt.

Sie tat, als sei sie ihm böse. »Mr. Pine, ich denke, Sie spielen ein wenig den Charmeur. Sie sind verliebt. Sie sind kein Archäologe. Ihre Jed hat etwas an sich, das unberührt geblieben ist. Sie ist schön und ist es daher gewohnt, umworben und bewundert und manchmal auch mißhandelt zu werden. Das ist normal.«

»Ich habe sie nicht mißhandelt«, erwiderte Jonathan.

»Aber auch nicht umworben. Sie ist Ihrer nicht gewiß. Sie kommt zu Ihnen, weil sie Ihre Anerkennung braucht. Aber die verweigern Sie. Warum?«

»Aber Madame Sophie, was glauben Sie, was sie mir mit macht?«

»Sie beide verbindet ein Zwiespalt, sie ärgern sich darüber. Auch das ist normal. Das ist die andere Seite der Anziehungskraft. Sie beide haben bekommen, was Sie wollten. Jetzt ist es an der Zeit herauszufinden, was Sie damit anfangen wollen.«

»Ich bin einfach nicht bereit für sie. Sie ist so banal.«

»Sie ist nicht banal, Mr. Pine. Und ich bin sicher, daß Sie nie für jemanden bereit sein werden. Aber sie sind nun einmal verliebt, und das wär's. Jetzt wollen wir schlafen. Sie haben zu arbeiten, und wenn wir die Reise vollenden wollen, werden wir alle unsere Kräfte brauchen. War die Brausebehandlung so schlimm, wie Frisky angekündigt hat?« »Schlimmer.«

Wieder wäre er beinahe gestorben, und als er aufwachte, war Roper da und lächelte interessiert. Aber Roper war kein Bergsteiger und konnte Jonathans unbeirrbare Zielstrebigkeit nicht nachvollziehen: Ich steige doch auf Berge, erklärte er Sophie, um den Gipfel zu erreichen. Andererseits hatte der Hotelier in ihm volles Verständnis für einen Mann, der vor allen Gefühlen davongelaufen war. Jonathan wollte Roper wirklich die Hand reichen und ihn mit einer freundschaftlichen Geste zu sich in den Abgrund ziehen, damit der Chef wirklich einmal eine Vorstellung davon bekam, wie das war: du, der du so stolz darauf bist, an nichts zu glauben, und ich hier unten mit meinem unversehrten Glauben an alles.

Dann nickte er für eine Weile ein, und als er aufwachte, war er am Lanyon; er ging mit Jed auf dem Kliff spazieren und fragte sich nicht mehr, wer hinter der nächsten Ecke auf ihn wartete, sondern war zufrieden mit sich und dem Menschen an seiner Seite.

Aber noch immer weigerte er sich, mit Roper zu sprechen.

Inzwischen war seine Weigerung mehr als ein Gelübde. Es war sein Kapital, sein Trumpf.

Der Akt des Schweigens verlieh ihm neue Kräfte.

Jedes Wort, das er nicht sagte, jede Faust, jeder Fuß, jeder Ellbogen, die ihn brutal in den Schlaf wiegten, jeder neue, jeder einzelne Schmerz - all das versorgte ihn mit frischer Energie, die er für einen künftigen Tag zu horten hatte.

Wenn der Schmerz unerträglich wurde, sah er sich selbst, wie er sich ihm entgegenstreckte, um seine lebensspendende Kraft zum empfangen und zu speichern.

Und das funktionierte. Im Schutz seiner Qualen sammelte der Beobachter in Jonathan die für seinen Einsatz erforderlichen Informationen und legte sich einen Plan zurecht, wie er seine geheimen Energien freisetzen konnte.

Niemand trägt eine Waffe, dachte er. Sie halten sich an die Regeln aller guten Gefängnisse. Wächter tragen keine Waffen.