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Wieder hob Herr Kaspar sein berühmtes Haupt. Durch das Hämmern des Sturms ließ sich das dezente Brummen eines kraftvollen Motors vernehmen. Herr Kaspar rollte seine Bulletins von der belagerten Zürcher Börse zusammen und schlang einen Gummi darum. Er legte die Rolle in seine Investmentschublade, verschloß sie und nickte dem Chefpagen Mario zu. Behutsam zog er einen Kamm aus der hinteren Hosentasche und ließ ihn durch seine Perücke gleiten. Mario bedachte Pablo mit einem finsteren Blick, und der wiederum grinste Benito an, den lächerlich hübschen Lehrling aus Lugano, dessen zärtliche Gefühle vermutlich ihnen beiden gleichermaßen galten. Alle drei hatten im Foyer Schutz gesucht, nun aber traten sie mit romanischem Wagemut dem Sturm entgegen, knöpften ihre Capes am Kragen zu, packten ihre Schirme und Kofferkulis und verschwanden im Schneegestöber.

Es ist nie geschehen, dachte Jonathan, während er genau die Ankunft des Wagens beobachtete. Da ist nur der Schnee, der über den Vorplatz fegt. Es ist ein Traum.

Aber Jonathan träumte nicht. Die Limousine war real, auch wenn sie auf einem weißen Vakuum schwebte. Ein langgestreckter Wagen, länger als das Hotel, hatte vor dem Eingang angelegt wie ein schwarzer Ozeanriese am Pier; die Pagen in ihren Capes sprangen eilig umher, um ihn festzumachen, das heißt alle bis auf den impertinenten Pablo, der in einem inspirierten Augenblick einen Curlingbesen aufgestöbert hatte und jetzt mit viel Gefühl die Schneeflocken vom roten Teppich kehrte. Für einen letzten glücklichen Moment war es wahr, ein Schneeschwall wischte alles weg, und Jonathan konnte sich vorstellen, eine Flutwelle hätte das Schiff ins Meer zurückgerissen, wo es an den Klippen der umliegenden Berggipfel gesunken wäre, so daß Mr. Richard Onslow Roper und seine offiziell genehmigten Leibwächter, und wer sonst noch zu diesen sechzehn Leuten gehören mochte, mit ihrer privaten Titanic im denkwürdigen Großen Sturm vom Januar 1991 bis auf den letzten Mann ertrunken wären, Gott sei ihren Seelen gnädig.

Aber der Wagen war wieder aufgetaucht. Pelze, gutgebaute Männer, eine schöne langbeinige junge Frau, Diamanten und goldene Armbänder und ganze Türme schwarzer Koffer ergossen sich wie Beutegut aus seinem luxuriösen Inneren. Eine zweite Limousine hielt dahinter, nun eine dritte. Ein ganzer Konvoi von Limousinen. Schon bewegte Herr Kaspar die Drehtür in der für das Eintreten der Gäste günstigsten Geschwindigkeit. Als erstes erschien hinter dem Glas ein unordentlicher brauner Kamelhaarmantel und wurde behutsam ins Blickfeld gedreht, über dem Kragen hing ein schmieriger Seidenschal, darüber eine durchnäßte Zigarette und der verquollene Blick eines Sprößlings der englischen Oberschicht. Gewiß kein fünfzigjähriger Apoll.

Nach dem Kamelhaarmantel erschien ein marineblauer Blazer, ein Twen, der Blazer einreihig, um bequem an die Pistole zu kommen, die Augen waren flach, wie aufgemalt. OBG Nummer eins, dachte Jonathan, der den boshaften Blicken auswich: fehlt noch einer, und wenn Roper Angst hat, noch ein dritter.

Die schöne Frau hatte kastanienbraunes Haar und trug einen bunten wattierten Mantel, der ihr fast bis auf die Füße reichte; dennoch gelang es ihr, ein wenig zu leicht angezogen zu wirken. Sie hatte Sophies eigenartige schiefe Haltung, und ihr Haar, wie das Sophies, hing zu beiden Seiten des Gesichts herunter. Die Frau von jemandem? Die Geliebte? Von allen? Zum erstenmal seit sechs Monaten spürte Jonathan die verheerende, unsinnige Macht einer Frau, die er augenblicklich begehrte. Wie Sophie glitzerte sie von Juwelen und wirkte auch angezogen irgendwie nackt. Zwei Reihen phantastischer Perlen betonten ihren Hals. Diamantenbesetzte Armbänder sahen aus ihren wattierten Ärmeln hervor. Doch was sie unmittelbar als Bewohnerin des Paradieses auswies, war ihre undefinierbare wilde Ausstrahlung, dieses ungezähmte Lächeln, dieses unbefangene Auftreten. Wieder schwang die Tür auf, und diesmal strömten alle gleichzeitig hinein, so daß plötzlich eine Delegation des letzten Rests der englischen Wohlstandsgesellschaft unter dem Kronleuchter aufgereiht war: Sie alle waren so elegant und gepflegt, so von der Sonne begünstigt, daß sie eine kollektive Moral zu verkörpern schienen, die Krankheit, Armut, blasse Gesichter, Alter und körperliche Arbeit für ungesetzlich erklärte. Nur der Kamelhaarmantel mit seinen erbärmlich zugerichteten Wildlederstiefeln gab sich freiwillig als Außenseiter zu erkennen.

Und in ihrer Mitte und doch abseits von ihnen: der Mann, genau so, wie Jonathan sich den Mann nach Sophies wütender Beschreibung vorgestellt hatte. Groß und schlank und auf den ersten Blick von Adel. Blondes Haar mit grauen Strähnen, nach hinten gekämmt und mit kleinen abstehenden Büscheln über den Ohren. Ein Gesicht, gegen das man beim Kartenspiel verliert. Eine Körperhaltung, die arrogante Engländer zur Meisterschaft entwickelt haben: ein Knie leicht angewinkelt, eine Hand auf dem Kolonialherrenarsch. Freddie ist so schwach, hatte Sophie erklärt. Und Roper ist so englisch.

Wie alle gewandten Männer tat Roper mehrere Dinge auf einmal: Er schüttelte Kaspar die Hand, klopfte ihm mit der gleichen Hand auf den Oberarm und warf dann Fräulein Eberhardt eine Kußhand zu; sie lief rosa an und winkte ihm zu wie ein Groupie im Klimakterium. Schließlich heftete er seinen Herrscherblick auf Jonathan, der inzwischen auf ihn zugeschlendert sein mußte, obwohl er selbst dies nur daraus schließen konnte, daß er statt Adeles nackter Schaufensterpuppe zuerst den Zeitungsstand, dann Fräulein Eberhardts rotes Antlitz am Empfangstisch und jetzt den Mann selbst vor sich sah.

Er ist skrupellos, hatte Sophie gesagt. Er ist der schlimmste Mann der Welt.

Er hat mich erkannt, dachte Jonathan und wartete auf seine Entlarvung. Er hat mein Foto gesehen, hat meine Beschreibung gehört. Gleich hört er auf zu lächeln.

»Ich bin Dick Roper«, verkündete eine träge Stimme; Jonathan fühlte, wie seine Hand umfaßt und kurz festgehalten wurde. »Meine Leute haben hier ein paar Zimmer gebucht. Das heißt, 'ne ganze Menge. Guten Abend.« Belgravia-Tonfall, der proletarische Akzent der Superreichen. Sie waren einander unangenehm nahe gekommen.

»Sehr erfreut, Sie zu sehen, Mr. Roper«, murmelte Jonathan, ebenfalls auf englisch. »Ich heiße Sie willkommen, Sir. Sie Ärmster, Sie müssen ja einen absolut gräßlichen Flug hinter sich haben. Welch ein Mut, sich überhaupt in die Luft zu wagen! Außer Ihnen hat das niemand getan, kann ich Ihnen versichern. Mein Name ist Pine, ich bin der Nacht-Manager.«

Er hat von mir gehört, dachte er. Freddie Hamid hat ihm meinen Namen genannt.

»Und was treibt der alte Meister im Augenblick so?« fragte Roper, während sein Blick zu der schönen Frau herüberglitt. Sie stand am Zeitungskiosk und deckte sich mit Modejournalen ein. Über die eine Hand rutschten ihr dauernd die Armbänder, mit der anderen strich sie sich unablässig die Haare zurück. »Liegt mit seiner Ovomaltine und einem Buch im Bett, stimmt's? Ich hoffe, es ist ein Buch, muß ich sagen. Jeds, was machst du, Darling? Liebt Zeitschriften über alles. Süchtig. Ich selbst kann das Zeug nicht ausstehen.«

Jonathan brauchte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, daß mit Jeds die Frau gemeint war. Jed war also kein Mann im Singular, sondern Jeds eine einzige Frau in ihrer ganzen Vielfältigkeit. Der kastanienbraune Kopf drehte sich so weit um, daß sie ihr Lächeln sehen konnten. Es war schelmisch und gutmütig.

»Alles in Ordnung mit mir, Darling«, sagte sie tapfer, als erholte sie sich von einem Tiefschlag.

»Herr Meister ist heute abend leider unabkömmlich, Sir«, sagte Jonathan, »aber er freut sich schon sehr darauf, Sie morgen früh, wenn Sie sich ausgeruht haben, begrüßen zu dürfen.«

»Sie sind Engländer, Pine? Hört sich so an.«

»Durch und durch, Sir.«

»Kluger Kerl.« Der blasse Blick schweift wieder weiter, diesmal zur Rezeption, wo der Kamelhaarmantel für Fräulein Eberhardt Formulare ausfüllt. »Machst du der jungen Dame einen Heiratsantrag, Corky?« rief Roper. »Das möcht ich erleben«, bemerkt er in leiserem Ton zu Jonathan. »Major Corkoran, mein Assistent«, verrät er ihm anzüglich.

»Gleich fertig, Chef!« brummt Corky und hebt einen Kamelhaarärmel. Er steht breitbeinig und mit vorgeschobenem Oberkörper da, wie jemand, der zu einem Krocketschlag ansetzt, und seine Hüfte hat, von Natur aus oder mit Absicht, einen gewissen femininen Schwung. Neben ihm liegt ein Packen Pässe.

»Mußt doch bloß ein paar Namen abschreiben, Herrgott. Keinen Fünfzig-Seiten-Vertrag, Corks.«

»Die neuen Sicherheitsvorschriften, Sir, bedaure«, erklärte Jonathan. »Die Schweizer Polizei besteht darauf. Wir können nichts dagegen machen.«

Die schöne Jeds hat drei Zeitschriften ausgewählt, braucht aber noch mehr. Sie stützt einen leicht abgetragenen Stiefel nachdenklich auf dem hohen Absatz ab, die Spitze zeigt in die Luft. Genau wie Sophie. Mitte Zwanzig, denkt Jonathan. Bis an ihr Lebensende.

»Schon länger hier, Pine? Letztesmal noch nicht, stimmt's, Frisky? Ein einzelner junger Brite war uns doch aufgefallen.«

»Ausgeschlossen«, sagte der Blazer, der Jonathan durch ein imaginäres Zielfernrohr anstarrte. Blumenkohlohren, stellte Jonathan fest. Haare blond, fast schon weiß. Hände wie Äxte.

»Ich bin seit sechs Monaten hier, Mr. Roper, fast auf den Tag genau.«

»Und wo waren Sie vorher?«

»Kairo«, antwortete Jonathan leichthin. »Im Queen Nefertiti.« Zeit vergeht, wie die Zeit vor einer Detonation. Aber die Zierspiegel im Foyer zerspringen nicht bei der Nennung des Queen Nefertiti Hotels, die Pilaster und Kronleuchter bleiben an ihrem Platz.

»Schön da, wie?«

»Wunderbar.«

»Weshalb sind Sie dann fortgegangen, wenn's Ihnen so gefallen hat?«

Na, Ihretwegen eigentlich, denkt Jonathan. Sagte aber: »Aus Fernweh, nehme ich an, Sir. Sie wissen doch, wie das ist. Das Nomadenleben ist eine der Attraktionen unseres Berufs.«

Plötzlich geriet alles in Bewegung. Corkoran hatte sich vom Empfangstisch gelöst und kam, die Zigarette von sich gestreckt, auf sie zugestelzt. Jeds hatte ihre Zeitschriften ausgesucht und wartete nun, Sophiehaft, daß jemand sie für sie bezahlte. Corkoran sagte: »Setzen Sie's auf die Zimmerrechnung, mein Lieber.« Herr Kaspar legte dem zweiten Blazer einen Stapel Post in die Arme, und der begann demonstrativ, die dickeren Päckchen mit den Fingerspitzen abzutasten.

»Wird aber auch Zeit, Corks. Was zum Teufel ist mit deiner Schreibhand los?«

»Wichskrampf, würde ich sagen, Chef«, erklärte Major Corkoran. »Handgelenk ausgeleiert«, fügte er hinzu und bedachte Jonathan mit einem eigenartigen Lächeln.

»O Corks», kicherte Jeds.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Jonathan, wie der Chefpage Mario einen Kofferstapel zum Lastenaufzug schob, wobei er jenen Watschelgang zum Einsatz brachte, mit dem Gepäckträger sich dem unzuverlässigen Gedächtnis ihrer Kunden einzuprägen hoffen. Dann sah er in den Spiegeln sein eigenes Bild bruchstückhaft an sich vorbeiziehen, neben sich Corkoran, der in einer Hand die Zigarette und in der anderen die Zeitschriften hielt; und Jonathan erlaubte sich ein paar Sekunden diensteifriger Panik, weil er Jeds aus den Augen verloren hatte. Er drehte sich um und sah sie, ihre Blicke begegneten sich, und sie schenkte ihm ein Lächeln, also das, was er sich in seiner alarmierend wiedererwachten Lust ersehnt hatte. Er begegnete auch Ropers Blick, denn sie hing an seinem Arm, hielt diesen in ihren langen Händen, während sie ihm fast auf die Füße trat. Leibwächter und Wohlstandsgesellschaft zuckelten hinter ihnen her. Jonathan bemerkte einen blonden Schönling mit Pferdeschwanz, neben ihm ein schlichtes Weib mit finsterem Blick.

»Die Piloten kommen später nach«, sagte Corkoran gerade. »Irgendein Scheiß mit dem Kompaß. Wenn es nicht der Kompaß ist, tut's die Klospülung nicht. Sind Sie hier fest angestellt, mein Lieber, oder nur für eine Nacht?«

Sein Atem verriet, was er an diesem Tag Gutes genossen hatte: die Martinis vorm Essen, die verschiedenen Weine dazu, die Cognacs danach, und obendrauf seine stinkenden französischen Zigaretten.

»Nun, ich denke, so fest, wie man in diesem Beruf fest angestellt sein kann, Major«, erwiderte Jonathan und veränderte gegenüber dem Untergebenen ein wenig den Tonfall.

»Das gilt für uns alle, mein Lieber, glauben Sie mir«, sagte der Major inbrünstig. »Vorläufig fest, Herrgott.«

Wieder ein Filmschnitt, und sie schritten durch den großen Saal, in dem zwei alte Damen in grauer Seide dem Klavierspieler Maxie lauschten, der >When I Take My Sugar To Tea< für sie spielte. Roper und die Frau hielten sich noch immer in den Armen. Ihr kennt euch noch nicht lange, sagte Jonathan bitter aus den Augenwinkeln zu ihnen. Oder ihr versöhnt euch nach einem Streit. Jeds, wiederholte er bei sich. Er sehnte sich nach der Sicherheit seines Einzelbetts.

Dann wieder ein Schnitt, und sie standen zu dritt hintereinander, vor der kitschigen Tür von Herrn Meisters neuem Turmsuitenlift; im Hintergrund schnatterte die Wohlstandsgesellschaft.

»Was zum Teufel ist aus dem alten Lift geworden, Pine?« wollte Roper wissen. »Ich dachte, Meister wäre verrückt auf alte Sachen. Diese dämlichen Schweizer würden glatt noch Stonehenge modernisieren, wenn sie könnten. Hab ich recht, Jeds?«

»Roper, du kannst doch wegen einem Lift keine Szene machen«, sagte sie vorsichtig.

»Und ob ich das kann.«

Aus weiter Ferne hört Jonathan eine Stimme, sie ist seiner eigenen nicht unähnlich und zählt die Vorzüge der neuen Lifts auf: eine Sicherheitsmaßnahme, Mr. Roper, aber auch eine zusätzliche Attraktion, im vorigen Herbst einzig zur Bequemlichkeit unserer Turmsuitengäste eingebaut... Und während Jonathan redet, baumelt zwischen seinen Fingern der goldene Hauptschlüssel, der nach Herrn Meisters eigenem Entwurf angefertigt wurde und der mit einer goldenen Quaste und einer reichlich albernen goldenen Krone verziert ist.

»Ich meine, erinnert Sie das nicht an die Pharaonen? Gewiß, es ist ziemlich abscheulich, aber ich kann Ihnen versichern, daß unsere weniger kultivierten Gäste ganz entzückt davon sind«, verrät er mit einem manierierten Lächeln, das er noch nie zuvor bei irgendwem angewandt hat.

»Nun, ich finde es hinreißend«, sagte der Major aus dem Off. »Und ich bin verdammt kultiviert.«

Roper balanciert den Schlüssel auf der Handfläche, als veranschlage er sein Schmelzgewicht. Er betrachtet genau beide Seiten, dann die Krone, dann die Quaste.

»Taiwan«, verkündet er und wirft ihn zu Jonathans Bestürzung dem blonden Blazer mit den Blumenkohlohren zu; der bückt sich blitzschnell, schreit »Meiner«! und schnappt den Schlüssel mit der linken Hand.

9-mm-Automatik-Beretta, gesichert, stellt Jonathan fest. Ebenholzgriff, Halfter in der rechten Achselhöhle. Ein linkshändiger OBG mit einem Ersatzmagazin in der Gürteltasche. »Ah, guter Einsatz, Frisky, Schatz. Gut gefangen«, brummt Corkoran. Erleichtertes Lachen der betuchten Außenfeldspieler, angeführt von der Frau, die Ropers Arm drückt und ehrlich, Darling sagt, obwohl sich das in Jonathans dröhnendem Ohr zuerst wie närrisch, Darling anhört.

Jetzt läuft alles in Zeitlupe ab, geschieht alles unter Wasser. Der Lift faßt nur fünf Personen, der Rest muß warten. Roper schreitet hinein und zieht die Frau hinter sich her. Nobelinternat und Mannequin-Ausbildung, denkt Jonathan. Und ein Spezialkurs, den Sophie ebenfalls absolviert hat, wie man beim Gehen mit den Hüften wackelt. Dann Frisky, dann Major Corkoran ohne Zigarette, schließlich Jonathan. Ihr Haar ist nicht nur kastanienbraun, sondern auch weich. Und sie ist nackt. Das heißt, sie hat ihren wattierten Mantel ausgezogen und ihn sich wie einen Militärmantel über den Arm gehängt. Sie trägt ein weißes Herrenhemd mit Sophies bauschigen Ärmeln, die bis zu den Ellbogen hochgekrempelt sind. Jonathan setzt den Lift in Gang. Corkoran starrt mißbilligend nach oben wie ein Mann beim Pinkeln. Die Hüfte des Mädchens lehnt locker und unbekümmert an Jonathans Seite. Verschwinde, würde er ihr gern gereizt sagen. Wenn du flirtest, laß es. Wenn du nicht flirtest, zieh die Hüfte weg. Sie duftet nicht nach Vanille, sondern nach den weißen Nelken von der Gedenkfeier in der Kadettenschule. Roper steht hinter ihr, seine breiten Hände liegen besitzergreifend auf ihren Schultern.  Frisky betrachtet  mit  leerem  Blick den  verblaßten Knutschfleck an ihrem Hals, ihre ungeschützten Brüste unter dem teuren Hemd. Wie Frisky verspürt auch Jonathan zweifellos den infamen Wunsch, jemandem zuvorzukommen.

»Soll ich vorgehen und Ihnen all die schönen neuen Sachen zeigen, die Herr Meister extra für Sie seit Ihrem letzten Besuch hat einbauen lassen?« schlägt er vor.

Vielleicht sollten Sie endlich mal Ihre guten Manieren ablegen, hatte Sophie zu ihm gesagt, als sie neben ihm durch die Dämmerung ging.

Er ging voraus und wies auf die unbezahlbaren Vorzüge der Suite hin: die erstaunliche Einbaubar... das tausend Jahre alte Obst... das ultramoderne superhygienische Düsenklo, nimmt Ihnen alles ab außer dem Zähneputzen... all seine affektierten kleinen Scherze, elegant aus dem Hut gezaubert zum Vergnügen von Mr. Richard Onslow Roper und dieser schlanken, fröhlichen, unverzeihlich attraktiven Frau. Wie kann sie es wagen, in Zeiten wie diesen so schön zu sein?

Meisters legendärer Turm thront wie ein bombastischer Taubenschlag über den märchenhaften Spitzen und Kehlen seines verwinkelten Daches. Der Dreischlafzimmer-Palast darin geht über zwei Etagen, ein pastellfarbener Turm in einem Stil, den Jonathan vertraulich als Schweizer-Franken-Quatorze bezeichnet. Das Gepäck ist da, die Pagen haben ihr üppiges Trinkgeld erhalten. Jed hat sich ins große Schlafzimmer zurückgezogen, gedämpft hört man dort Wasser einlaufen und den Gesang einer weiblichen Stimme. Der Gesang ist undeutlich, aber provozierend, wenn nicht gar unflätig. Der Blazer Frisky steht auf dem Treppenabsatz am Telefon und murmelt jemandem, den er verachtet, Anweisungen zu. Major Corkoran, mit einer neuen Zigarette bewaffnet, aber ohne den Kamelhaarmantel, hängt im Speisezimmer an einer anderen Leitung und spricht langsam Französisch mit jemandem, dessen Französisch nicht so gut ist wie seins. Auf seinen glatten Babywangen zeigen sich hochrote Flecken. Und sein Französisch ist französisches Französisch, gar keine Frage. Er ist so selbstverständlich hineingeschlüpft, als sei es seine Muttersprache; und vielleicht ist es das auch, denn nichts an Corkoran weist auf eine unkomplizierte Herkunft hin.

Anderswo in der Suite laufen andere Dinge und Gespräche ab. Der große Mann mit dem Pferdeschwanz heißt Sandy, erfahren wir, und Sandy spricht an einem weiteren Telefon mit jemandem in Prag, der Gregory heißt, während Mrs. Sandy im Mantel auf einem Stuhl sitzt und die Wand anstiert. Aber diese Nebendarsteller hat Jonathan aus seiner unmittelbaren Wahrnehmung verbannt. Sie existieren, sie sind elegant, sie kreisen auf einer weit entfernten Umlaufbahn um ihr Zentralgestirn Richard Onslow Roper aus Nassau auf den Bahamas. Aber sie sind nur Chargen. Jonathans Führung durch die Herrlichkeiten des Palastes ist beendet. Es wird Zeit, daß er verschwindet. Eine charmante Handbewegung, die freundliche Ermahnung: »Fühlen Sie sich bitte ganz wie zu Hause«, und normalerweise wäre er dann ohne weiteres wieder nach unten gestiegen und hätte es Ihnen allein überlassen, sich für fünfzehntausend Franken die Nacht zu amüsieren, Steuer, Bedienung und Frühstück inklusive.

Aber dieser Abend ist nicht normal, es ist Ropers Abend, es ist Sophies Abend, und Sophies Rolle spielt bizarrerweise Ropers Begleiterin für uns, die, wie sich herausstellt, bei allen anderen Jed heißt, nicht Jeds - Mr. Onslow Roper liebt es, sein Kapital zu vermehren. Noch immer fällt Schnee, und der schlimmste Mann der Welt wird davon angezogen wie jemand, den die tanzenden Flocken in eine Kindheit zurückversetzen. Er steht mit gebeugtem Rücken in der Mitte des Zimmers, gegenüber von den hohen Fenstern und dem verschneiten Balkon. Er hält einen grünen Sotheby-Katalog wie ein Gesangbuch, aus dem er gleich etwas singen wird, aufgeschlagen vor sich; den anderen Arm hat er erhoben, um einem stummen Instrument am Rand des Orchesters den Einsatz zu geben. Er trägt eine sehr intellektuelle Lesebrille mit halben Gläsern.

»Soldat Boris und sein Kumpel sind mit Montag mittag einverstanden«, ruft Corkoran aus dem Speisezimmer. »Ist Montag mittag okay?«

»Okay«, sagt Roper, wobei er eine Seite des Kataloges umblättert und gleichzeitig über den Rand der Brille den Schnee beobachtet. »Sehen Sie sich das an. Ein Hauch der Unendlichkeit.«

»Ich freue mich immer sehr, wenn es schneit«, sagt Jonathan ernst.

»Dein Freund Appetito aus Miami fragt, warum nicht lieber in der Kronenhalle, da war das Essen besser.«

»Zuviel Publikum. Wir essen hier, er kann ja Butterbrote mitbringen. Sandy, was zahlt man heute für ein passables Stubbs-Pferd?«

Der hübsche Männerkopf mit dem Pferdeschwanz schiebt sich durch die Tür. »Format?«

»Dreißig mal fünfzig Zoll.«

Das hübsche Gesicht verzieht sich kaum. »Sotheby hat letzten Juni ein gutes verkauft. Protector in a Landscape. Signiert und datiert, 1779. Ein Prachtstück.«

»Quanta costa?«

»Spucks aus, Sands!«

»Eins Komma zwei Millionen. Plus Provision.«

»Pfund oder Dollar?«

»Dollar.«

Aus der gegenüberliegenden Tür hört man Major Corkoran jammern. »Die Brüsseler wollen die Hälfte in bar, Chef. Ganz schön dreist, wenn du mich fragst.«

»Sag ihnen, daß du dann nicht unterschreibst«, gibt Roper betont scharf zurück, ein Tonfall, mit dem er sich Corkoran offenbar vom Leib halten will. »Ist das ein Hotel da oben, Pine?« Ropers Blick ist auf die schwarzen Fensterscheiben gerichtet, hinter denen die Kindheitsschneeflocken weiter ihren Tanz aufführen.

»Ein Signalturm, Mr. Roper. Eine Art Navigationshilfe, soweit ich weiß.«

Herrn Meisters geliebte vergoldete Bronze-Uhr schlägt die Stunde, doch Jonathan bringt es trotz seiner üblichen Gewandtheit nicht fertig, die Füße in Richtung Ausgang zu bewegen. Seine Lackschuhe bleiben wie einzementiert fest im tiefen Flor des Salonteppichs stecken. Sein milder Blick, der so gar nicht zu seiner Boxerstirn passen will, kann sich nicht von Ropers Rücken lösen. Dabei sieht ihn Jonathan nur indirekt, mit einem Teil seiner Gedanken ist er überhaupt nicht in der Turmsuite, sondern in Sophies Penthouseapartment auf dem Queen Nefertiti Hotel in Kairo.

Auch Sophie wendet ihm den Rücken zu, und der ist so schön, wie er es immer gewußt hat: weiß im Weiß ihres Abendkleids. Sie blickt nicht in den Schnee hinaus, sondern auf das dunstige Sternenmeer der Kairoer Nacht, nach der Mondsichel, die an den Spitzen über der geräuschlosen Stadt hängt. Die Türen zu ihrem Dachgarten stehen offen. Sophie hat nur weiße Blumen angepflanzt - Oleander, Bougainvillea, Agapanthus. An ihr vorbei weht der Duft Arabischen Jasmins ins Zimmer. Auf einem Tisch neben ihr steht eine Flasche Wodka, und die ist eindeutig halb leer, nicht halb voll.

»Sie haben geläutet«, erinnerte Jonathan sie mit einem Lächeln in der Stimme, ganz der ergebene Diener. Vielleicht ist das unsere Nacht, dachte er.

»Ja, ich habe geläutet. Und Sie sind gekommen. Freundlich von Ihnen. Ich bin sicher, Sie sind immer freundlich.«

Er erkannte sofort, diese Nacht war nicht ihre Nacht.

»Ich muß Ihnen eine Frage stellen«, sagte sie. »Werden Sie mir eine ehrliche Antwort geben?«

»Wenn ich kann. Selbstverständlich.«

»Sie meinen, unter bestimmten Umständen würden Sie es nicht tun?«

»Ich meine, daß ich die Antwort nicht wissen könnte.«

»Oh, Sie werden die Antwort wissen. Wo befinden sich die Papiere, die ich Ihnen anvertraut habe?«

»Im Safe. In dem Umschlag. Mit meinem Namen drauf.«

»Hat sie irgend jemand außer mir gesehen?«

»Der Safe wird von mehreren Kollegen benutzt, hauptsächlich um Bargeld aufzubewahren, bis es zur Bank gebracht wird. Soweit ich weiß, ist der Umschlag noch versiegelt.«

Sie ließ unwillig die Schultern sinken, wandte aber nicht den Kopf um. »Hatten Sie sie irgendwem gezeigt? Ja oder nein, bitte? Ich unterstelle nichts. Ich bin ganz spontan zu Ihnen gekommen. Es wäre nicht ihre Schuld, wenn ich einen Fehler begangen hätte. Ich hatte die sentimentale Vorstellung, Sie seien ein anständiger Engländer.«

Die hatte ich auch, dachte Jonathan. Doch er kam gar nicht auf den Gedanken, daß er die Wahl haben könnte. In der Welt, der rätselhafterweise seine Treue gehörte, gab es auf ihre Frage nur eine Antwort.

»Nein«, sagte er. Und noch einmal: »Nein, niemand.«

»Wenn Sie mir sagen, daß das die Wahrheit ist, will ich Ihnen glauben. Ich möchte wirklich sehr gern glauben, daß es auf der Welt doch noch einen letzten Gentleman gibt.«

»Es ist die Wahrheit. Ich habe Ihnen mein Wort gegeben. Nein.«

Wieder schien sie sein Nein zu ignorieren oder zumindest für voreilig zu halten. »Freddie behauptet, ich hätte ihn verraten. Er hat mir die Papiere anvertraut. Er wollte sie nicht bei sich im Büro oder zu Hause haben. Dicky Roper bestärkt Freddie in seinem Verdacht mir gegenüber.«

»Wie kommt er denn dazu?«

»Roper ist der andere Korrespondenzpartner. Bis heute hatten Roper und Freddie Hamid vor, Geschäftspartner zu werden. Ich war bei einigen ihrer Besprechungen auf Ropers Jacht dabei. Roper war es gar nicht recht, mich als Zeugin dabeizuhaben, aber da Freddie unbedingt mit mir angeben wollte, blieb ihm nichts anderes übrig.«

Sie erwartete offenbar, daß er etwas sagte, doch er blieb stumm.

»Freddie hat mich heute abend besucht. Später als sonst. Wenn er in der Stadt ist, kommt er immer schon vor dem Essen. Er nimmt aus Rücksicht auf seine Frau den Parkhauslift, bleibt zwei Stunden und geht dann wieder, um im Kreis seiner Familie zu essen. Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich ihm helfe, seine Ehe intakt zu halten. Heute abend kam er später. Er hatte telefoniert. Anscheinend hat Roper eine Warnung bekommen.«

»Eine Warnung? Von wem?«

»Von guten Freunden in London.« Und plötzlich verbittert: »Ropers guten Freunden. Um das klarzustellen.«

»Und was haben die gesagt?«

»Daß seine geschäftlichen Vereinbarungen mit Freddie den Behörden bekannt sind. Roper war am Telefon vorsichtig, er hat nur gesagt, er habe sich auf Freddies Diskretion verlassen. Freddies Brüder waren nicht so rücksichtsvoll. Freddie hatte ihnen nichts von dem Geschäft erzählt. Er wollte sich ihnen gegenüber beweisen. Er war so weit gegangen, daß er unter dem Vorwand, irgendwelche Waren durch Jordanien zu transportieren, eine Kolonne von Hamid-Lastwagen abgestellt hatte. Auch das hat seine Brüder nicht gerade erfreut. Jetzt hat Freddie Angst und ihnen deshalb alles erzählt. Außerdem ist er wütend, weil er in der Achtung seines teuren Mr. Roper gesunken ist. Also: Nein?« wiederholte sie, noch immer in die Nacht hinausstarrend. »Definitiv nein. Mr. Pine kann sich nicht denken, wie diese Informationen nach London beziehungsweise Mr. Ropers Freunden zu Ohren gekommen sein könnten. Der Safe, die Papiere - er kann es sich nicht denken.«

»Nein. Kann er nicht. Tut mir leid.«

Bis dahin hatte sie ihn nicht angesehen. Nun drehte sie sich endlich um und ließ ihn ihr Gesicht sehen. Ein Auge war vollständig geschlossen. Beide Seiten waren bis zur Unkenntlichkeit verschwollen.

»Ich möchte, daß Sie mich auf eine Fahrt begleiten, bitte, Mr. Pine. Freddie ist nicht vernünftig, wenn sein Stolz bedroht ist.«

Die Zeit ist stehengeblieben. Roper ist noch immer in den Sotheby-Katalog vertieft. Sein Gesicht hat niemand zu Brei geschlagen. Die vergoldete Wanduhr schlägt noch immer die Stunde. In einem absurden Impuls vergleicht Jonathan sie mit seiner Armbanduhr, und als er merkt, daß er endlich wieder die Füße bewegen kann, öffnet er die Glaskappe und schiebt den großen Zeiger vor, bis die beiden Uhren übereinstimmen. Geh in Deckung, redet er sich zu. Wirf dich hin. Das unsichtbare Radio spielt Alfred Brendel, der Mozart spielt.

Hinter den Kulissen redet Corkoran schon wieder, diesmal auf italienisch, das nicht so sicher klingt wie sein Französisch.

Aber Jonathan kann nicht in Deckung gehen. Die aufregende Frau kommt die reichverzierte Treppe hinab. Zunächst hört er sie nicht, denn sie ist barfuß und trägt Herrn Meisters Hotelbademantel, und als er sie dann hört, wagt er kaum sie anzusehen. Ihre langen Beine sind vom Bad babyrosa, das kastanienbraune Haar hat sie sich wie ein nettes braves Mädchen über die Schultern gebürstet. Ein Duft warmer mousse de bain hat die Gedenkfeier-Nelken verdrängt, Jonathan wird es schier übel vor Verlangen.

»Zur weiteren Erfrischung darf ich Ihnen Ihre private Bar empfehlen«, sagt er in Ropers Rücken. »Malzwhisky, von Herrn Meister persönlich ausgewählt; Wodkas aus sechs verschiedenen Ländern.« Sonst noch was? »Ah ja, und Rund-um-die-Uhr-Zimmerservice für Sie und Ihre Begleitung natürlich.«

»Also ich sterbe vor Hunger«, sagt das Mädchen. Sie bleibt nicht gerne unbeachtet.

Jonathan gewährt ihr sein leidenschaftsloses Hotelierslächeln. »Bitte, verlangen Sie alles, worauf Sie Lust haben. Die Speisekarte ist bloß ein Kompaß, in der Küche wird man begeistert sein, mal richtig arbeiten zu können.« Er wendet sich wieder Roper zu, und irgendein Teufel drängt ihn noch einen Schritt weiter. »Und englischsprachige Nachrichten im Kabelfernsehen, falls Sie sich den Krieg ansehen möchten. Nur den grünen Knopf auf der kleinen Box drücken, dann die neun.«

»Bin dagewesen, kenne den Film, danke. Kennen Sie sich mit Bildhauerei aus?«

»Nicht besonders.«

»Ich auch nicht. Da sind wir schon zwei. Hallo, Darling. Schön gebadet?«

»Herrlich.«

Jed geht durch das Zimmer zu einem niedrigen Sessel, kuschelt sich hinein, nimmt die Zimmerservice-Speisekarte und setzt eine goldene Lesebrille auf, ein Paar kreisrunder, sehr kleiner und, wie Jonathan wütend überzeugt ist, vollkommen überflüssiger Gläser. Sophie hätte so was im Haar getragen. Brendels vollkommener Fluß hat das Meer erreicht. Das versteckt eingebaute quadrophonische Radio kündigt an, als nächstes werde Fischer-Dieskau eine Auswahl von Schubertliedern singen. Ropers breite Schulter stößt an Jonathans. Jed schlägt ihre undeutlich zu sehenden, babyrosa Beine übereinander und zieht, während sie das Studium der Speisekarte fortsetzt, geistesabwesend den unteren Teil des Bandemantels darüber. Hure! schreit eine Stimme in Jonathan. Flittchen! Engel! Warum werde ich plötzlich von solchen pubertären Phantasien befallen? Ropers wie gemeißelter Zeigefinger ruht auf einer ganzseitigen Abbildung.

Los 236, Venus und Adonis in Marmor, Höhe ohne Sockel siebzig Zoll. Venus streicht mit ihren Fingern bewundernd über Adonis' Gesicht. Zeitgenössische Kopie nach Canova, unsigniert, Original in der Villa La Grange, Genf, Schätzpreis £ 60000 bis 100000.

Ein fünfzigjähriger Apoll möchte Venus und Adonis kaufen. »Was ist denn eigentlich roasty?« fragt Jed.

»Ich glaube, Sie meinen Rösti«, antwortet Jonathan im Tonfall überlegenen Wissens. »Eine Schweizer Delikatesse aus Kartoffeln. So eine Art Kartoffelbrei, nur ohne Brei. Mit viel Butter und gebraten. Wenn man sehr hungrig ist, eine absolute Köstlichkeit. Eine Spezialität unserer Küche.«

»Wie finden Sie die Dinger?« will Roper wissen. »Gut? Nicht gut? Keine Ausflüchte. Das hilft keinem weiter - so 'ne Art Bratkartoffeln, Darling, kenn ich aus Miami - also was meinen Sie, Mr. Pine?«

»Ich denke, es hängt ziemlich davon ab, wo sie aufgestellt werden sollen«, antwortet Jonathan vorsichtig.

»Am Ende eines Gartenwegs. Pergola mit Blick aufs Meer. Nach Westen, damit man den Sonnenuntergang mitkriegt.«

»Der schönste Ort der Welt«, sagt Jed.

Jonathan ist plötzlich wütend auf sie. Warum hältst du nicht den Mund? Warum ist deine Blabla-Stimme so nah, wenn du quer durchs ganze Zimmer redest? Warum mußt du ständig dazwischenquatschen, anstatt die verdammte Speisekarte zu lesen?

»Sonnenschein garantiert?« fragt Jonathan mit seinem gönnerhaftesten Lächeln.

»Dreihundertsechzig Tage im Jahr«, erklärt Jed stolz.

»Weiter«, drängt Roper. »Sie sind doch nicht aus Zucker. Wie lautet Ihr Urteil?«

»Ich fürchte, sie gefallen mir ganz und gar nicht«, erwidert Jonathan knapp, bevor er sich Zeit zum Überlegen genommen hat.

Warum hat er das bloß gesagt? Bestimmt ist Jed daran schuld. Jonathan selbst wäre der letzte, der eine Ahnung davon hat. Er kann zu Statuen nichts sagen, er hat nie eine gekauft, nie eine verkauft, nicht mal daran gedacht, eine zu betrachten, außer der scheußlichen Bronzestatue von Earl Haig, der am Paradeplatz seiner militärischen Kindheit mit einem Fernglas nach Gott Ausschau gehalten hatte. Das alles war lediglich der Versuch, Jed auf Distanz zu halten.

Ropers feine Züge verziehen sich nicht, doch für einen Augenblick fragt sich Jonathan, ob er vielleicht nicht doch aus Glas ist. »Lachst du über mich, Jemima?« fragt Roper mit vollendet freundlichem Lächeln.

Die Speisekarte sinkt herab, und über ihren Rand späht vergnügt das mutwillige, völlig makellose Gesicht. »Warum sollte ich lachen?«

»Glaube mich zu erinnern, du hättest dir auch nicht viel draus gemacht, als ich sie dir im Flieger gezeigt habe.«

Sie legt die Speisekarte auf den Schoß und nimmt mit beiden Händen die überflüssige Brille ab. Dabei öffnet sich der kurze Ärmel von Herrn Meisters Bademantel, und Jonathan bekommt zu seiner totalen Empörung eine ihrer vollkommenen Brüste zu sehen, deren oberen Hälfte von der Leselampe über ihr in goldenes Licht getaucht ist, die leicht erigierte Warze hebt sich ihm durch die Bewegung der Arme entgegen.

»Darling«, sagt sie liebevoll. »Das ist völliger, kompletter, ausgemachter Blödsinn. Ich habe nur gesagt, ihr Hintern sei zu dick. Wenn du dicke Hintern magst, kauf sie. Dein Geld. Dein Hintern.«

Roper streckt grinsend die Hand aus, packt den Hals von Herrn Meisters Gratisflasche Dom Perignon und macht die Flasche auf.

»Corky!«

»Augenblick, Chef!«

Kurzes Stocken. Stimme korrigieren. »Gib Danby und MacArthur ein Glas. Schampus.«

»Mach ich, Chef.«

»Sandy! Caroline! Schampus! Zum Teufel, wo stecken die zwei? Zanken sich wieder. Langweiliges Volk. Bringt mich jedesmal in Rage«, fügt er in Jonathans Richtung hinzu. »Bleiben Sie, Pine - die Party geht ja gerade erst los - Corks, bestell noch ein paar Flaschen!«

Aber Jonathan geht. Er signalisiert irgendwie sein Bedauern, erreicht den Gang, und als er noch einmal zurückblickt, wirft Jed ihm über ihr Champagnerglas eine neckische Kußhand zu. Er dankt mit seinem eisigsten Lächeln.

»Nachtchen, mein Lieber«, murmelte Corkoran, als sie in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeistreifen. »Schönen Dank für die reizende Betreuung.«

»Gute Nacht, Major.«

Frisky, der aschblonde OBG, sitzt auf einem gobelingeschmückten Thron neben dem Lift und studiert ein Taschenbuch mit viktorianischen Erotika. »Spielen Sie Golf, mein Lieber?« fragt er, als Jonathan an ihm vorbeihuscht.

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

Die Schnepf im Zickzackfluge treff' ich mit Sicherheit, singt Fischer-Dieskau. Die Schnepf im Zickzackfluge treff' ich mit Sicherheit.

Das halbe Dutzend Dinnergäste saß wie Betende in einer Kathedrale über die von Kerzen beleuchteten Tische gebeugt. Jonathan saß unter ihnen und schwelgte in entschlossener Euphorie. Dafür lebe ich, sagte er sich: für diese halbe Flasche Pommard, diesen foie de veau glace mit Gemüse in drei Farben, diese Damastdecke, dieses zerdellte alte Hotelsilber, das mich wissend anfunkelt.

Allein zu essen war schon immer sein besonderes Vergnügen gewesen, und heute abend, dank der vom Krieg verursachten Leere, hatte Maitre Berri ihm anstelle des Einzelsitzes neben der Küchentür einen der Hochaltäre am Fenster zugewiesen. Während er über den verschneiten Golfplatz auf die Stadt mit ihren am See glitzernden Lichtern hinabsah, gratulierte Jonathan sich verbissen zu der Erfüllung, die sein Leben gefunden hatte; alles Häßliche von früher hatte er hinter sich gelassen.

Das war wicht leicht für dich da oben mit dem ungeheuerlichen Roper, Jonathan, mein Junge, sagte der grauwangige Kommandant der Schule beifällig zu seinem besten Kadetten. Und dieser Major Corkoran ist auch nicht ohne. Genau wie das Mädchen, möchte ich meinen. Mach dir nichts draus. Du bist standhaft gewesen, du hast deine Ecke verteidigt. Gut gemacht. Und als er all seine kriecherischen Phrasen und lüsternen Gedanken in der Reihenfolge ihres schmählichen Auftretens noch einmal an sich vorbeiziehen ließ, gelang es Jonathan tatsächlich, seinem Spiegelbild in dem kerzenhellen Fenster anerkennend zuzulächeln.

Plötzlich wurde der foie de veau zu Asche in seinem Mund, und der Pommard schmeckte nach Metall. Seine Eingeweide verkrampften sich, sein Blick wurde verschwommen. Er sprang hastig auf, murmelte Maitre Berri zu, er habe noch was vergessen, und schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette.