19

 

Am Abend desselben Tages: Jonathan lebte noch immer, der Himmel war noch an seinem Platz. Keine Schlägertypen stürzten aus den Bäumen über ihn her, als er durch den Tunnel zu Woodys Haus ging. Die Zikaden sangen und schluchzten im selben Rhythmus wie immer, die Sonne verschwand hinter Miss Mabel Mountain, die Dämmerung senkte sich herab. Er hatte mit Daniel und den Langbourne-Kindern Tennis gespielt, er war mit ihnen schwimmen und segeln gegangen, er hatte sich angehört, was Isaac über die Tottenham Hotspurs, Esmeralda über böse Geister und Caroline Langbourne über Männer, die Ehe und ihren Mann zu sagen hatten:

»Die Treulosigkeit stört mich nicht, Thomas. Nur die Lügen. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle, vielleicht weil Sie so ehrlich sind. Es ist mir egal, was er über Sie sagt, wir alle haben unsere Probleme, aber ich erkenne, wenn jemand ehrlich ist. Wenn er doch einfach sagen würde: >Ich habe eine Affäre mit Annabelle< - oder mit wem auch immer er gerade eine Affäre hat -, >und ich habe keineswegs die Absicht, damit aufzuhören< - na, dann würde ich sagen: >Bitte sehr. Wenn das so ist, dann soll es eben so sein. Erwarte aber nicht von mir, daß ich dir treu bin, solange du es nicht bist.< Ich kann damit leben, Thomas. Wir Frauen müssen das können. Wütend macht mich nur, daß ich ihm mein ganzes Geld gebe und ihn seit Jahren praktisch aushalte und daß ich Daddy für die Ausbildung der Kinder zahlen lasse, bloß um dann zu erleben, wie er das alles mit irgendeiner dahergelaufenen kleinen Schlampe verplempert und uns, nun ja, nicht ohne einen Pfennig, aber doch ziemlich knapp bei Kasse im Regen stehen läßt.«

Im weiteren Verlauf des Tages hatte er Jed noch zweimal gesehen: einmal im Sommerhaus, da trug sie einen gelben Kaftan und schrieb einen Brief; und einmal, als sie mit Daniel in der Brandung spazierenging, den Jungen an der einen Hand, den hochgerafften Rock in der anderen. Und als Jonathan das Haus verließ und bewußt unter ihrem Schlafzimmerbalkon entlangging, hörte er sie mit Roper: »Nein, Schatz, er hat sich kein bißchen weh getan, alles nur Theater; er ist auch bald darüber hinweggekommen und hat mir ein absolut phantastisches Bild von Sarah gemalt, wie sie auf dem Dach des Stalls herumtrabt, du wirst wirklich begeistert sein...«

Und er dachte: Jetzt sagst du es ihm: Das war die gute Nachricht, Schatz. Aber rate mal, wen ich in unserem Schlafzimmer getroffen habe, als ich raufkam...

Erst als er Woodys Haus erreicht hatte, wollte die Zeit nicht mehr vergehen. Er war vorsichtig, weil er vermutete, daß die Wachen, falls sie alarmiert worden wären, ihm höchstwahrscheinlich zum Haus vorausgegangen waren. Also ging er durch die Hintertür hinein und kontrollierte erst einmal beide Türen, eher er sich imstande fühlte, die winzige stählerne Filmkassette aus der Kamera zu nehmen und mit einem scharfen Küchenmesser ein Loch in seine Taschenbuchausgabe von Tess von d'Urbervilles zu schneiden, um sie dort hineinzulegen.

Anschließend nahm alles seinen geregelten Lauf.

Er badete und dachte: Jetzt ungefähr stehst du unter der Dusche, und niemand ist da, um dir ein Handtuch zu reichen. Er machte sich aus Resten, die Esmeralda ihm gegeben hatte, eine Hühnersuppe und dachte: Jetzt ungefähr sitzt du mit Caroline im Innenhof und ißt Esmeraldas Barsch mit Zitronensauce; du hörst dir ein weiteres Kapitel aus Carolines Leben an. Ihre Kinder stopfen Chips und Cola und Eis in sich rein und sehen in Daniels Spielzimmer Frankensteins Junior, während Daniel bei geschlossener Tür in seinem Schlafzimmer liegt und die ganze Bande zum Teufel wünscht.

Danach ging er zu Bett, denn das schien ihm ein guter Ort, über sie nachzudenken. Und blieb im Bett, bis um halb eins der nackte Beobachter geräuschlos auf den Boden glitt und, da er vor seiner Haustür verstohlene Schritte vernommen hatte, den stählernen Schürhaken unterm Bett hervorholte. Jetzt bin ich dran, dachte er. Sie hat Roper alarmiert, und jetzt bekomme ich dieselbe Abreibung wie Woody.

Aber eine zweite Stimme in ihm sagte etwas anderes, und das war die Stimme, auf die er hörte, seit Jed ihn in ihrem Schlafzimmer erwischt hatte. So daß er, als sie leise an seine Vordertür klopfte, den Schürhaken bereits weggelegt und sich einen Sarong umgewickelt hatte.

Auch sie war für ihre Rolle gekleidet: langer dunkler Rock und dunkles Cape, und es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie noch die Weihnachtsmannkapuze übergezogen hätte; hatte sie aber nicht, die lag kleidsam auf ihrem Rücken. Sie trug eine Taschenlampe, und während er die Kette wieder vorlegte, legte sie die Lampe hin und zog den Umhang fester um sich. Dann stand sie ihm gegenüber, die Hände dramatisch vorm Hals gekreuzt.

»Sie hätten nicht kommen sollen«, sagte er und zog rasch die Vorhänge zu. »Wer hat Sie gesehen? Caroline? Das Wachpersonal?«

»Niemand.«

»Das denken Sie so. Was ist mit den Leuten im Pförtnerhaus?«

»Ich bin auf Zehenspitzen gegangen. Niemand hat mich gehört.«

Er starrte sie ungläubig an. Nicht weil er sie einer Lüge verdächtigte, sondern wegen der absoluten Tollkühnheit ihres Unterfangens. »Und was kann ich Ihnen anbieten?« fragte er in einem Ton, der sagen sollte: wenn Sie schon mal hier sind.

»Kaffee. Kaffee, bitte. Aber nicht extra für mich.«

Kaffee, bitte, ägyptischen, erinnerte er sich.

»Sie saßen vorm Fernseher«, sagte sie. »Die Leute im Pförtnerhaus. Ich habe sie durchs Fenster sehen können.«

»Sicher.«

Er setzte einen Kessel auf, zündete die Kiefernscheite im Kamin an, und eine Zeitlang saß sie fröstelnd davor und starrte finster in die zischenden Scheite. Dann blickte sie sich im Zimmer um, machte sich gewissermaßen ein Bild vom Ort und seinem Bewohner, von den Büchern, die er hatte zusammentragen können, und dem adretten Zustand der ganzen Einrichtung - die Blumen, das Aquarell der Carnation Bay auf dem Kaminsims neben Daniels Bild von einem Flugsaurier.

»Dans hat für mich ein Bild von Sarah gemalt«, sagte sie. »Als Wiedergutmachung.«

»Ich weiß. Ich bin an Ihrem Zimmer vorbeigekommen, als Sie Roper davon erzählt haben. Was haben Sie ihm sonst noch erzählt?«

»Nichts.«

»Sind Sie sicher?«

Sie brauste auf. »Was erwarten Sie denn, was ich ihm erzählen soll? Thomas hält mich für ein billiges, kleines Flittchen ohne einen Gedanken im Kopf?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie haben Schlimmeres gesagt. Ich sei völlig verkorkst, und er ein Mörder.« Er reichte ihr einen Becher Kaffee. Schwarz. Ohne Zucker, Sie trank, beide Hände um den Becher. »Wie zum Teufel bin ich da reingeraten?« fragte sie. »Nicht bei Ihnen. Bei ihm. Hierher. Crystal. Die ganze Scheiße.«

»Corky sagt, er habe Sie bei einer Pferdeauktion erstanden.«

»Ich habe in Paris nicht allein gelebt.«

»Was haben Sie in Paris gemacht?«

»Mit zwei Männern gevögelt. Die Geschichte meines Lebens. Ich bumse immer mit den falschen Leuten und verpasse die richtigen.« Noch ein Schluck Kaffee. »Sie hatten eine Wohnung in der Rue de Rivoli. Haben mich in Angst und Schrecken versetzt. Drogen, Männer, Alkohol, Mädchen, ich, alles auf einmal. Eines Morgens wach ich auf, und die ganze Wohnung ist voller lebloser Körper. Alle bewußtlos. < Sie nickte sich selbst zu, als wollte sie sagen, ja, so war das, das war der Knackpunkt. »Okay, Jemima, laß die zweihundert Pfund sausen, hau einfach ab. Ich hab nicht mal gepackt. Bin über die Leute gestiegen und zu dieser Vollblüter-Auktion in Maison Lafitte gegangen, von der ich in der Trib gelesen hatte. Wollte Pferde sehen. War noch immer halb stoned und konnte nur an Pferde denken. Wir hatten immer damit zu tun, bis mein Vater alles verkaufen mußte. Reiten und beten. Wir sind Shropshire-Katholiken«, erklärte sie düster, als sei dies der Fluch der Familie. »Anscheinend habe ich gelächelt. Denn irgenso ein schnieker mittelalterlicher Typ sagt zu mir: >Welches hätten Sie denn gern?< >Das Große da im Fenster<, sage ich. Ich kam mir ganz leicht vor. Frei. Wie in einem Film. Dieses Gefühl. Sollte ein Scherz von mir sein. Aber er hat sie gekauft. Sarah. Die Gebote kamen so schnell, daß ich gar nicht richtig folgen konnte, und er hatte einen Pakistani bei sich, und die beiden haben irgendwo zusammen geboten. Dann dreht er sich einfach zu mir um und sagt: >Sie gehört Ihnen. Wohin sollen wir sie schicken?< Ich war zu Tode erschrocken, fühlte mich aber herausgefordert und nahm mir daher vor, die Sache durchzustehen. Er ging mit mir in ein Geschäft an den Champs Elysees, wo wir die einzigen Leute waren. Er hatte den Pöbel vor unserer Ankunft entfernen lassen. Wir waren die einzigen Kunden. Hat mir für zehntausend Pfund Klunker gekauft und mich in die Oper ausgeführt. Er hat mich zum Essen eingeladen und mir von einer Insel namens Crystal erzählt. Dann hat er mich in sein Hotel mitgenommen und mich gefickt. Und ich dachte: >Mit einem Satz springt sie über den Graben.< Er ist kein schlechter Mann, Thomas. Er handelt bloß schlecht. Genau wie Archie der Fahrer.«

»Wer ist Archie der Fahrer?«

Sie vergaß ihn für eine Weile, um in den Kamin zu starren und an ihrem Kaffee zu nippen. Sie fröstelte jetzt nicht mehr. Einmal zuckte sie zusammen und zog die Schultern hoch, aber das lag nicht an der Kälte, sondern an ihrer Erinnerung. »Herrgott«, flüsterte sie. »Thomas, was mache ich nur?«

»Wer ist Archie?« wiederholte er.

»Einer aus unserem Dorf. Hat den Krankenwagen für unsere Klinik gefahren. Alle hatten Archie gern. Kam zu jeder Geländejagd und kümmerte sich um die Verletzten. Sammelte bei den Reitwettbewerben die Kinder ein und all so was. Der nette Archie. Dann gab es einen Krankenhausstreik, und Archie stellte sich als Streikposten vor die Klinik und ließ keinen einzigen Notfall rein, behauptete, die Fahrer seien allesamt Streikbrecher. Mrs. Luxome, die bei den Priors putzen ging, mußte sterben, nur weil er sie nicht reinließ.« Wieder überlief sie ein Schauer. »Haben Sie immer Feuer im Kamin? Kommt mir komisch vor, ein Kamin in den Tropen.«

»In Crystal haben Sie das doch auch.«

»Er mag Sie wirklich. Wissen Sie das?«

»Ja.«

»Sie sind sein Sohn oder so was. Ich habe ihm immer wieder gesagt, er soll Sie wegschicken. Habe gespürt, daß Sie mir immer näherkamen und ich Sie nicht aufhalten konnte. Wie Sie sich einschmeicheln. Er scheint das nicht zu merken. Vielleicht will er es nicht merken. Liegt vermutlich an Dan. Sie haben Dan gerettet. Trotzdem, das kann doch nicht ewig vorhalten, oder?« Sie trank. »Und dann denkt man: Okay, Scheiß drauf. Wenn er nicht sehen will, was vor seiner Nase geschieht, ist das sein Pech. Corky hat ihn gewarnt. Sandy auch. Er hört nicht auf sie.«

»Warum haben Sie seine Papiere durchsucht?«

»Caro hat mir eine ganze Menge über ihn erzählt. Entsetzliche Sachen. Fair war das nicht. Manches davon wußte ich schon. Ich wollte es nicht wissen, kam aber nicht dagegen an. Was Leute so auf Partys sagen. Was Daniel so aufschnappt. Diese furchtbaren Banker, diese Angeber. Ich kann Leute nicht verurteilen. Ich nicht. Ich denke immer, ich sitze auf dem elektrischen Stuhl, nicht sie. Das Dumme ist, daß wir so verdammt ehrlich sind. Mein Vater ist so. Würde eher verhungern, als das Finanzamt betrügen. Hat jede Rechnung prompt bezahlt. Deshalb hat er auch pleite gemacht. Andere Leute haben ihn natürlich nicht bezahlt, aber das ist ihm nie aufgefallen.« Sie sah ihn von der Seite an. Dann ganz offen. »Herrgott«, flüsterte sich noch einmal.

»Haben Sie etwas entdeckt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie hätte ich das tun können? Wußte ja nicht, wonach ich suchen sollte. Also dachte ich, Scheiß drauf, und habe ihn gefragt.«

»Wie bitte?«

»Ich habe ihn zur Rede gestellt. Einmal abends nach dem Essen. >Stimmt es, daß du ein Gangster bist? Sag es mir. Ein Mädchen hat das Recht, so was zu wissen.<«

Jonathan holte tief Luft. »Nun ja, das war zumindest ehrlich«, sagte er vorsichtig lächelnd. »Wie hat Roper es aufgenommen? Hat er ein volles Geständnis abgelegt, geschworen, nie mehr im Leben Unrecht zu tun, alles auf seine grausame Kindheit geschoben?«

»Er hat ein undurchdringliches Gesicht gemacht.«

»Und gesagt?«

»Ich soll mich um meine eigenen verdammten Angelegenheiten kümmern.«

Erinnerungen an Sophies Bericht von ihrem Gespräch mit Freddie Hamid auf dem Friedhof von Kairo störten Jonathans Konzentration.

»Und haben Sie gesagt, es sei Ihre Angelegenheit?« fragte er.

»Er meinte, ich würde das nicht verstehen, auch wenn er es mir erzählte. Ich solle den Mund halten und nicht von Dingen reden, von denen ich keine Ahnung hätte. Dann sagt er, das ist kein Verbrechen, das ist Politik. Und ich habe gefragt, was ist kein Verbrechen? Was ist Politik? Sag mir das Schlimmste. Nenn mir das Prinzip, damit ich weiß, woran ich beteiligt bin.«

»Und Roper?« fragte Jonathan.

»Er sagt, es gibt kein Prinzip. Leute wie mein Vater stellen sich das zwar so vor, aber deswegen sind Leute wie mein Vater auch solche Trottel. Er sagt, er liebt mich, und das muß reichen. Worauf ich wütend erwidere, so was mag ja Eva Braun gereicht haben, aber mir reicht es nicht. Ich dachte, er würde mir eine reinhauen. Aber er nahm das bloß zur Kenntnis. Ihn überrascht nie etwas. Wissen Sie das? Es gibt nur Tatsachen. Eine Tatsache mehr, eine Tatsache weniger. Am Ende tut man dann das Logische.«

Und das hat er auch mit Sophie getan, dachte Jonathan. »Und wie sehen Sie das?« fragte er.

»Wie ich das sehe?« Sie wollte einen Brandy. Er hatte keinen, also gab er ihr Scotch. »Es ist eine Lüge«, sagte sie.

»Was?«

»Mein Leben. Irgendwer sagt mir, wer ich bin, und ich glaube es und bin damit einverstanden. So mache ich das. Ich glaube den Leuten. Ich kann nicht anders. Und jetzt kommen Sie und erzählen mir, ich sei verkorkst, aber er erzählt mir was ganz anderes. Er sagt, ich bin seine Tugend. Er macht das alles nur für mich und Daniel. Das hat er mir eines Abends rundheraus gesagt, vor Corky.« Sie nahm einen großen Schluck Scotch. »Caro behauptet, er verschiebt Drogen. Wußten Sie das? Eine riesige Ladung, dafür bekommt er Waffen und weiß Gott was. Sie sagt, es geht hier nicht um irgendwelche Geschäfte am Rand der Legalität, nicht darum, ein paar Umwege zu vermeiden oder auf einer Party einen geruhsamen Joint zu rauchen. Es geht«, sagt sie, »um ausgewachsene, organisierte Schwerstkriminalität. Nennt mich eine Gangsterbraut - auch mit dieser Rolle versuche ich irgendwie klarzukommen. Heutzutage ich selber zu sein, das heißt, ständig unter Hochspannung zu stehen.«

Wieder ruht ihr Blick auf ihm, offen und unverwandt. »Ich sitze voll in der Scheiße«, sagte sie. »Ich bin mit völlig blinden Augen da hineingelaufen. Ich habe alles verdient, was ich bekomme. Bloß sagen Sie nicht, daß ich verkorkst bin. Predigten kann ich mir selbst halten. Und überhaupt, was zum Teufel haben Sie eigentlich vor? Sie sind auch kein Musterknabe.«

»Was habe ich denn nach Ropers Meinung vor?«

»Sie haben irgendwelche ernsthaften Schwierigkeiten. Aber Sie sind ein guter Bursche. Er will Sie aufbauen. Er hat es satt, daß Corky dauernd an Ihnen herummeckert. Aber schließlich hat er Sie nicht beim Schnüffeln in unserem Schlafzimmer ertappt, wie?« sagte sie auffahrend. »Jetzt sind Sie an der Reihe.«

Er ließ sich mit der Antwort lange Zeit. Erst dachte er an Burr, dann dachte er an sich und an sämtliche Regeln, die ihm zu sprechen verboten. »Ich bin ein Freiwilliger«, sagte er.

Sie zog ein saures Gesicht. »Polizei?«

»So ähnlich.«

»Wieviel von Ihnen sind Sie selbst?«

»Ich warte, um es herauszufinden.«

»Was werden Sie mit ihm machen?«

»Ihn festsetzen. Vor Gericht bringen. Einsperren.«

»Wie können Sie sich für so einen Job freiwillig melden? Herrgott.«

In keinem Trainingsprogramm war diese Situation vorgesehen. Er ließ sich Zeit zum Nachdenken, und die Stille schien sie ebenso wie der räumliche Abstand zwischen ihnen eher zu verbinden als zu trennen.

»Angefangen hat es mit einem Mädchen«, sagte er. Er korrigierte sich. »Mit einer Frau. Roper und ein anderer Mann haben sie umbringen lassen. Ich fühlte mich verantwortlich.«

Die Schultern eingezogen, das Cape noch immer am Hals zusammenhaltend, blickte sie im Zimmer umher, dann sah sie ihn wieder an.

»Haben Sie sie geliebt? Das Mädchen? Die Frau?«

»Ja.« Er lächelte. »Sie war meine Tugend.«

Sie nahm das auf, war aber nicht sicher, ob sie es gutheißen sollte. »Als Sie Daniel gerettet haben, bei Mama, war das auch alles Lüge?«

»Mehr oder weniger.«

Er sah alles, was ihr durch den Kopf ging: der Abscheu, das Ringen um Verständnis, die konfusen Moralvorstellungen ihrer Erziehung.

»Dr. Marti hat gesagt, die beiden hätten Sie beinahe umgebracht«, sagte sie.

»Ich habe sie beinahe umgebracht. Habe die Beherrschung verloren. Das Spiel ist schiefgegangen.«

»Wie hat sie geheißen?«

»Sophie.«

»Ich möchte, daß Sie mir von ihr erzählen.«

Sie meinte: hier, in diesem Haus, jetzt.

Er ging mit ihr nach oben ins Schlafzimmer, legte sich neben sie, ohne sie zu berühren, und erzählte ihr von Sophie; schließlich schlief sie ein, und er hielt Wache. Einmal wachte sie auf und bat um Sodawasser, und er holte ihr etwas aus dem Kühlschrank. Um fünf Uhr, noch bevor es hell wurde, zog er seine Joggingsachen an und brachte sie durch den Tunnel zum Pförtnerhaus zurück; ihre Taschenlampe durfte sie nicht benutzen, sondern mußte sich wie ein unerfahrener Rekrut, den er in die Schlacht führte, einen Schritt links hinter ihm halten. Und am Pförtnerhaus schob er Kopf und Schultern ins Fenster und verwickelte den Nachtwächter, in ein Gespräch, damit Jed, hoffentlich unbemerkt, an ihm vorbeihuschen konnte.

Seine Sorgen wurden nicht kleiner, als er bei der Rückkehr den Rastafari Arnos auf seiner Schwelle sitzen sah: Er wollte eine Tasse Kaffee.

»Sie haben dies Nacht ein schöne erbauliche Erfahrung mit Ihre Seele gemacht, Mist' Thomas, Sir?« erkundigte er sich, während er vier gehäufte Löffel Zucker in seine Tasse schaufelte.

»Es war ein Abend wie jeder andere, Arnos. Und bei Ihnen?«

»Mist' Thomas, Sir, ich hab kein frisch Kaminrauch um ein Uhr nachts in Townside mehr gerochen, seit damals, wo Mr. Woodman seine Freundinnen mit schöne Musik und Liebe unterhalten hat.«

»Nach dem, was man so hört, hätte Mr. Woodman wesentlich besser daran getan, ein gutes Buch zu lesen.«

Arnos brach in heftiges Gekicher aus: »Auf dieser Insel gibt's außer Ihnen nur einen, der Bücher liest, Mr. Thomas. Und der ist von Ganja benebelt und stockblind.«

Am Abend tauchte sie zu seinem Entsetzen wieder bei ihm auf.

Diesmal trug sie nicht ihr Cape, sondern Reitsachen, von denen sie sich offenbar eine Art Immunität versprach. Er war entsetzt, aber nicht sonderlich überrascht, denn inzwischen hatte er an ihr die gleiche Entschlossenheit wie bei Sophie ausgemacht, und er wußte, daß er sie ebensowenig fortschicken konnte, wie er Sophie davon hatte abhalten können, nach Kairo zurückzugehen und Hamid zur Rede zu stellen. Das machte ihn ruhig, und diese Ruhe übertrug sich auch auf sie. Sie nahm ihn bei der Hand, führte ihn nach oben und bekundete besorgtes Interesse an seinen Hemden und Wäschestücken. Irgend etwas war schlecht gefaltet, und sie faltete es besser. Irgendein Teil fehlte, und sie suchte danach. Sie zog ihn an sich und küßte ihn akkurat, als hätte sie im voraus festgelegt, wieviel oder wie wenig von sich sie ihm geben konnte. Nachdem sie sich geküßt hatten, ging sie wieder nach unten und stellte ihn unter die Deckenlampe, berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen, vergewisserte sich seiner, fotografierte ihn mit den Augen, machte Bilder von ihm, die sie mitnehmen konnte. Und so unpassend es jetzt auch war, er erinnerte sich an das alte Emigrantenpaar, das am Abend der Entführung bei Mama Low getanzt hatte, wie sie einander ungläubig das Gesicht berührt hatten.

Sie bat um ein Glas Wein, dann saßen sie trinkend auf dem Sofa und genossen die Stille, das Beste, was sie miteinander teilen konnten. Sie zog ihn hoch und küßte ihn noch einmal, schmiegte sich mit ihrem ganzen Körper an ihn und sah ihm sehr lange in die Augen, als prüfe sie seine Aufrichtigkeit. Dann ging sie, denn wie sie es ausdrückte, war dies das Äußerste, was sie wagen konnte, bis Gott ihr den nächsten Streich spielte.

Als sie gegangen war, stieg Jonathan nach oben und sah ihr durchs Fenster nach. Dann steckte er sein Exemplar von Tess in einen braunen Umschlag und adressierte ihn mit ungelenken Großbuchstaben an den SEXSHOP in Nassau, Postfach, eine Anschrift, die Rooke ihm in den Tagen seiner Jugend gegeben hatte. Er warf den Umschlag in den Briefkasten an der Seeseite des Orts, von wo ihn Ropers Jet am nächsten Tag nach Nassau bringen würde.

»Na, mein Lieber, haben wir die Einsamkeit genossen?« erkundigte sich Corkoran.

Er saß wieder bei Jonathan im Garten und trank kaltes Dosenbier.

»Ja, sehr, danke«, sagte Jonathan höflich.

»So hört man. Frisky sagt, Sie haben sich gut unterhalten. Tabby sagt das gleiche. Die meisten Leute in Townside haben anscheinend auch diesen Eindruck.«

»Schön.«

Corkoran trank. Er trug seinen Panamahut aus Eton und seinen scheußlichen Anzug aus Nassau, und er sprach in Richtung Meer.

»Und die Langbourne-Brut hat uns nicht an der Entfaltung gehindert?«

»Wir haben ein paar Ausflüge gemacht. Caroline ist ein bißchen niedergeschlagen, da waren die Kinder ganz froh, mal von ihr wegzukommen.«

»Was für ein netter Mensch wir sind«, sagte Corkoran nachdenklich. »Was für ein feiner Kerl. Was für ein Schatz. Genau wie Sammy. Und ich hatte nicht mal was mit dem kleinen Racker.« Er zog die Hutkrempe herunter und sang mit schmalziger Stimme Nice work if you can get it, als wäre er eine traurige Ella Fitzgerald. »Nachricht vom Chef für Sie, Mr. Pine. Stunde X steht kurz bevor. Machen Sie sich bereit, Crystal und allen anderen den Abschiedskuß zu geben. Erschießungskommando tritt in der Dämmerung zusammen.«

»Wo soll ich hin?«

Corkoran sprang auf die Füße und stapfte die Gartentreppe zum Strand hinunter, als könne er Jonathans Gesellschaft nicht mehr ertragen. Er hob einen Stein auf und ließ ihn trotz seiner Schwerfälligkeit geschickt über das dunkel werdende Wasser springen.

»Wohin? Scheiße, an meine Stelle, da sollen Sie hin!« brüllte er. »Dank der wirklich erstklassigen Beinarbeit irgendwelcher beschissener kleiner Schwuchteln, die uns die Tour vermasseln wollen! Von denen ich schwer annehme, daß Sie von denen abhängig sind!«

»Corky, reden Sie mit dem Arsch?«

Corkoran dachte über die Frage nach. »Weiß nicht, mein Lieber. Ich tät's gern. Anales Zeug, schon möglich. Oder ein Volltreffer.« Noch ein Stein. »Bin ein Rufer in der Wüste. Der Chef, natürlich würde er das nie zugeben, ist ein absolut unverbesserlicher Romantiker. Roper glaubt an das Licht am Ende des Piers. Bloß tut die dumme Motte das auch.« Und wieder ein Stein, begleitet von einem angestrengt wütenden Knurren. »Während unser Corky hier ein eingefleischter Skeptiker ist. Und meine private und professionelle Ansicht von Ihnen ist die: Sie sind Gift.« Noch ein Stein. Und noch einer. »Ich sage ihm, daß Sie Gift sind, aber er will mir nicht glauben. Er hat Sie erfunden. Sie haben sein Baby aus den Flammen gerettet. Während unser Corky hier, dank irgendwelcher namenlosen Figuren - vermutlich Freunden von Ihnen - ausgemustert ist.« Er trank seine Bierdose leer und schmiß sie auf den Sand; dann suchte er nach einem weiteren Kieselstein, den Jonathan ihm zuvorkommend hinhielt. »Na, sehen wir den Tatsachen ins Auge, Süßer, man wird ein bißchen auf den Hund kommen.«

»Ich finde, man wird ein bißchen geisteskrank, Corky«, sagte Jonathan.

Corkoran rieb sich den Sand von den Händen. »Herrgott, das Leben als Krimineller nimmt einen ganz schön mit«, jammerte er. »Diese Leute, dieser Lärm. Dieser Dreck. Diese Orte, an denen man gar nicht sein möchte. Finden Sie nicht auch? Natürlich nicht. Sie stehen darüber. Das sag ich dem Chef immer wieder. Aber er hört nicht auf mich. Der Mann ist mein Khyber-Paß.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Corky.«

»Ah, keine Sorge. Damit komm ich schon klar.« Er zündete sich eine Zigarette an und atmete dankbar aus. »Und jetzt folgendes«, sagte er und zeigt mit der Hand auf Woodys Haus hinter ihnen. »Zwei Nächte hintereinander, höre ich von meinen Spionen. Würde ich natürlich gern dem Chef verklickern, könnte mir nicht Schöneres vorstellen. Aber das kann ich unserer lieben Frau von Crystal nicht antun. Für die anderen kann ich nicht garantieren. Irgendwer wird schon quatschen. Naturgesetz.« Miss Mabel Island wurde zu einer schwarzen Schablone vor dem Mond. »Der Abend war noch nie meine Zeit. Kann ich nicht ausstehen. Den Morgen genausowenig. Nichts als Totenglocken. Einer wie Corky hat einen guten Tag erwischt, wenn zehn Minuten lang nichts schiefgeht. Noch eins auf die Queen?«

»Nein, danke.«

Der Abschied wurde ihnen nicht leicht gemacht. Sie trafen sich im ersten Morgengrauen auf Miss Mabels Startbahn wie eine Schar Flüchtlinge; Jed, die eine Sonnenbrille trug, wollte niemanden sehen. Im Flugzeug saß sie, noch immer mit Sonnenbrille, zusammengekrümmt auf der Rückbank, neben ihr Corkoran und auf der anderen Seite Daniel, und Jonathan vorne zwischen Frisky und Tabby- Nach der Landung in Nassau wurden sie an der Sperre von MacArthur in Empfang genommen. Corkoran gab ihm die Pässe, einschließlich den Jonathans, und alle wurden durchgewinkt. Kein Problem.

»Jed wird sich übergeben«, erklärte Daniel, als sie in den neuen Rolls stiegen. Corkoran sagte, er solle den Mund halten. Ropers Villa, ein überrankter Stuckbau im Tudorstil, wirkte unerwartet vernachlässigt.

Am Nachmittag nahm Corkoran Jonathan auf einen großen Einkaufsbummel nach Freetown mit. Corkoran machte einen unausgeglichenen Eindruck. Mehrmals trat er in schmierige, kleine Bars, um sich zu stärken; Jonathan trank nur Cola. Jeder schien Corkoran zu kennen, manche ein wenig zu gut. Frisky ging in einigem Abstand hinter ihnen her. Sie kauften drei sehr kostspielige italienische Straßenanzüge - die Hosen bitte schnellstmöglich fertig machen, Clive, sonst dreht der Chef durch -, dann ein halbes Dutzend Cityhemden, dazu passende Socken und Krawatten, Schuhe und Gürtel, einen leichten dunkelblauen Regenmantel, Unterwäsche, Leinen-Taschentücher, Pyjamas, ein schönes Ledernecessaire mit Elektrorasierer und zwei edlen Haarbürsten mit silbernen T´s. »Das T muß sein, sonst nimmt mein Freund die Dinger nicht, stimmt's, Lieber!« Und als sie wieder in Ropers Villa waren, vollendete Corkoran sein Werk und präsentierte Jonathan eine schweinslederne Brieftasche voller Kreditkarten auf den Namen Thomas, einen schwarzledernen Aktenkoffer, eine goldene Piaget-Armbanduhr und ein Paar goldener Manschettenknöpfe mit den eingravierten Initialen DST.

Als man schließlich - Jed und Roper entspannt und heiter - im Salon zusammengefunden hatte, um Dom zu trinken, bot Jonathan das mustergültige Bild eines modernen jungen Managers.

»Was halten wir von ihm, Leute?« fragte Corkoran mit dem Stolz des Schöpfers.

»Verdammt gelungen«, sagte Roper eher gleichgültig.

»Super«, sagte Jed.

Nach dem Dom ging's zu Enzos Restaurant und Paradise Island, wo Jed Hummersalat bestellte.

Und das war alles. Ein Hummersalat. Jed hatte den Arm um Ropers Nacken gelegt, als sie das bestellte. Und ließ ihn dort auch liegen, als Roper ihre Bestellung an den Inhaber weitergab. Sie saßen nebeneinander, weil es ihr letzter gemeinsamer Abend war und sie, wie jeder wußte, ungeheuer verliebt waren. »Ihr Lieben«, sagte Corkoran und hob ihnen sein Weinglas entgegen. »Ein perfektes Paar. Unglaublich schön. Das soll der Mensch nicht scheiden.« Er kippte das Glas in einem Zug herunter, während der italienische Inhaber unterwürfig sein Bedauern darüber ausdrückte, daß es keinen Hummersalat mehr gebe.

»Kalbfleisch, Jeds?« schlug Roper vor. »Penne ist gut. Polio? Nimm ein Polio. Oder besser nicht. Zuviel Knoblauch. Mag den Geruch nicht. Fisch. Bringen Sie ihr Fisch. Willst du Fisch, Jeds? Seezunge? Was haben Sie an Fisch anzubieten?«

»Jeder Fisch«, sagte Corkoran, »sollte das Opfer zu würdigen wissen.« Jed nahm Fisch anstelle des Hummers.

Auch Jonathan aß Fisch und erklärte, daß er vorzüglich sei. Jed fand ihren phantastisch. Dasselbe sagten auch die Mac-Danbies, die von Roper abkommandiert worden waren, um die Runde zu vervollständigen.

»Für mich sieht er nicht phantastisch aus«, sagte Corkoran.

»Aber Corks, er ist viel besser als Hummer. Mein absolutes Lieblingsessen.«

»Hummer auf der Speisekarte, Hummer in rauhen Mengen auf der ganzen Insel, warum zum Geier gibt's dann hier keinen?« beharrte Corkoran.

»Haben's eben verbummelt, Corks. Wir können nicht alle solche Genies sein wie du.«

Roper war mit den Gedanken woanders. Nicht abweisend. Er hatte nur irgendetwas im Kopf, und seine Hand in Jeds Schoß. Aber Daniel, der bald nach England zurück sollte, glaubte seinen Vater aus der Reserve locken zu müssen.

»Roper hat ein Riesending in petto«, verkündete er in ein unheilvolles Schweigen. »Wenn er diesen ungeheuren MegaDeal über die Bühne gebracht hat, ist er für immer außer Reichweite.«

»Dans, halt den Rand«, sagte Jed hastig.

»Was ist braun und klebrig?« fragte Daniel. Niemand wußte es. »Ein Joint«, sagte er.

»Dans, Junge, sei still«, sagte Roper.

Aber Corkoran war an diesem Abend ihr Schicksal; er stürzte sich in eine Geschichte über einen Freund von ihm, einen Anlageberater namens Shortwar Wilkins, der seinen Klienten bei Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs mitgeteilt hatte, die Sache wäre in sechs Wochen vorbei.

»Und was ist aus ihm geworden?« fragte Daniel.

»Ein Müßiggänger, fürchte ich, Dan. Fix und fertig. Schnorrt Geld von seinen Freunden. Ähnlich wie ich in ein paar Jahren. Denken Sie an mich, Thomas, wenn Sie in Ihrem Rolls durch die Gegend schaukeln und zufällig einen Straßenkehrer sehen, der Ihnen bekannt vorkommt. Dann werfen Sie uns doch eine Münze zu, ja, um der alten Zeiten willen? Auf Ihr Wohl, Thomas. Langes Leben, Sir. Mögen Sie alle ein langes Leben haben, Prost.«

»Auf Ihr Wohl, Corky«, sagte Jonathan.

Ein MacDanby versuchte seine Geschichte von irgendwem loszuwerden, aber wieder sprach Daniel dazwischen:

»Wie kann man die Welt retten?«

»Verrat es mir, Junge«, sagte Corkoran. »Ich will's unbedingt wissen.«

»Man muß die Menschheit ausrotten.«

»Dans, halt die Klappe«, sagte Jed. »Du bist abscheulich.«

»Ich habe nur gesagt: Man muß die Menschheit ausrotten! Das ist ein Witz! Kannst du nicht mal einen Witz verstehen?« Er hob beide Arme und schoß mit einem imaginären Maschinengewehr alle Anwesenden von den Stühlen. »Ba-ba-ba-ba-ba - na also! Die Welt ist gerettet! Keiner mehr da.«

»Thomas, gehen Sie mit Dans spazieren«, befahl Roper über den Tisch hinweg. »Bringen Sie ihn erst zurück, wenn er sich wieder benehmen kann.«

Doch als Roper das sagte - nicht allzu überzeugend, weil Daniel an diesem letzten Abend vor seiner Abreise Nachsicht verdiente -, wurde ein Hummersalat vorbeigetragen. Corkoran bemerkte es. Und Corkoran packte den schwarzen Kellner, der ihn trug, am Handgelenk und riß ihn zur Seite.

He, Mann, schrie der verschreckte Kellner und blickte mit einfältigem Grinsen im Saal herum, in der Hoffnung, ihm werde bloß ein Streich gespielt.

Schon kam der Inhaber angerannt. Frisky und Tabby, die als Bodyguards am Tisch in der Ecke saßen, erhoben sich und knöpften ihre Blazer auf. Alles erstarrte.

Corkoran war aufgestanden und bearbeitete mit erstaunlicher Kraft den Arm des Kellners, so daß der Ärmste sich ganz gegen seine Natur verbog und sein Tablett in alarmierende Schieflage geriet. Corkorans Gesicht war puterrot, als er mit hochgerecktem Kinn den Inhaber anschrie.

»Sprechen Sie Englisch, Sir?« fragte er so laut, daß das ganze Restaurant mithören konnte. »Ich schon. Diese Dame hier hat Hummer bestellt, Sir. Sie haben gesagt, es gibt keinen Hummer mehr. Sie sind ein Lügner, Sir. Und Sie haben diese Dame und ihren Gemahl beleidigt, Sir. Es ist noch Hummer da!«

»War vorbestellt!« beteuerte der Inhaber mutiger, als Jonathan ihm zugetraut hätte. »Eine Sonderbestellung. Heute morgen um zehn Uhr. Sie wollen auf jeden Fall Hummer? Dann bestellen Sie rechtzeitig. Lassen Sie diesen Mann los!«

Niemand am Tisch hatte sich bewegt. Die Große Oper hat ihre eigenen Gesetze. Selbst Roper schien fürs erste unschlüssig, ob er sich einmischen sollte.

»Wie heißen Sie?« fragte Corkoran den Inhaber.

»Enzo Fabrizzi.«

»Laß das, Corks«, befahl Roper. »Allmählich wird's langweilig. Also Schluß damit.«

»Corks, hör auf«, sagte Jed.

»Wenn die Dame ein bestimmtes Gericht haben will, Mr. Fabrizzi, sei es Hummer oder Leber oder Fisch oder etwas ganz Ordinäres wie ein Steak oder ein Stück Kalbfleisch - dann haben Sie es der Dame zu geben. Denn wenn Sie's nicht tun, Mr. Fabrizzi, werde ich dieses Lokal kaufen. Ich bin stinkreich, Sir. Und Sie werden die Straße fegen, Sir, während unser Mr. Thomas hier in seinem Rolls-Royce an Ihnen vorüberschnurrt.«

Jonathan, prachtvoll in seinem neuen Anzug am hinteren Ende des Tisches, hatte sich erhoben und sein Meister-Hotel-Lächeln aufgesetzt.

»Zeit, die Party zu beenden, meinen Sie nicht, Chef?« sagt er ungeheuer liebenswürdig, während er auf Roper am anderen Ende des Tisches zuschlendert. »Wir sind alle ein wenig müde von der Reise. Mr. Fabrizzi, ich wüßte nicht, wann ich einmal besser gegessen hätte. Jetzt brauchen wir nur noch die Rechnung, falls Ihre Leute so freundlich sind, uns eine auszustellen.«

Jed erhebt sich mit leerem Blick. Roper legt ihr die Stola um die Schultern, Jonathan zieht ihren Stuhl zurück, sie dankt mit abwesendem Lächeln. Ein MacDanby bezahlt. Ein gedämpfter Schrei ertönt, als Corkoran ernstlich auf Fabrizzi losgehen will - aber Frisky und Tabby halten ihn glücklicherweise zurück, denn inzwischen sind bereits mehrere andere Kellner wild entschlossen, ihren Kollegen zu rächen. Irgendwie schaffen es alle, den Bürgersteig zu erreichen, dann fährt der Rolls vor.

Ich gehe nirgendwo hin, hatte sie heftig gesagt, als sie Jonathans Gesicht hielt und ihm in die einsamen Augen starrte. Ich habe mich einmal verstellt. Ich kann mich auch nochmal verstellen. Ich kann mich so lange verstellen, wie die Sache dauert...

Er wird dich umbringen, hatte Jonathan gesagt. Er wird dahinterkommen. Unausweichlich. Alle reden schon hinter seinem Rücken über uns.

Aber wie Sophie schien sie sich für unsterblich zu halten.