9
Am Muttertag kommt Jonathan nach Esperance. Sein dritter Zementlaster auf vierhundert Meilen hat ihn an der Kreuzung oben an der Avenue des Artisans abgesetzt. Seine Dritte-Welt-Reisetasche schwingend, geht er den Bürgersteig hinunter, vorbei an Schildern, auf denen es heißt: Merci Maman, Bienvenue a toutes les mamans und Vaste Buffet Chinois des Meres.
Die Sonne des Nordens ist der reinste Balsam für ihn. Es ist, als ob er Licht und Luft zugleich einatmet. Ich bin zu Hause. Da bin ich.
Nach acht Monaten Schnee läßt diese unbeschwerte Goldgräberstadt in der Abendsonne der Heiterkeit ihren Lauf; und dafür ist sie unter ihren Nachbarn in der Provinz Quebec, in den Ortschaften, die längs des größten Nephrit-Gürtels der Welt verstreut sind, berühmt. Sie ist heiterer als Timmins weiter westlich im öden Ontario, lebendiger als Val d'Or im Osten, bei weitem heiterer als die trostlosen Angestellten-Siedlungen der Wasserwerks-Ingenieure im Norden. Narzissen und Tulpen stehen stolz wie Soldaten im Garten der weißen Kirche mit dem Bleidach und dem schlanken Turm, Löwenzahnblüten, groß wie Dollars, bedecken den Grashang unterhalb der Polizeiwache. Nachdem sie den Winter über unterm Schnee gewartet haben, sind die Blumen nun genauso ausgelassen wie die Stadt. Die Geschäfte für die Neureichen und solche, die es werden wollen - die Boutique Bebe mit ihren rosa Giraffen, die nach glücklichen Bergleuten und Goldschürfern benannten Pizzalokale, die Pharmacie des Croyants, die auch Hypnotherapie und Massage anbietet, die nach Venus und Apollo benannten Bars mit ihrem Neonlicht, die stattlichen Bordelle, die die Namen ehemaliger Puffmütter tragen, die japanische Sauna mit ihrem Pagodendach und dem Plastiksteingarten, die Banken aller Arten und Richtungen, die Schmuckgeschäfte, wo die Claimdiebe das gestohlene Edelmetall zu schmelzen pflegten und es gelegentlich auch heute noch tun, die Hochzeitsgeschäfte mit ihren jungfräulichen Wachsbräuten, der polnische Feinkostladen, der für >films super-erotiques XXX < Reklame macht, als wären dies kulinarische Ereignisse, die Restaurants, die für die Schichtarbeiter rund um die Uhr geöffnet sind, sogar die Notarskanzleien mit ihren geschwärzten Fenstern - sie alle funkeln im Glanz des Frühsommers, und sie alle rufen >merci Maman<: on va avoir du fun!
Jonathan sieht in die Schaufenster oder dankbar zum blauen Himmel hinauf und läßt sich das eingefallene Gesicht von der Sonne wärmen; Motorradfahrer mit Bärten und Sonnenbrillen donnern die Straße rauf und runter, jagen die Maschinen hoch und wackeln mit ledernen Hinterteilen den Mädchen zu, die an den Tischchen draußen auf dem Bürgersteig ihre Cola schlürfen. In Esperance fallen die Mädchen auf wie Papageien. Die Matronen im öden Ontario nebenan mögen sich kleiden wie Sofas auf einer Beerdigung, aber die heißblütigen Quebecoises hier in Esperance machen jeden Tag zum Karneval, sie tragen bunte Baumwollkleider und goldene Armreifen, die einem über die Straße zulächeln.
Es gibt keine Bäume in Esperance. Ganz von Wäldern umgeben, betrachten die Einwohner der Stadt freien Raum als Errungenschaft. Es gibt auch keine Indianer in Esperance, beziehungsweise sie treten nicht in Erscheinung, falls man nicht wie Jonathan einen entdeckt, der mit Frau und Familie seinen Transporter mit einer Tausend-Dollar-Ladung an Vorräten aus dem supermarche belädt. Einer von ihnen sitzt als Wache im Wagen, während die anderen in der Nähe bleiben.
Es gibt auch keine ordinäre Zurschaustellung von Reichtum in der Stadt, einmal abgesehen von den Fünfundsiebzigtausend-Dollar-Motorjachten auf dem Parkplatz neben der Küche des Chäteau Babette und den Rudeln von Harley Davidsons vor dem Bonnie & Clyde Saloon. Kanadier -französische oder andere - legen keinen Wert darauf, eine Schau abzuziehen, weder mit Geld noch mit Gefühlen. Natürlich gibt es noch immer Glückspilze, die hier ein Vermögen machen. Und Glück ist die wahre Religion dieser Stadt. Jeder träumt von einer Goldader in seinem Garten, und einige Glückliche sind tatsächlich auf eine gestoßen. Diese Männer in Baseballmützen, Turnschuhen und Bomberjacken, die auf der Straße in mobile Telefone sprechen: in anderen Städten wären sie Drogenhändler oder Callboys oder Zuhälter, aber hier in Esperance sind sie mit dreißig friedliche Millionäre. Und die Älteren, die essen mittags ihren Proviant eine Meile unter der Erde aus Blechbüchsen.
Jonathan verschlingt all dies in den ersten Minuten nach seiner Ankunft mit den Augen. In seinem Zustand hellwacher Erschöpfung nimmt er alles auf einmal in sich auf, während er innerlich vor Dankbarkeit jubelt wie ein Reisender, der den Fuß ins gelobte Land gesetzt hat. Es ist schön. Ich habe dafür gearbeitet. Es gehört mir.
Er hatte, ohne sich einmal umzusehen, den Lanyon im Morgengrauen verlassen und war nach Bristol gefahren, um dort für eine Woche unterzutauchen. Er hatte sein Motorrad in einem heruntergekommenen Stadtteil abgestellt, wo Rooke es, wie versprochen, stehlen lassen würde; er hatte den Bus nach Avonmouth genommen, wo er in einer Matrosenherberge abstieg, die von zwei älteren Homosexuellen geführt wurde; Rooke zufolge waren die beiden dafür bekannt, nicht mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Es regnete Tag und Nacht, und als Jonathan am dritten Tag beim Frühstück saß, hörte er im örtlichen Radio zum erstenmal seinen Namen und seine Beschreibung; wurde zuletzt im westlichen Cornwall gesehen, Verletzung an der rechten Hand, wählen Sie folgende Nummer. Während er zuhörte, sah er, daß auch die beiden Iren zuhörten: Sie ließen sich nicht aus den Augen. Er bezahlte seine Rechnung und fuhr mit dem Bus nach Bristol zurück.
Schmutzige Wolken wälzten sich über die zerstörte Industrielandschaft. Die Hand in der Tasche - er hatte den Verband auf ein schlichtes Pflaster reduziert -, ging er durch die feuchten Straßen. Als er beim Friseur saß, erkannte er sein Bild auf der Rückseite der Zeitung eines anderen Kunden; es war das Foto, das Burrs Leute von ihm in London aufgenommen hatten: Es sah ihm mit Absicht nicht ähnlich, aber doch ähnlich genug. Er wurde zu einem Geist, der in einer Geisterstadt spukte. In des Cafes und Billardsälen wirkte er zu harmlos und isoliert, in den besseren Straßen zu abgerissen. Die Kirchen, in die er gehen wollte, waren verschlossen. Wenn er im Spiegel sein Gesicht überprüfte, erschrak er über den feindseligen Ausdruck. Jumbos vorgetäuschter Tod saß wie ein Stachel in seinem Fleisch. Visionen, wie sein angebliches Opfer ungemordet und ungejagt in irgendeinem sicheren Zufluchtsort fröhlich zechte, verhöhnten ihn bei allen möglichen Gelegenheiten. Dennoch nahm er in seiner anderen Rolle die Schuld seines Scheinverbrechens entschlossen auf sich. Er kaufte ein Paar Lederhandschuhe und warf den Verband weg. Um sein Flugticket zu kaufen, inspizierte er einen Vormittag lang verschiedene Reisebüros, bevor er sich für das belebteste und anonymste entschied. Er bezahlte in bar und buchte auf den Namen Fine einen Flug für zwei Tage später. Dann nahm er den Bus zum Flughafen und buchte auf denselben Abend um. Ein Platz war noch frei. Am Flugsteig wollte in Mädchen in Uniform seinen Paß sehen. Er zog seinen Handschuh aus und reichte ihn ihr mit der gesunden Hand.
»Heißen Sie nun Pine oder Fine?« wollte sie wissen.
»Was Ihnen lieber ist«, versicherte er mit einem Aufblitzen seines alten Hotelierslächeln, und sie winkte ihn widerwillig durch - oder hatte Rooke sie bestochen?
Nach der Landung in Paris-Orly vermied er das Risiko, auszuchecken, und blieb die ganze Nacht im Transitbereich sitzen. Am Morgen nahm er einen Flug nach Lissabon, diesmal auf den Namen Dine; Rooke hatte ihm nämlich geraten zu versuchen, dem Computer immer einen Schritt voraus zu bleiben. In Lissabon tauchte er wiederum im Hafenviertel unter.
»Das Schiff heißt Stern von Bethlehem und ist ein halbes Wrack«, hatte Rooke gesagt. »Aber der Käpten ist käuflich, und genau das brauchen Sie.«
Er sah einen stoppelbärtigen Mann im Regen von einem Heuerbüro zum anderen schlurfen, und dieser Mann war er selbst. Er sah, wie der Mann einem Mädchen Geld für eine Übernachtung gab und dann bei ihr auf dem Fußboden schlief, während sie wimmernd auf dem Bett lag, weil sie Angst vor ihm hatte. Hätte sie weniger Angst vor mir, wenn ich mir ihr schlafen würde? Er blieb nicht, um es herauszufinden, sondern ging, bevor es hell wurde, und lief noch einmal durch die Hafengegend; im äußeren Hafen entdeckte er den Stern von Bethlehem, ein schmutziges Zwölftausend-Tonnen-Kohlenschiff auf dem Weg nach Pughwash, Nova Scotia. Doch als er beim Schiffsagenten nachfragte, sagte man ihm, die Besatzung sei vollzählig, das Schiff werde mit der Abendflut auslaufen. Durch Bestechung kam Jonathan doch noch an Bord. Ob der Kapitän ihn erwartet hatte? Jonathan kam es so vor.
»Was kannst du denn so, mein Sohn?« fragte der Kapitän, ein großer Schotte mit freundlicher Stimme. Er mochte um die vierzig sein. Hinter ihm stand ein barfüßiges Filipino-Mädchen von siebzehn.
»Kochen«, sagte Jonathan; der Kapitän lachte ihm ins Gesicht, nahm ihn aber als Hilfskraft unter der Bedingung, daß er die Überfahrt abarbeitete und er, der Kapitän, den Lohn in die eigene Tasche steckte.
Jetzt war er Kombüsensklave, mußte in der schlechtesten Koje schlafen und die Bedingungen der Mannschaft über sich ergehen lassen. Der Schiffskoch war ein ausgemergelter Laskar, halbtot vom Heroin, und bald machte Jonathan Dienst für sie beide. In den wenigen Stunden, die ihm zum Schlafen blieben, träumte er die süßen Träume von Gefangenen, und Jed, ohne ihren Morgenmantel von Meister, spielte darin die Hauptrolle. Dann klopften ihm eines sonnigen Morgens die Matrosen auf die Schultern und sagten, so gutes Essen hätten sie auf See noch nie bekommen. Aber Jonathan wolle nicht mit ihnen an Land gehen. Mit Vorräten ausgestattet, die er beiseite geschafft hatte, verschwand der Beobachter in einem Versteck, das er im vorderen Laderaum angelegt hatte, und blieb dort noch zwei Nächte, bevor er sich an der Hafenpolizei vorbeischlich.
Allein auf einem riesengroßen und unbekannten Kontinent, überfiel Jonathan ein anderes Gefühl des Verlusts. Seine Entschlossenheit schien plötzlich in der strahlenden Kargheit der Landschaft zu versickern. Roper ist eine Abstraktion, das gilt auch für Jed und mich. Ich bin gestorben, und das ist mein Leben nach dem Tode. Er wanderte am Rand des gleichgültigen Highway entlang, schlief in Fernfahrerunterkünften und Scheunen, schuftete zwei Tage für einen Tageslohn und betete, das Gefühl, berufen zu sein, möge ihm zurückgegeben werden.
»Am besten versuchen Sie es im Chäteau Babette«, hatte Rooke gesagt. »Ein großes und schlampiges Haus, geführt von einer alten Vettel, der dauernd die Leute weglaufen. Genau das richtige, wenn man sich verkriechen will.«
»Der ideale Ausgangspunkt für Sie, nach Ihrem Schatten zu suchen«, hatte Burr gesagt.
Schatten bedeutete Identität, Schatten bedeutete Substanz in einer Welt, in der Jonathan zum Gespenst geworden war.
Das Chateau Babette hockte wie eine zerlumpte alte Henne mitten im Trubel der Avenue des Artisans. Es war das Meister von Esperance. Jonathan erkannte es nach Rookes Beschreibung sofort, und als er auf das Haus zuging, blieb er auf der anderen Straßenseite, um es besser betrachten zu können. Ein großes altersschwaches Holzgebäude, recht düster für ein ehemaliges Freudenhaus. Eine Steinurne stand an jeder Ecke des scheußlichen Vorbaus. Zerbröckelnde nackte Jungfrauen veranstalteten darauf in einem Walddekor ihre Kapriolen. Der ehrwürdige Name war senkrecht in ein morsches Brett gebrannt. Als Jonathan die Straße überquerte, ließ ein scharfer Ostwind es rattern wie eine Eisenbahn und wehte ihm Sand in die Augen und den Geruch von frites und Haarspray in die Nase.
Er stieg die Eingangstreppe hinauf, stieß zuversichtlich die alte Pendeltür auf und trat ins Dunkel einer Gruft. Als erstes glaubte er von ferne Männergelächter zu hören und den Gestank des Abendessens vom Vorabend zu riechen. Nach und nach erkannte er einen bossierten kupfernen Postkasten, dann eine alte Standuhr mit Blüten auf dem Ziffernblatt, die ihn an den Lanyon erinnerte, dann einen mit Briefen und Kaffeebechern übersäten Empfangstisch, der von einer Reihe bunter Lämpchen beleuchtet wurde. Männliche Gestalten standen um ihn herum, von ihnen kam das Lachen. Seine Ankunft war offenbar mit einer Horde geiler Markscheider aus Quebec zusammengefallen, die mal ein bißchen auf den Putz hauen wollten, ehe es am nächsten Tag zu irgendeiner Mine im Norden weiterging. Ihre Koffer und Reisetaschen lagen in einem wirren Haufen am Fuß einer breiten Treppe. Zwei slawisch aussehende Pagen mit Ohrringen und grünen Schürzen suchten mürrisch zwischen den Adressenanhängern herum.
»Et vous, Monsieur, vous etes qui?« kreischte ihm ein weibliche Stimme über den Lärm hinweg zu.
Jonathan erkannte die majestätische Gestalt von Madame Latulipe, der Inhaberin, die in einem lila Turban und dick geschminkt hinter der Rezeption stand. Sie hatte den Kopf nach hinten geneigt, um ihn zu betrachten, und sie spielte für ihr ausschließlich männliches Publikum.
»Jacques Beauregard«, antwortete er.
»Comment, che'ri?«
Nicht gewohnt, die Stimme zu erheben, rief er noch einmal über das Getöse hinweg: Beauregard. Aber irgendwie fiel ihm der Name leichter als Linden.
»Pas d 'bagages?«
»Pas de bagages.«
»Alors, bon soir et amusez-vous bien, m'sier«, kreischte Madame Latulipe zurück und übergab ihm den Schlüssel. Jonathan hatte den Eindruck, daß sie ihn für einen dieser Markscheider hielt, fand es aber nicht nötig, sie aufzuklären.
»Allez-vous manger avec nous a soir, M'sieu Beauregard?« rief sie, denn ihr war plötzlich seine ansehnliche Erscheinung aufgefallen, als er die Treppe hochstieg.
Jonathan sagte nein, danke, Madame - Zeit, schlafen zu gehen.
»Aber mit leerem Magen kann man doch nicht schlafen, M'sieu Beauregard!« protestierte Madame Latulipe kokett, wieder zum Gefallen ihrer lärmenden Gäste. »Zum Schlafen braucht man Energie, wenn man ein Mann ist! N'est-ce pas, mes gars?«
Jonathan blieb auf dem Treppenabsatz stehen und lachte tapfer mit, bestand aber weiter darauf, daß er jetzt schlafen müsse.
»Bicu, tant pis, d'abord!« schrie Madame Latulipe.
Sie störte sich weder an seinem außerplanmäßigen Eintreffen noch an seinem ungepflegten Äußeren. Ungepflegtheit wirkte in Esperance beruhigend und war für Madame Latulipe, die selbsternannte Kultursachverständige der Stadt, ein Zeichen von Geist. Er war farouche, aber in ihrem Wörterbuch bedeutete farouche vornehm: und sie hatte Künstlerisches in seinem Gesicht entdeckt. Er war ein sauvage distingue, die Art von Mann, die sie am liebsten mochte. Nach seinem Akzent hatte sie ihn unwillkürlich zum Franzosen erklärt. Oder vielleicht war er Belgier, sie war keine Expertin, ihre Ferien verbrachte sie in Florida. Sie wußte nur, daß sie ihn verstand, wenn er Französisch sprach, er aber, wenn sie mit ihm sprach, so unsicher aussah wie alle Franzosen, wenn sie aus Madame Latulipes Mund hörten, was diese für die wahre, die unverdorbene Version ihrer Sprache hielt.
Nichtsdestotrotz beging Madame Latulipe aufgrund dieser spontanen Beobachtungen einen verzeihlichen Fehler. Sie brachte Jonathan nicht auf einer der Etagen unter, wo man so bequem Damenbesuch empfangen konnte, sondern in ihrem grenier, in einem von vier hübschen Mansardenzimmern, die sie für ihre Bohemien-Gefährten zu reservieren pflegte. Und sie verschwendete keinen Gedanken an die Tatsache - aber wozu auch? -, daß ihre Tochter Yvonnne zwei Türen weiter vorübergehend Zuflucht gesucht hatte.
Vier Tage blieb Jonathan in dem Hotel, ohne daß Madame Latulipe ihm mehr von ihrer brennenden Neugierde gewidmet hätte als den anderen männlichen Gästen.
»Aber Sie haben ja Ihre Leute im Stich gelassen!« rief sie ihm in gespielter Bestürzung zu, als er am nächsten Morgen, allein und zu spät, zum Frühstück erschien. »Sind Sie nicht mehr länger Markscheider? Haben Sie gekündigt? Möchten Sie vielleicht Dichter werden? Wir schreiben viele Gedichte in Esperance.«
Als er am Abend zurückkam, fragte sie ihn, ob er heute eine Elegie verfaßt oder ein Meisterwerk gemalt habe. Sie meinte, er solle etwas essen, aber wieder lehnte er ab.
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Tant pis d'abord«, sagte sie; es war ihre übliche Antwort auf nahezu alles.
Im übrigen war er für sie Zimmer 306, unproblematisch. Erst als er sie am Donnerstag um Arbeit bat, unterzog sie ihn einer genaueren Prüfung. »Was denn für eine Arbeit, mon gars?« fragte sie. »Wollen Sie vielleicht für uns in der Disco singen? Spielen Sie Geige?«
Aber sie war nun auf der Hut. Sie fing seinen Blick auf und fand sich aufs neue in ihrem Eindruck bestätigt, daß dieser Mann sich von den anderen fernhielt. Vielleicht zu. sehr fernhielt. Sie besah sein Hemd und stellte fest, daß es dasselbe war, das er bei seiner Ankunft getragen hatte. Wieder so ein Goldgräber, der seinen letzten Dollar verspielt hat, dachte sie. Wenigstens haben wir nicht auch noch sein Essen bezahlt.
»Irgendeine Arbeit«, antwortete er.
»Aber es gibt viele Jobs in Esperance, Jacques«, wandte Madame Latulipe ein.
»Ich weiß«, sagte Jonathan, drei Tage lang hatte er gallisches Achselzucken oder Schlimmeres erlebt. »Ich habe es in Restaurants versucht, in Hotels, auf der Bootswerft und im Jachthafen. In vier Minen und zwei Holzfällereien, beim Zementwerk, bei zwei Tankstellen und der Papierfabrik. Die wollten mich auch nicht haben.«
»Aber warum denn nicht? Sie sind doch sehr ansehnlich,
sehr einfühlsam. Warum wollen die Sie denn nicht haben, Jacques?«
»Sie brauchen Papiere. Meine Sozialversicherungsnummer. Den Nachweis der kanadischen Staatsbürgerschaft. Den Nachweis, daß ich legal eingewandert bin.«
»Und Sie können nichts davon vorweisen? Sie sind zu ästhetisch?«
»Mein Paß liegt bei der Einwanderungsbehörde in Ottawa. Er wird dort bearbeitet. Das glaubt man mir nicht. Ich bin Schweizer«, fügte er hinzu, als sei dies eine Erklärung für die Ungläubigkeit der Leute.
Aber inzwischen hatte Madame Latulipe auf die Klingel gedrückt, und ihr Mann erschien.
Andre Latulipes Geburtsname war nicht Latulipe, sondern Kwiatkowski. Erst als seine Frau das Hotel von ihrem Vater erbte, hatte er eingewilligt, ihren Namen anzunehmen und auf die Weise einen Zweig des Adels von Esperance zu erhalten. Er war Einwanderer der ersten Generation und hatte ein Engelsgesicht, eine breite, kahle Stirn und vorzeitig weiß gewordenes Haar. Er war klein und stämmig und so nervös, wie Männer mit fünfzig werden, wenn sie sich halb zu Tode gearbeitet haben und sich plötzlich fragen, warum. Als Kind war Andrzej Kwiatkowski in Kellern versteckt und in tiefer Nacht über verschneite Bergpässe geschmuggelt worden. Er war aufgegriffen, verhört und freigelassen worden. Er wußte, was es hieß, vor Uniformen zu stehen und zu beten. Er sah sich Jonathans Zimmerrechnung an und stellte genau wie seine Frau beeindruckt fest, daß sie keine Extrakosten enthielt. Ein Schwindler hätte das Telefon benutzt, an der Bar und im Restaurant Rechnungen abgezeichnet. Ein Schwindler hätte sich bei Mitternacht aus dem Staub gemacht. Die Latulipes waren in ihrem Leben manchen Schwindlern aufgesessen, und alle hatten sich so verhalten.
Die Rechnung noch in der Hand, sah Monsieur Latulipe Jonathan langsam von oben bis unten an, wie seine Frau es auch schon getan hatte, aber verständnisvoll: Er sah die braunen Wanderstiefel, abgewetzt, aber rätselhaft sauber; seine Hände, die kleinen Hände eines Handwerkers, die er respektvoll an den Hosennähten hielt; seine ordentliche Haltung, die verhärmten Züge und das Glimmen der Verzweiflung in seinen Augen. Monsieur Latulipe sah einen Mann, der sich bemühte, in einer bessern Welt Fuß zu fassen, und er fühlte sich zum ihm hingezogen.
»Was haben Sie gelernt?« fragte er.
»Kochen«, sagte Jonathan.
Und damit gehörte er zur Familie. Und zu Yvonne.
Sie kannte ihn sofort: ja. Es war, als wären Signale, die auszutauschen normalerweise Monate erfordert hätte, durch Vermittlung ihrer entsetzlichen Mutter in einer Sekunde ausgesandt und empfangen worden.
»Das ist Jacques, unser neuestes Geheimnis«, sagte Madame Latulipe, indem sie, ohne anzuklopfen, die Tür eines Zimmers aufstieß, das keine drei Meter über den Flur neben Jonathans lag.
Und du bist Yvonne, dachte er und verlor, ihm selbst unerklärlich, jedes Schamgefühl.
Mitten im Zimmer stand ein Schreibtisch. Eine Leselampe aus Holz beleuchtete die eine Seite ihres Gesichts. Sie tippte, und als sie merkte, daß es ihre Mutter war, tippte sie erst einmal fertig, so daß Jonathan der Spannung ausgesetzt war, eine unordentliche blonde Mähne zu betrachten, bis Yvonne endlich geruhte den Kopf zu heben. An die Wand war ein Einzelbett geschoben. Übereinandergestapelte Körbe mit gewaschener Bettwäsche nahmen den übrigen Raum ein. Das Zimmer war ordentlich, aber es gab keine Erinnerungsstücke und Fotos. Bloß einen Toilettenbeutel neben dem Waschbecken und auf dem Bett einen Löwen mit einem Reißverschluß am Bauch für ihr Nachthemd. Einen schrecklichen Augenblick lang mußte er an Sophies abgeschlachteten Pekinesen denken. Den Hund habe ich auch getötet, dachte er.
»Yvonne ist unser Familiengenie, n'est-ce pas, ma chere? Sie hat Kunst studiert, hat Philosophie studiert, hat alle Bücher gelesen, die je gedruckt worden sind. N'est-ce pas, ma cherie? Jetzt spielt sie für uns die Verwalterin, lebt wie eine Nonne, und in zwei Monaten wird sie mit Thomas verheiratet sein.«
»Und sie kann tippen«, sagte Jonathan; warum, das wußte Gott allein.
Langsam schob sich der Briet aus dem Drucker. Yvonne sah Jonathan an, und er konnte ihre linke Gesichtshälfte in allen Einzelheiten betrachten: das klare, ungezähmte Auge, die slawische Stirn und das unnachgiebige Kinn ihres Vaters, die seidigen Härchen auf den Wangenknochen, die Seite des kräftigen Halses, der sich in der Bluse verlor. Ihre Schlüsselkette trug sie wie ein Schmuckstück um den Hals, und als sie sich aufrichtete, rutschten die Schlüssel klimpernd zwischen ihre Brüste.
Sie stand auf, eine große und auf den ersten Blick maskulin wirkende Frau. Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie - warum auch hätte er zögern sollen? Beauregard, ein Neuling in Esperance und im Leben? Ihre Handfläche war fest und trocken. Sie trug Jeans, und wieder war es ihre linke Seite, die er im Licht der Schreibtischlampe zu sehen bekam: die strammen Jeansfalten, die sich vom Schritt bis zur linken Hüfte spannten. Dann das Formelle und Exakte ihrer Berührung.
Du bist eine kleine Wildkatze, dachte er, während sie gelassen seinen Blick erwiderte. Du hast schon früh Geliebte gehabt. Du bist high von Pot oder Schlimmerem auf Harley Davidsons mitgefahren. Und jetzt, mit über zwanzig, hast du eine Ebene erreicht, die man sonst Kompromiß nennt. Du bist zu kultiviert für die Provinz, aber zu provinziell für die Großstadt. Du bist verlobt und wirst irgendeinen Langweiler heiraten, aus dem du unbedingt etwas Besseres machen willst. Du bist Jed, doch auf dem absteigenden Ast. Du bist Jed mit Sophies Würde.
Sie kleidete ihn ein, und ihre Mutter schaute zu.
Die Dienstkleidung des Personals hing zum Lüften in einer Kleiderkammer, die sich eine halbe Etage tiefer auf dem Treppenabsatz befand. Yvonne ging voraus, und bis sie die Schranktür öffnete, hatte er Gelegenheit festzustellen, daß ihr Gang trotz ihrer burschikosen Art durchaus weiblich war: weder das stolze Gehabe des Wildfangs noch das Aufmerksamkeit heischende Hüftgewackel des Teenagers, sondern das geradlinige Auftreten einer erwachsenen und sinnlichen Frau.
»In der Küche trägt Jacques Weiß, ausschließlich Weiß, und täglich frische Sachen, Yvonne. Keine zwei Tage hintereinander dieselben Sachen, Jacques, das ist ein Grundsatz meines Hauses, wie jeder weiß. Im Babette wird leidenschaftlich auf Hygiene geachtet. Tant pis d'abord.«
Während ihre Mutter weiterplapperte, hielt Yvonne ihm erst die weiße Jacke an, dann die weiße Hose mit Gummiband am Bund. Dann schickte sie ihn zum Anprobieren in Zimmer 34. Ihre brüske Art, vielleicht der Mutter zuliebe, hatte etwas Sarkastisches. Als er zurückkam, behauptete ihre Mutter, die Ärmel seien zu lang; das stimmte zwar nicht, doch Yvonne zuckte nur die Schultern und steckte sie mit Nadeln ab, wobei ihre Hände gleichgültig die Jonathans streiften und sich ihre und seine Körperwärme mischten.
»Ist es gut so?« fragte sie mit einem Ton, als sei es ihr vollkommen egal.
»Jacques fühlt sich immer gut. Er hat verborgene Schätze, n'est-ce pas, Jacques?«
Madame Latulipe erkundigte sich nach seinen Freizeitbeschäftigungen. Ob er gern tanzen gehe? Jonathan antwortete, er sei zu allem bereit, vielleicht aber jetzt noch nicht. Ob er singe, ein Instrument spiele, ob er Theater spiele oder male? Für all diese Neigungen und mehr sei in Esperance gesorgt, versicherte ihm Madame Latulipe. Vielleicht würde er gern mal das eine oder andere Mädchen kennenlernen? Das sei doch normal, sagte Madame Latulipe: Viele kanadische Mädchen würde es interessieren, etwas vom Leben in der Schweiz zu erfahren. Verbindlich ausweichend, hörte Jonathan sich in seiner Aufregung etwas Verrücktes sagen:
»Na, in diesem Aufzug würde ich nicht weit kommen, stimmt's?« rief er so laut, daß er beinahe losprustete, während er Yvonne noch immer seine weißen Ärmel hinhielt. »Die Polizei würde mich an der nächsten Kreuzung verhaften, so wie ich aussehe, hab ich recht?«
Madame Latulipe stieß das wild schallende Gelächter aus, das typisch für humorlose Leute ist. Yvonne hingegen musterte ihn mit dreister Neugier, Auge in Auge. War es Taktik, oder war es teuflische Berechnung von mir? fragte Jonathan sich hinterher. Oder war es selbstmörderische Unbedachtsamkeit, daß ich ihr gleich in den ersten Augenblicken unseres Kennenlernens erzählt habe, daß ich auf der Flucht bin?
Die beiden älteren Latulipes konnten sich bald am Erfolg ihres neuen Angestellten erfreuen. Mit jedem Talent, das er offenbarte, wurde er ihnen sympathischer. Jonathan seinerseits, der mehr als pflichtgetreue Soldat, arbeitete von früh bis spät für sie. Es hatte in seinem Leben eine Zeit gegeben, da hätte er seine Seele verkauft, um die Schürze des Kochs mit dem eleganten schwarzen Jackett eines Nacht-Managers zu vertauschen. Jetzt nicht mehr. Frühstück begann um sechs, wenn die Männer von der Nachtschicht kamen. Jonathan erwartete sie bereits. Bestellungen wie ein 350-Gramm-Lendensteak, zwei Eier und Pommes frites waren nichts Ungewöhnliches. Die von seiner Gönnerin bevorzugten Säcke tiefgefrorener Fritten und das übelriechende Großküchen-Öl verschmähte er und verwendete nur die besten Zutaten: frische Kartoffeln, die er selbst schälte und vorkochte und dann in einer Mischung aus Sonnenblumen- und Erdnußöl fritierte, nur das Beste war gut genug. Ständig hatte er Suppenfond, er legte einen Blumenkasten mit Kräutern an, er machte Kasserolen, Schmorbraten und Knödel. Er entdeckte eine vergessene Garnitur Stahlmesser und schärfte sie meisterlich - niemand außer ihm durfte sie anrühren. Er setzte den alten Herd wieder in Gang, den Madame Latulipe je nachdem als unhygienisch, gefährlich, häßlich oder zu wertvoll zum Benutzen bezeichnet hatte. Wenn er Salz zum Essen gab, nahm er wie ein echter Koch die Hand hoch über den Kopf und ließ es aus der Höhe herabrieseln. Seine Bibel war ein zerfleddertes Exemplar seines geliebten Le Repertoire de la Cuisine, auf das er zu seiner Freude in einem örtlichen Trödelladen gestoßen war.
All dies beobachtete Madame Latulipe zunächst mit staunender, um nicht zu sagen hingerissener Bewunderung. Sie bestellte neue Dienstkleidung und neue Kochmützen für ihn, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte sie ihm kanariengelbe Westen, Lackstiefel und Kniebänder bestellt. Sie kaufte ihm kostspielige Tiegel und Dampfkochtöpfe, die er nach Kräften benutzte. Und als sie herausfand, daß er für die Glasur seiner creme brülee den Zucker mit einer normalen Lötlampe schmolz, war sie von dieser Verbindung des Artistischen mit dem Sachlichen so beeindruckt, daß sie darauf bestand, ihre Freundinnen aus der Boheme in die Küche zu führen, damit sie es selber sehen konnten.
»Er ist so raffiniert, unser Jacques, tu ne crois pas, Mimi, ma chere? Er ist reserviert, er sieht gut aus, er ist geschickt, und er kann ungeheuer dominierend sein. Bitte! Wir alten Damen dürfen so etwas sagen. Wir brauchen nicht rot zu werden wie kleine Mädchen, wenn wir einen schönen Mann sehen. Tant pis d'abord, Helene?«
Doch eben die Reserviertheit, die sie an Jonathan bewunderte, brachte sie auch in Rage. Wenn er ihr nicht gehörte, wem dann? Anfangs meinte sie, er schreibe einen Roman, aber bei einer Untersuchung der Papiere auf seinem Schreibtisch kamen nur ein paar Briefentwürfe zutage, Beschwerden an die Schweizer Botschaft in Ottawa, die der Beobachter, ihr Interesse ahnend, eigens für sie verfaßt hatte.
»Sind Sie verliebt, Jacques?«
»Nicht, daß ich wüßte, Madame.«
»Sind sie unglücklich? Sind Sie einsam?«
»Ich bin glücklich und zufrieden.«
»Aber zufrieden sein ist nicht genug! Sie müssen sich hingeben. Sie müssen täglich alles aufs Spiel setzen. Sie müssen begeistert sein.«
Jonathan sagte, seine Begeisterung sei die Arbeit.
Nach dem Mittagessen hätte Jonathan sich den Nachmittag frei nehmen können, aber meistens ging er in den Keller und half die Leergutkisten auf den Hof schleppen, während Monsieur Latulipe die Flaschen nachzählte: denn wehe, wenn ein Kellner oder Barmädchen privat eine Flasche einschmuggelte, um sie zu Discopreisen zu verkaufen.
An drei Abenden in der Woche kochte Jonathan für die Familie. Sie aßen zeitig am Küchentisch, und Madame Latulipe machte intellektuelle Konversation dazu.
»Sie sind aus Basel, Jacques?«
»Nicht weit von Basel, Madame.«
»Aus Genf?«
»Ja, näher bei Gent.«
»Genf ist die Hauptstadt der Schweiz, Yvonne.«
Yvonne hob nicht den Kopf.
»Bist du heute glücklich, Yvonne? Hast du mit Thomas gesprochen? Du mußt täglich mit ihm sprechen. Das ist normal, wenn man verlobt ist und heiraten will.«
Und gegen elf, wenn die Disco langsam in Schwung kam, war Jonathan wieder da und half aus. Vor elf gab es bloß Striptease-Shows, aber nach elf wurden die Darbietungen animierender, und die Mädchen zogen sich nicht mehr zwischen den Auftritten an, höchstens einen Fransengürtel für ihr Geld und vielleicht einen Morgenmantel, den sie aber gar nicht erst zubanden. Wenn sie für zusätzliche fünf Dollar für jemanden die Beine spreizten - eine Dienstleistung, die am Tisch erbracht wurde, auf einem Hocker, den das Haus eigens zu diesem Zweck zur Verfügung stellte -, glaubte man in den struppigen, künstlich angestrahlten Bau irgendeines Nachttieres zu blicken.
»Gefällt Ihnen unsere Show, Jacques? Ist das anspruchsvoll? Stimuliert es sogar Sie ein bißchen?«
»Es ist sehr eindrucksvoll, Madame.«
»Das freut mich. Wir sollten unsere Gefühle nicht verleugnen.«
Schlägereien gab es selten, und sie glichen eher den Balgereien zwischen jungen Hunden. Nur die schlimmsten endeten mit einem Rausschmiß. Ein Stuhl krachte, ein Mädchen sprang zurück, der klatschende Schlag einer Faust folgte oder das strenge Schweigen zweier ringender Männer. Schließlich tauchte von irgendwoher Andre Latulipe wie ein kleiner Atlas zwischen ihnen auf und hielt sie auseinander, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Als Jonathan dies zum erstenmal erlebte, ließ er ihn die Sache auf seine Art beilegen. Doch als einmal ein Betrunkener Anstalten machte, Latulipe einen Schwinger zu verpassen, drehte Jonathan ihm den anderen Arm auf den Rücken und setzte ihn an die frische Luft.
»Wo haben Sie das gelernt?« fragte Latulipe, als sie Flaschen wegräumten.
»Bei der Armee.«
»Die Schweizer haben eine Armee?«
»Allgemeine Wehrpflicht.«
An einem Sonntagabend kam der alte katholische Pfarrer, er trug einen schmutzigen hohen Kragen und einen geflickten Rock. Die Mädchen hörten zu tanzen auf, und Yvonne aß Zitronenkuchen mit ihm, den der Pfarrer unbedingt bezahlen wollte: Er zückte seinen mit einem Riemen verschnürten Trapperbeutel, Jonathan beobachtete die beiden aus dem Hintergrund.
An einem anderen Abend erschien ein Hüne von einem Mann mit kurzgeschorenem weißem Haar und einer weichen Kordjacke mit Lederflicken an den Ellbogen. Eine beschwipste Frau in einem Pelzmantel schwankte neben ihm her. Die zwei ukrainischen Kellner Latulipes gaben ihm einen Tisch an der Tanzfläche, er bestellte Champagner und zwei Portionen Räucherlachs und verfolgte die Vorstellung mit väterlicher Nachsicht. Doch als Latulipe sich nach Jonathan umsah, um ihn zu warnen, daß der Kommissar keine Rechnung erwartete, war Jonathan verschwunden.
»Haben Sie was gegen die Polizei?«
»Solange ich meinen Paß nicht zurückhabe, ja.«
»Woher wußten Sie, daß es ein Polizist war?«
Jonathan lächelte entwaffnend, gab aber keine Antwort, an die Latulipe sich später erinnern konnte.
»Wir sollten ihn warnen«, sagte Madame Latulipe zum fünfzigsten Mal. Sie lag im Bett und konnte nicht schlafen. »Sie reizt ihn absichtlich. Sie macht wieder die alten Mätzchen.«
»Aber sie reden nie miteinander. Sie sehen sich nicht einmal an«, protestierte ihr Mann und ließ sein Buch sinken.
»Und du weißt nicht, warum? Zwei Kriminelle wie sie?«
»Sie ist mit Thomas verlobt und wird ihn heiraten«, sagte Latulipe. »Seit wann ist kein Verbrechen ein Verbrechen?« fügte er lahm hinzu.
»Du redest mal wieder wie ein Barbar. Ein Barbar ist ein Mensch ohne Intuition. Hast du ihm gesagt, daß er nicht mit den Discomädchen schlafen soll?«
»Er scheint nicht darauf aus zu sein.«
»Da hast du's! Vielleicht wäre es besser, wenn er es täte.«
»Hergott noch mal, er ist Sportler«, platzte Latulipe heraus; jetzt ging sein slawisches Temperament mit ihm durch. »Er hat andere Ventile. Er läuft. Er wandert durch den Busch. Er segelt. Er leiht sich Motorräder aus. Er kocht. Er arbeitet. Er schläft. Nicht jeder Mann ist sexbesessen.«
»Dann ist er ein tapette«, verkündete Madame Latulipe. »Ich habe das von Anfang an gewußt. Yvonne verschwendet ihre Zeit. Das wird ihr eine Lehre sein.«
»Er ist kein tapette! Frag die Ukrainer! Er ist völlig normal!«
»Hast du schon seinen Paß gesehen?«
»Sein Paß hat nichts damit zu tun, ob er ein tapette ist oder nicht! Der ist an die Schweizer Botschaft zurückgegangen. Muß erneuert werden, bevor Ottawa ihn abstempelt. Er ist ein Spielball der Bürokratie.«
»>Ein Spielball der Bürokratie< Diese Ausdrucksweise! Für wen hält er sich? Für Victor Hugo? Schweizer reden nicht so.«
»Ich weiß nicht, wie Schweizer reden.«
»Dann frag Cici! Cici sagt, Schweizer sind ungehobelt. Sie war mit einem verheiratet. Sie muß es wissen. Beauregard ist Franzose, da bin ich mir sicher. Er kocht wie ein Franzose, er spricht wie ein Franzose, er ist arrogant wie ein Franzose, er ist verschlagen wie ein Franzose. Und dekadent wie ein Franzose. Natürlich ist er Franzose! Er ist Franzose, und er ist ein Lügner.«
Schwer atmend starrte sie an ihrem Mann vorbei an die Decke, dort klebten Papiersterne, die im Dunkeln glitzerten.
»Seine Mutter war Deutsche«, sagte Latulipe, um einen ruhigeren Ton bemüht.
»Was? Unsinn! Deutsche sind blond. Wer hat dir das erzählt?«
»Er selbst. Gestern abend waren ein paar deutsche Ingenieure in der Disco. Beauregard hat Deutsch mit ihnen gesprochen wie ein Nazi. Ich habe ihn gefragt. Englisch spricht er auch.«
»Du mußt dich an die Behörden wenden. Wenn Beauregard nicht ordentlich angemeldet ist, muß er gehen. Ist das mein Hotel oder seins? Er ist ein Illegaler, da bin ich mir sicher. Er benimmt sich zu auffällig. C'est bien sur!«
Sie drehte ihrem Mann den Rücken zu, schaltete das Radio ein und betrachtete zornig ihre Papiersterne.
Zehn Tage nachdem Yvonne ihm seine weiße Kluft verpaßt hatte, holte Jonathan sie auf seiner Harley Davidson beim Mange-Quick an der nach Norden führenden Landstraße ab. Sie hatten sich scheinbar zufällig - jeder hatte den anderen gehört - auf dem Mansardenflur getroffen. Er sagte, morgen habe er seinen freien Tag, sie fragte, was er vorhabe. Ein Motorrad mieten, antwortete er. Vielleicht gucke ich mir ein paar Seen an.
»Mein Vater hat ein Boot an seiner Sommerhütte«, sagte sie, als sei ihre Mutter gar nicht vorhanden. Am nächsten Tag erwartete sie ihn wie verabredet, blaß, aber entschlossen.
Die Landschaft war ebenso eintönig wie majestätisch, hügelig blaue Wälder unter einem leeren Himmel. Doch als sie nach Norden preschten, zogen Wolken auf, und der Ostwind brachte Nieselregen. Als sie das Haus erreichten, regnete es richtig. Sie zogen einander aus, und für Jonathan verging eine Ewigkeit, in der er lange weder Befriedigung noch Erlösung fand, als er sich für Monate der Enthaltsamkeit entschädigte. Sie rang mit ihm, ohne den Blick von ihm zu wenden, es sei denn, um ihm eine andere Stellung, eine andere Frau anzubieten.
»Warte«, flüsterte sie.
Ein Stöhnen ging durch ihren Körper, sie sank zusammen und hob sich wieder, ihr Gesicht verzerrte sich und wurde häßlich, entspannte sich aber nicht. Sie ergab sich mit einem Schrei, aber der klang so dumpf, als käme er aus den triefenden Wäldern rings um sie her oder aus den Tiefen des grauen Sees. Sie setzte sich auf ihn, und von neuem begannen sie den Aufstieg von Gipfel zu Gipfel, bis sie gemeinsam abstürzten.
Er lag angespannt neben ihr, sah sie atmen, war neidisch auf ihre Gelassenheit. Er versuchte herauszufinden, wen er jetzt verriet. Sophie? Oder bloß wie üblich sich selbst? Wir verraten Thomas. Sie drehte sich auf die Seite, wandte ihm den Rücken zu. Ihre Schönheit und seine Einsamkeit. Er begann sie zu streicheln.
»Er ist ein guter Mensch«, sagte Yvonne. »Hat's mit Anthropologie und den Rechten der Indianer. Sein Vater arbeitet als Anwalt für die Kri. Er will in seine Fußstapfen treten.« Sie hatte eine Flasche Wein geholt und lag jetzt wieder im Bett. Ihr Kopf ruhte auf seiner Brust.
»Er wäre mir bestimmt sehr sympathisch«, sagte Jonathan höflich und stellte sich einen ernsten Träumer im Norwegerpullover vor, der seine Liebesbriefe auf Recyclingpapier schrieb.
»Du bist ein Lügner«, sagte sie und küßte ihn wild. »Irgendwie bist du ein Lügner. Du sagt nichts als die Wahrheit, aber du bist ein Lügner. Ich verstehe dich nicht.«
»Ich bin auf der Flucht«, sagte er. »Ich hatte in England Schwierigkeiten.«
Sie schob sich an sich an seinem Körper hoch und legte ihren Kopf neben seinen. »Willst du darüber reden?«
»Ich brauche einen Paß«, sagte er. »Ich bin kein Schweizer, das ist alles Quatsch. Ich bin Brite.«
»Wie bitte?«
Sie war aufgeregt. Sie nahm sein Glas, trank daraus und sah ihn über den Rand an.
»Vielleicht können wir einen stehlen«, sagte sie. »Das Bild auswechseln. Ein Freund von mir hat das mal gemacht.«
»Vielleicht«, stimmte er ihr zu.
Ihre Augen glänzten, sie streichelte ihn. Ich habe alles Erdenkliche versucht, erzählte er ihr, Gästezimmer durchsucht, in parkende Autos geguckt, kein Mensch hier hat einen Paß bei sich. War auf der Post, hab mir die Anträge besorgt und die Vorschriften studiert. Habe auf dem Friedhof nach Toten in meinem Alter geforscht, dachte, ich könnte einen Antrag in ihrem Namen stellen. Aber heutzutage kann man ja nie wissen: Womöglich sind die Toten schon in irgendeinem Computer erfaßt.
»Was ist dein richtiger Name?« flüsterte sie. »Wer bist du? Wer bist du?«
Ein Augenblick wunderbaren Friedens senkte sich auf ihn herab, als er ihr das größte Geschenk machte: »Pine. Jonathan Pine.«
Sie verbrachten den ganzen Tag nackt, und als der Regen aufhörte, fuhren sie mit dem Boot zu einer Insel mitten im See und badeten nackt am Kiesstrand.
»In fünf Wochen gibt er seine Doktorarbeit ab«, sagte sie.
»Und dann?«
»Heirat mit Yvonne.«
»Und dann?«
»Mit den Indianern im Busch arbeiten.« Sie sagte ihm, wo. Sie schwammen ein Stück.
»Ihr beide?« fragte er.
»Sicher.«
»Für wie lange?«
»Ein paar Jahre. Mal sehen, wie's läuft. Wir werden Kinder haben. Ungefähr sechs.«
»Wirst du ihm treu sein?«
»Sicher. Manchmal.«
»Was für Indianer sind das?«
»Hauptsächlich Kri. Die hat er am liebsten. Spricht auch die Sprache ganz gut.«
»Und wie sieht's mit Flitterwochen aus?« fragte er.
»Thomas? Seine Vorstellung von Flitterwochen ist Essen bei McDonald's und Hockeytraining im Eisstadion.«
»Reist er viel?«
»In den Nordwest-Territorien. Keewatin. Yellowknife. Great Slave Lake. Norman Wells. Die ganze Gegend.«
»Ich meine im Ausland.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Der doch nicht. Er sagt, in Kanada gibt es alles.«
»Was?«
»Hier gibt es alles, was wir zum Leben brauchen. Wozu woanders hingehen? Er sagt, die Leute reisen zuviel. Und er hat recht.«
»Dann braucht er also keinen Paß«, sagte Jonathan.
»Schwein«, sagte sie. »Bring mich an Land zurück.«
Aber als sie dann zu Abend gegessen und noch einmal miteinander geschlafen hatten, hörte sie ihm zu.
Sie schliefen jeden Tag oder jede Nacht miteinander. In den frühen Morgenstunden, wenn er aus der Disco nach oben kam, lag Yvonne wach im Bett und wartete auf sein behutsames Zeichen an der Tür. Er kam auf Zehenspitzen herein, und sie zog ihn zu sich herab, ihre letzte Stärkung vor der Wüste. Sie bewegten sich kaum, wenn sie sich liebten. Der Dachboden war wie eine Trommel, jede Bewegung polterte durchs ganze Haus. Wenn sie vor Lust zu stöhnen anfing, legte er ihr eine Hand auf den Mund, und sie biß ihm so fest in den Daumenballen, daß die Abdrücke ihrer Zähne zurückblieben.
Wenn deine Mutter uns entdeckt, schmeißt sie mich raus, sagte er.
Und wenn schon, flüsterte sie und umschlang ihn fester. Ich geh mit dir. Sie schien alles vergessen zu haben, was sie ihm von ihren Zukunftsplänen erzählt hatte.
Ich brauche mehr Zeit, gab er zu bedenken.
Für den Paß?
Für dich, antwortete er und lächelte in die Dunkelheit.
Sie wollte nicht, daß er fortging, wagte ihn aber nicht bei sich zu behalten. Madame Latulipe hatte sich nämlich angewöhnt, zu den unmöglichsten Zeiten bei ihr hereinzusehen.
»Schläfst du, cocotte? Bist du glücklich? Nur noch vier Wochen bis zur Hochzeit, mon p'tit choux. Die Braut muß sich ausruhen.«
Einmal, als ihre Mutter auftauchte, lag Jonathan tatsächlich noch im Dunkeln neben Yvonne, aber zum Glück machte Madame Latulipe nicht das Licht an.
Sie fuhren mit Yvonnes babyblauem Pontiac zu einem Motel in Tolerance, und Gott sei Dank ließ er sie schon zum Wagen vorgehen, denn als sie, seinen Geruch noch am Körper, aus dem Apartment trat, sah sie auf dem Parkplatz nebenan Mimi Leduc, die ihr aus ihrem Auto zugrinste.
»Tu fais visite au show?« schrie Mimi, die das Fenster herunterkurbelte.
»Hm-ja.«
»C'est super, n'est-ce pas? T'as vu le kleine schwarze Kleid? Tres tief ausgeschnitten, tres sexy?"
»Hm-ja.«
»Ich hab's gekauft! Toi aussi faut l'acheter! Pour ton trouss – eauuu!« Wenn ihre Mutter im Supermarkt war, liebten sie sich in einem leeren Gästezimmer oder in der Kleiderkammer. Ihre sexuelle Besessenheit hatte Yvonne leichtfertig gemacht. Das Risiko war wie eine Droge für sie. Den ganzen Tag sann sie auf Möglichkeiten, mit ihm allein zu sein.
»Wann wirst du zu dem Priester gehen?« fragte er.
»Wenn ich bereit bin«, antwortete sie, und er fühlte sich an Sophies sonderbare Würde erinnert.
Sie beschloß, am nächsten Tag bereit zu sein.
Der alte Pfarrer Savigny hatte Yvonne nie im Stich gelassen. Seit ihrer Kindheit war sie mir ihren Sorgen, Triumphen und Geständnissen zu ihm gekommen. Wenn ihr Vater sie geschlagen hatte, betupfte der alte Savigny ihr das blaue Auge und überredete sie, wieder nach Hause zu gehen. Wenn ihre Mutter sie zum Wahnsinn trieb, sagte der alte Savigny lachend, Madame Latulipe sei eben manchmal etwas dämlich. Als Yvonne anfing, mit Jungen ins Bett zu gehen, versuchte er nie, ihr das auszureden. Und als sie ihren Glauben verlor, war er traurig, aber sie besuchte ihn weiterhin jeden Sonntagabend nach der Messe, an der sie nicht mehr teilnahm, und brachte ihm jedesmal etwas mit, was sie im Hotel geklaut hatte: eine Flasche Wein, oder, wie an diesem Abend, Scotch.
»Bon, Yvonne! Setz dich. Mein Gott, du glänzt wie ein Apfel. Gütiger Himmel, was hast du mir da mitgebracht? Eigentlich müßte ich der Braut Geschenke machen!«
Er trank ihr zu, lehnte sich in seinen Sessel zurück und blickte mit seinen tränenden alten Augen in die Unendlichkeit.
»In Esperance sind wir verpflichtet, einander zu lieben«, erklärte er mitten aus seiner Predigt für künftige Eheleute heraus.
»Ich weiß.«
»Erst gestern noch waren wir alle Fremde hier, jeder vermißte seine Familie und die Heimat, jeder hatte ein bißchen Angst vor der Wildnis und den Indianern.«
»Ich weiß.«
»Also sind wir zusammengerückt. Und haben einander geliebt. Das war ganz natürlich. Es war notwendig. Und wir haben unsere Gemeinschaft und unsere Liebe Gott gewidmet. In der Wildnis sind wir Seine Kinder geworden.«
»Ich weiß«, sagte Yvonne noch einmal und wünschte, sie wäre nicht gekommen.
»Und heute sind wir gute Bürger. Esperance ist erwachsen geworden. Es ist gut, es ist schön, es ist christlich. Aber langweilig. Wie geht's Thomas?«
»Thomas geht es prächtig«, sagte sie und griff nach ihrer Handtasche.
»Aber wann bringst du ihn mir mal? Falls du ihn wegen deiner Mutter nicht nach Esperance kommen läßt, wird es Zeit, ihn der Feuerprobe zu unterziehen!« Sie lachten zusammen. Eben das gelegentliche Aufblitzen von Verständnis war es, weshalb sie den alten Savigny so liebte. »An dem Jungen muß schon was dran sein, wenn er ein Mädchen wie dich gewinnt. Ist er ungeduldig? Liebt er dich bis zum Wahnsinn? Schreibt er dir dreimal täglich?«
»Thomas ist ein wenig vergeßlich.«
Wieder lachten sie, während der alte Pfarrer kopfschüttelnd immer wieder »vergeßlich« sagte. Sie öffnete die Handtasche, nahm einen Zellophanumschlag mit zwei Fotos heraus und hielt ihm eins davon hin. Dann reichte sie ihm die alte Stahlbrille vom Tisch und wartete, bis er sich das Foto richtig angesehen hatte.
»Das ist Thomas? Mein Gott, das ist ja ein Prachtjunge! Warum hast du mir das nie gesagt? Vergeßlich? Dieser Mann? Eine Wucht ist er! Deine Mutter würde einem solchen Mann zu Füßen liegen!«
Er hielt Jonathans Foto auf Armeslänge von sich, hielt es schräg ins Licht des Fensters und konnte sich nicht satt daran sehen.
»Ich habe eine Überraschung für ihn: eine Hochzeitsreise«,
sagte sie. »Er hat keinen Paß. Ich werde ihm in der Sakristei einen in die Hand drücken.«
Der alte Mann wühlte schon in seiner Strickjacke nach einem Stift. Sie gab ihm einen. Dann legte sie ihm die Fotos mit der Rückseite nach oben hin und sah zu, wie er, langsam wie ein Kind, in seiner Eigenschaft als Geistlicher, der kraft der Gesetze von Quebec Ehen schließen durfte, seine Unterschrift darauf setzte. Sie zog das blaue Antragsformular für den Paß aus der Handtasche: »Formule A pour les personnes de 16 ans et plus« und zeigte ihm die Stelle, wo er mit seiner Unterschrift bestätigen mußte, daß ihm der Antragsteller persönlich bekannt war.
»Aber seit wann kenne ich ihn? Ich habe den Burschen ja noch nie gesehen!«
»Schreiben Sie einfach: schon immer«, sagte Yvonne und sah ihn schreiben: »La vie entiere.«
Tom, telegraphierte sie noch am selben Abend triumphierend. Kirche braucht deine Geburtsurkunde. Schicke per Express ans Babette. Behalt mich lieb. Yvonne.« Als Jonathan an ihre Tür tippte, blieb sie ruhig liegen und stellte sich schlafend. Doch als er dann neben ihrem Bett stand, richtete sie sich auf und packte ihn gieriger als je zuvor. Ich hab's getan, flüsterte sie immer wieder. Ich hab's geschafft! Die Sache läuft!
Kurz nach dieser Episode und so ziemlich um die gleiche frühe Abendstunde erschien Madame Latulipe zu dem vereinbarten Besuch im prächtigen Büro des baumlangen Polizeikommissars. Sie trug ein violettes Kleid, vielleicht eine Art Halbtrauer.
»Angelique«, sagte der Kommissar und zog ihr einen Stuhl heran. »Mein Liebe. Immer zu Ihren Diensten.«
Wie der Pfarrer gehörte der Kommissar zu den alten Fährtensuchern. Signierte Fotografien an den Wänden zeigten ihn in seinen besten Jahren, einmal im Pelz als Führer eines Hundeschlittens, ein andermal als einsamen Helden, der im Busch der Wildnis zu Pferd einen Mann verfolgte. Aber diese Andenken gereichten dem Kommissar kaum zum Vorteil. Sein einst männliches Profil war wegen des bleichen Doppelkinns kaum noch zu erkennen. Über dem Ledergürtel seiner Uniform saß ein fetter Wanst wie ein brauner Fußball.
»Ist mal wieder eins Ihrer Mädchen in Schwierigkeiten geraten?« fragte der Kommissar mit wissendem Lächeln.
»O nein, Louis, nicht, daß ich wüßte.«
»Hat jemand die Finger in der Kasse gehabt?«
»Nicht doch, Louis, unsere Abrechnungen sind ziemlich in Ordnung.«
Der Kommissar kannte diesen Ton und baute seine Verteidigung auf. »Das freut mich zu hören, Angelique. So was kommt heutzutage immer wieder vor. Die Zeiten haben sich gründlich geändert. Un p'tit drink?«
»Danke, Louis, das hier ist kein Privatbesuch. Ich möchte, daß Sie Erkundigungen über einen jungen Mann anstellen, den Andre bei uns im Hotel eingestellt hat.«
»Was hat er getan?«
»Es geht eher darum, was Andre getan hat. Er hat einen Mann ohne Papiere eingestellt. Sehr naiv von ihm.«
»Andre ist ein freundlicher Mensch, Angelique. Ein besonders guter Mensch.«
»Vielleicht zu freundlich. Der Mann ist schon zehn Wochen bei uns, und seine Papiere sind immer noch nicht da. Er hat uns in eine illegale Situation gebracht.«
»Wir sind hier oben nicht in Ottawa, Angelique. Das wissen Sie.«
»Er behauptet, er sei Schweizer.«
»Nun, soll er doch. Die Schweiz ist ein schönes Land.«
»Erst erzählt er Andre, sein Paß sei bei der Einwanderungsbehörde; dann erzählt er ihm, der Paß sei zur Verlängerung bei der Schweizer Botschaft, und jetzt ist er schon wieder bei einer anderen Behörde. Wo ist er?«
»Also, ich hab ihn nicht, Angelique. Sie kennen Ottawa. Diese Schwuchteln brauchen drei Monate, um sich den Arsch zu wischen«, sagte der Kommissar und grinste dämlich über diese treffliche Formulierung.
Madame Latulipe verfärbte sich. Aber sie errötete nicht hübsch, sondern wurde fleckig fahl vor Wut, was den Kommissar nervös machte.
»Er ist kein Schweizer«, sagte sie.
»Woher wissen Sie das, Angelique?«
»Weil ich mit der Schweizer Botschaft telefoniert habe. Ich habe gesagt, ich sei seine Mutter.«
»Und?«
»Ich habe gesagt, ich sei empört über die Trödelei, mein Sohn habe keine Arbeitserlaubnis, er mache Schulden, er sei deprimiert. Wenn man ihm schon nicht den Paß schicken könne, solle man einen Brief schicken, in dem bestätigt wird, daß alles in Ordnung ist.«
»Das haben Sie wirklich gut gemacht, Angelique. Sie sind eine großartige Schauspielerin. Wir alle wissen das.«
»Kein Spur von ihm. Kein Jacques Beauregard, der Schweizer ist und in Kanada lebt. Das ist alles ein Märchen. Er ist ein Verführer.«
»Er ist was?«
»Er hat meine Tochter verführt. Hat ihr völlig den Kopf verdreht. Er ist ein raffinierter Schwindler, und wer will meine Tochter stehlen, das Hotel stehlen, unseren Seelenfrieden stehlen, unsere Zufriedenheit, unsere...«
Sie hatte eine ganze Liste von Dingen, die Jonathan stahl. Die hatte sie zusammengestellt, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, und mit jedem neuen Anzeichen dafür, wie verrückt ihre Tochter nach dem Dieb war, wurde die Liste länger. Nur ein einziges Verbrechen hatte Madame Latulipe versäumt zu erwähnen: Auch ihr Herz hatte er gestohlen.