20

 

Stiller Herbstregen fällt auf die Straßen von Whitehall, als Rex Goodhew in den Krieg zieht. Abgeklärt. Im Herbst seiner Karriere. Gereift, von seiner Sache überzeugt. Undramatisch, ohne Fanfaren oder großartige Ankündigungen. Ein stiller Feldzug eines kämpferischen Ichs. Ein privater, aber auch ein altruistischer Krieg gegen das, was er jetzt nur noch als Darkers finstere Mächte bezeichnen kann.

Ein Krieg bis zum Untergang, erklärt er seiner Frau, ohne Alarmsirenen. Mein Kopf oder ihrer. Eine Whitehall-Messerstecherei, bleiben wir in der Nähe. Wenn du sicher bist, Liebling, sagt sie. Er hat jeden Schritt sorgfältig erwogen. Keine Hast, keine unausgegorenen oder heimlichen Aktionen. Er sendet seinen verborgenen Feinden von der Zentralen Nachrichtenauswertung deutliche Signale. Sollen Sie mich hören, sollen Sie mich sehen, sagt er. Sollen sie zittern. Goodhew spielt mit offenen Karten. Mehr oder weniger.

Nicht nur Neal Marjorams skandalöser Vorschlag hat Goodhew zum Handeln getrieben. Als er vor einer Woche mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr, wurde er um ein Haar zu Tode gequetscht. Er befand sich auf seiner üblichen Route - erst auf den ausgeschilderten Radwegen in westlicher Richtung durch Hampstead Heath, dann über St. John's Wood und Regent's Park nach Whitehall -, als er plötzlich zwischen zwei hohen Lastwagen eingekeilt war, einer schmutzig weiß mit abblätternden Buchstaben, die er nicht entziffern konnte, der andere grün und ohne Aufschrift. Wenn er bremste, bremsten sie auch. Wenn er schneller in die Pedale trat, gaben sie Gas. Seine Bestürzung wurde zu Wut. Warum beobachteten ihn die Fahrer so kalt in ihren Seitenspiegeln, und dann wieder einander, während sie immer näher zusammenrückten und ihn einklemmten? Was machte der dritte Lastwagen hinter ihm: Versperrte er ihm den Fluchtweg?

Er schrie: »Aufpassen! Zur Seite!«, aber sie ignorierten ihn. Der dritte Lastwagen fuhr dicht an der hinteren Stoßstange der beiden anderen. Durch die schmutzige Windschutzscheibe war das Gesicht des Fahrers nicht zu erkennen. Die zwei anderen fuhren jetzt so nah nebeneinander her, daß die kleinste Bewegung der Lenkstange zur Kollision geführt hätte.

Goodhew stemmte sich aus dem Sattel, schlug mit der behandschuhten Faust an die Verkleidung des Wagens links von ihm und stieß sich wieder ab, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Die kalten Augen im Seitenspiegel musterten ihn ohne Neugier. Auf die gleiche Weise attackierte er den Wagen zur Rechten, der daraufhin noch ein Stück näher rückte.

Nur eine rote Ampel bewahrte ihn davor, zerquetscht zu werden. Die Lastwagen hielten an, während Goodhew zum erstenmal in seinem Leben bei Rot über eine Kreuzung fuhr und um Haaresbreite dem Tod entging, als er über die polierte Schnauze eines Mercedes rutschte.

Noch am selben Nachmittag schreibt Rex Goodhew sein Testament um. Am nächsten Tag umgeht er mit Hilfe seiner internen Tricks die schwerfällige Maschinerie seines Imperiums - und des Privatbüros seines Chefs - und beschlagnahmt einen Teil der oberen Etage, eine verschachtelte Flucht musealer Dachkammern, vollgestopft mit elektronischen Reserve-Geräten, die für den ewig drohenden Tag installiert sind, da Großbritannien vom Bolschewismus überrannt werden wird. Was inzwischen unwahrscheinlich ist, aber den grauen Männern von Goodhews Verwaltung erst noch gesagt werden muß, und als Goodhew die Etage für geheime Zwecke haben will, erweisen sie sich als überaus hilfsbereit. Über Nacht werden veraltete Geräte im Wert von etlichen Millionen Pfund zum endgültigen Verrotten in ein Arsenal in Aldershot gebracht.

Am nächsten Tag bezieht Burrs kleine Mannschaft zwölf muffige Mansardenzimmer, zu denen zwei schlecht funktionierende, tennisplatzgroße Toiletten gehören, ein leergeräumter Fernmelderaum, eine private Treppe mit Marmorgeländer und Löchern im Linoleum und eine Chubb-Stahltiir mit Spion. Am Tag darauf läßt Goodhew das Ganze elektronisch absichern und entfernt sämtliche Telefonleitungen, an denen das River House sich zu schaffen machen könnte.

Was die Beschaffung öffentlicher Gelder von seinem Ministerium angeht, hat Goodhew nicht umsonst ein Vierteljahrhundert in der Bürokratie Dienst getan. Er schwingt sich zum Robin Hood von Whitehall auf und frisiert die Rechenschaftsberichte der Regierung, um ihre widerspenstigen Diener zu umgarnen.

Braucht Burr noch drei Leute, und weiß er, wo er sie finden kann? Stell sie ein, Leonard, stell sie ein.

Ein Informant hat etwas zu erzählen, will aber ein paar tausend im voraus? Gib sie ihm, Leonard, gib ihm alles, was er will.

Rob Rooke möchte zwei Beobachter mit nach Curacao nehmen? Sind zwei genug, Rob? Wären vier nicht besser?

Verhallt, als hätte es sie nie gegeben, sind Goodhews nörgelnde Einwände, seine Sticheleien und Seitenhiebe. Kaum schreitet er durch die Stahltür in Burrs neuen Horst, schon fällt die Spottlust von ihm ab wie der Schutzschild, der sie immer gewesen war. Jeden Abend, wenn das offizielle Spiel abgepfiffen wird, tritt er zu dem an, was er bescheiden seine Nachtarbeit nennt, und Burr sieht sich genötigt, mit der gleichen Energie zur Sache zu gehen wie er. Auf Goodhews Drängen hat man ihm den schäbigsten Raum zur Verfügung gestellt. Er liegt am Ende eines verlassenen Korridors. Seine Fenster gehen auf eine von Tauben bewohnte Brüstung. Ihr Turteln und Gurren hätte einen weniger bedeutenden Mann zum Wahnsinn treiben können, doch Goodhew hört sie kaum. Entschlossen, nicht in Burrs Revier einzudringen, kommt er nur hervor, um sich eine weitere Handvoll Berichte zu holen oder sich eine Tasse Hagebuttentee zu machen und . mit der Nachtbelegschaft freundliche Worte auszutauschen. Dann zurück an den Schreibtisch, um die neuesten Dispositionen des Feindes zu studieren.

»Ich habe vor, die Operation Flaggschiff mit Mann und Maus zu versenken, Leonard«, erklärt er Burr mit einem nervösen Kopfzucken, wie dieser es noch nie an ihm bemerkt hat. »Darker wird keinen Matrosen mehr übrighaben, wenn ich mit ihm fertig bin. Und dieser verfluchte Dicky Roper wird hinter Gittern sitzen, denken sie an meine Worte.«

Burr denkt daran, ist aber durchaus nicht überzeugt, daß sie wahr sind. Nicht daß er an Goodhews Entschlossenheit zweifelt. Noch macht es ihm Schwierigkeiten, zu glauben, daß Darkers Leute ihren Widersacher bewußt schikanieren, erschrecken oder gar ins Krankenhaus bringen wollen. Auch Burr achtet seit Monaten auf jeden Schritt. Wann immer möglich, hat er seine Kinder morgens zur Schule gefahren und stets dafür gesorgt, daß sie abends abgeholt wurden. Burr macht sich Sorgen, daß Goodhew selbst jetzt noch nichts von der Größe der Krake ahnt. Allein in der letzten Woche ist Burr dreimal der Zugang zu Papieren verwehrt worden, von denen er weiß, daß sie in Umlauf sind. Dreimal hat er vergeblich protestiert. Beim letztenmal ist er persönlich in der Höhle des Registrators im Außenministerium vorstellig geworden.

»Ich fürchte, Sie sind falsch informiert, Mr. Burr«, sagte der Registrator. Er trug die schwarze Krawatte eines Bestattungsunternehmens und schwarze Ärmelschoner über der schwarzen Jacke. »Die fragliche Akte ist bereits vor Monaten zur Vernichtung freigegeben worden.«

»Sie meinen, Flaggschiff hat sie für geheim erklärt. Warum sagen Sie es nicht?«

»Wie bitte, Sir? Ich glaube, ich kann Ihnen nicht folgen. Könnten Sie sich ein wenig deutlicher erklären?«

»Die Klette ist mein Fall, Mr. Atkins. Ich persönlich habe die Akte angelegt, die ich jetzt verlange. Sie gehört zu einem halben Dutzend Akten über die Operation Klette, die von meiner Abteilung angelegt und mit Querverweisen versehen worden sind: zwei zum Thema, zwei zur Organisation, zwei zum Personal. Nicht eine einzige davon ist älter als achtzehn Monate. Seit wann ist ein Registrator befugt, achtzehn Monate nach Eröffnung einer Akte deren Vernichtung anzuordnen?«

»Entschuldigen Sie, Mr. Burr. Die Klette mag durchaus Ihr Fall sein. Ich habe keinen Grund, Ihnen nicht zu glauben, Sir. Aber wie sagen wir hier in der Registratur? Nur weil Sie einen Fall bearbeiten, bearbeiten Sie noch lange nicht die Akte.«

Dessen ungeachtet fließen die Informationen in beeindruckendem Umfang weiter. Sowohl Burr als auch Strelski haben ihre Quellen.

Die Sache ist angelaufen... die Panama-Connection steht... sechs von Ironbrand in Nassau gecharterte, in Panama registrierte Containerschiffe nehmen Kurs über den Südatlantik auf Curacao, voraussichtliches Eintreffen in vier bis acht Tagen. Gesamtladung knapp fünfhundert Container in Richtung Panamakanal... Frachtdeklaration uneinheitlich, von Traktorteilen über landwirtschaftliche Maschinen und Bergwerksgerät bis hin zu diversen Luxusgütern...

Handverlesene Militärausbilder, darunter vier französische Fallschirmspringer, zwei israelische Ex-Oberste einer Spezialtruppe und sechs ehemals sowjetische Spetsnaz, haben sich vorige Woche in Amsterdam getroffen und im besten indonesischen Restaurant der Stadt mit einer üppigen rijstaffel Abschied gefeiert. Anschließend wurden sie nach Panama geflogen...

In den Waffenbasaren kursieren seit Monaten die Gerüchte über riesige Materialbestellungen von Ropers Beauftragten, doch gibt es hierzu neue Erkenntnisse, so daß Palfreys Prophezeiung einer Umstellung von Ropers Einkaufsliste von unabhängiger Seite bestätigt wird. Strelskis Bruder Michael alias Apostoll hat mit einem seiner Kollegen, einem Kartellanwalt namens Moranti, gesprochen. Besagter Moranti operiert von Caracas aus und gilt als Hauptstütze der wackligen Allianz zwischen den Kartellen.

»Ihr Mr. Roper spielt den Patrioten«, erfährt Burr von Strelski über die abhörsichere Leitung. »Er kauft in Amerika.«

Burr sinkt der Mut, aber er gibt sich unbeteiligt: »Von wegen Patriot, Joe! Ein Brite sollte in Großbritannien kaufen.«

»Er verkauft den Kartellen eine neue Botschaft«, sagt Strelski unbeeindruckt. »Wenn Sie Uncle Sam als ihren Feind betrachten, fahren sie am besten, wenn sie Uncle Sams Spielzeug benutzen. Auf diese Weise haben sie direkten Zugang zu Ersatzteilen, sie können die beim Feind erbeuteten Waffen ohne weiteres verwenden, sie sind mit der technischen Ausrüstung des Feindes vertraut. Tragbare britische Starstreak HVMs, britische Splittergranaten, britische Elektronik, das ist Teil des Pakets. Aber ihre wichtigen Spielzeuge müssen denen des Feindes entsprechen. Ein paar britische, der Rest amerikanische Produkte.«

»Und was sagen die Kartelle dazu?« fragt Burr.

»Sie finden es prima. Sind ganz verliebt in amerikanische Technologie. In britische auch. Sie lieben Roper. Sie wollen nur das Beste.«

»Hat irgend jemand eine Erklärung für diesen Sinneswandel?«

Burr hört aus Strelskis Stimme die Besorgnis heraus, die der seinen verwandt ist. »Nein, Leonard. Niemand hat irgendeine Erklärung. Nicht für die Enforcement. Nicht in Miami. Vielleicht auch nicht in London.«

Die Sache wurde einen Tag später von einem Burr bekannten Händler in Belgrad bestätigt. Sir Anthony Joyston Bradshaw, wohlbekannt als Ropers Unterzeichner auf den graueren Märkten, hatte tags zuvor eine Drei-Millionen-Dollar-Probebestellung tschechischer Kalaschnikows in eine entsprechende Bestellung amerikanischer Armalites umgewandelt; theoretischer Bestimmungsort Tunesien. Die Gewehre sollten unterwegs verlorengehen und als landwirtschaftliches Gerät nach Danzig umdirigiert werden, wo die Übernahme der Ladung und ihr Weitertransport nach Panama auf einem Containerschiff bereits arrangiert war. Des weiteren hatte Joyston Bradshaw sein Interesse an britischen Boden-Luft-Raketen bekundet, dabei aber angeblich eine übermäßige Provision verlangt.

Doch während Burr diese Entwicklung grimmig zur Kenntnis nahm, schien Goodhew nicht in der Lage, ihre Auswirkungen zu begreifen:

»Es ist mir egal, ob sie amerikanische oder chinesische Erbsenpistolen kaufen, Leonard. Es ist mir egal, ob sie die britischen Hersteller bis aufs Hemd ausziehen. Wie auch immer Sie es betrachten, hier geht's um Drogen für Waffen, und kein Gericht der Welt wird das unbestraft lassen.«

Burr stellte fest, daß Goodhew rot wurde, als er das sagte und offenbar Schwierigkeiten hatte, nicht die Beherrschung zu verlieren.

Aber die Flut der Information reißt nicht ab:

Auf einen Ort zum Austausch der Waren hat man sich noch nicht geeignet. Nur die zwei Hauptbeteiligten werden die endgültigen Einzelheiten im voraus wissen... Die Kartelle haben Buenaventura an der Westküste Kolumbiens als Ausgangshafen ihrer Lieferung festgelegt, und frühere Erfahrungen lassen darauf schließen, daß man denselben Hafen auch zur Auslieferung des Materials benutzen wird... Gutbewaffnete, wenn auch unqualifizierte Einheiten der kolumbianischen Armee im Sold der Kartelle sind in das Gebiet von Buenaventura beordert worden, um die Transaktion abzusichern ... Hundert leere Militärlastwagen stehen in den Lagerhäusern am Hafen bereit - doch als Strelski die Satellitenfotos sehen will, die diese Information bestätigen oder widerlegen könnten, läuft er, wie er Burr erzählt, gegen eine Wand. Die Schreibtischspione von Langley hätten entschieden, daß er nicht im Besitz der notwendigen Genehmigung sei.

»Leonard, sagen Sie mir bitte eins. Was zum Teufel ist hier alles als Flaggschiff eingestuft?«

Burr dreht sich alles. Soweit er verstanden hat, unterliegt der Kode Flaggschiff in Whitehall doppelter Geheimhaltung. Er ist nicht nur auf die Flaggschiff-Befugten begrenzt, sondern zusätzlich unter Vorsicht eingestuft, von Amerikanern fernhalten. Was also treibt Strelski, ein Amerikaner, daß die Barone der Nachrichtenauswertung in Langley, Virginia, ihm den Zugang zum Flaggschiff verweigern?

»Flaggschiff ist bloß ein Zaun, der uns draußen halten soll«, faucht Burr Minuten später Goodhew an. »Wenn Langley darüber informiert ist, warum dann nicht wir? Flaggschiff ist nichts anderes als Darker und seine Freunde auf der anderen Seite des Teichs.«

Goodhew scheint taub für Burrs Entrüstung. Er brütet über Seekarten, zeichnet mit Buntstiften Transportwege, macht sich über Kompaßpeilung kundig, Aufenthaltszeiten und Hafenformalitäten. Er vergräbt sich in Werke über Seerecht und befragt einen prominenten Rechtsspezialisten, mit dem er auf die Schule gegangen ist: »Also Brian, kannst du mir vielleicht«, hört Burr ihn durch den kahlen Korridor rufen, »was über Sperrgebiete auf See erzählen? Natürlich zahle ich deine lächerlichen Gebühren nicht! Ich lade dich zu einem sehr schlechten Essen in meinen Club ein, und ich stehle dir im Interesse deines Landes zwei Stunden deiner maßlos übertriebenen Arbeitszeit. Wie kommt deine Frau mit dir zurecht, seit du ein Lord bist? Na, richte ihr mein Beileid aus. Wir treffen uns am Donnerstag. Punkt ein Uhr.«

Du trägst zu dick auf, Rex, denkt Burr. Immer mit der Ruhe. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.

Namen, hatte Rooke gesagt: Namen und Zahlen. Jonathan liefert sie in Massen. Uneingeweihte hätten seine Mitteilungen auf den ersten Blick für banal halten können: Zufällig aufgeschnappte Spitznamen, auf Tischkarten beim Essen, bei flüchtigen, halb mitgehörten Gesprächen, von einem Brief auf Ropers Schreibtisch, aus Ropers Notizen über das Wer und Wieviel, das Wie und Wann. Für sich allein genommen wirkten diese Schnipsel ziemlich mager, neben Pat Flynns heimlichen Aufnahmen von ehemaligen Spetsnaz, die als Söldner auf dem Flughafen von Bogota eintrafen; oder neben Amatos haarsträubenden Berichten über Corkorans heimliche Exzesse im Nassauer Nachtleben; oder neben abgefangenen Bankwechseln von angesehenen Häusern, die erkennen ließen, daß bei Ropers Offshore-Unternehmen in Curacao aus allen Richtungen achtstellige Dollarbeträge eingingen.

Aber richtig zusammengestellt, waren Jonathans Mitteilungen echte Offenbarungen, nicht weniger sensationell als die tollsten Bravourstücke. Nachdem er die erste Nacht darüber gebrütet hatte, erklärte Burr, er sei seekrank. Nach der zweiten Nacht bemerkte Goodhew, es würde ihn jetzt nicht mehr überraschen, wenn auch noch der Direktor seiner eigenen Hausbank mit einem Koffer voller Kundengelder in Crystal auftauchen würde.

Was sie daran so entsetzte, waren weniger die Tentakel der Krake als deren Fähigkeit, selbst in die heiligsten Hallen einzudringen. Es war die Verstrickung von Institutionen, die sogar Burr bis dahin für unverdorben gehalten hatte, von Namen, die über jeden Tadel erhaben waren.

Für Goodhew schien die ganze hehre englische Welt zusammenzubrechen. Wenn er sich in den frühen Morgenstunden nach Hause schleppte, blieb er gelegentlich stehen, um fieberhaft ein geparktes Polizeiauto anzustarren und sich zu fragen, ob die täglichen Artikel über Korruption und Gewalttätigkeiten der Polizei vielleicht doch der Wahrheit entsprachen und nicht bloß Erfindungen von Journalisten und ewigen Nörglern waren. Wenn er in seinen Club kam und irgendeinen prominenten Handelsbankier oder Börsenmakler aus seiner Bekanntschaft erblickte, hob er nicht mehr, wie er es noch vor drei Monaten getan haben würde, munter die Hand zum Gruß, sondern musterte sie unter gesenkten Lidern und stellte ihnen durch den Speisesaal die stumme Frage: Gehörst du auch dazu? Und du? und du?

»Ich werde einen diplomatischen Schritt unternehmen«, erklärte er plötzlich bei einer ihrer nächtlichen Dreierrunden. »Ich bin entschlossen, den Gemeinsamen Lenkungsausschuß einzuberufen. Als erstes werde ich das Außenministerium mobilisieren, die sind immer für einen Kampf gegen die Darkeristen zu haben. Merridew wird Farbe bekennen, da bin ich mir sicher.«

»Warum sollte er?« sagte Burr.

»Warum sollte er nicht?«

»Merridews Bruder ist einer der Topleute bei Jason Warhole, wenn ich mich recht erinnere. Jason hat vorige Woche bei der Gesellschaft in Curacao fünfhundert Inhaberobligationen im Wert von einer halben Million geordert.«

»Tut mir schrecklich leid, alter Freund«, flüsterte Palfrey aus den Schatten, die ihn immer zu umgeben schienen.

»Was denn, Harry?« fragte Goodhew freundlich.

Palfrey sah gehetzt an ihm vorbei zur Tür. Er saß in einem von ihm ausgewählten Pub im Norden Londons, nicht weit von Goodhews Haus in Kentish Town. »Daß ich in Panik geraten bin. Ihr Büro angerufen habe. Notalarm. Wie sind Sie so schnell hierhergekommen?«

»Mit dem Fahrrad natürlich. Was ist denn los, Henry? Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen. Oder hat man Ihnen etwa auch nach dem Leben getrachtet?«

»Fahrrad«, wiederholte Palfrey; er nahm einen Schluck Scotch und fuhr sich mit einem Taschentuch über den Mund, als müßte er die verräterischen Spuren sofort beseitigen. »So ziemlich das Beste, was man machen kann, Fahrradfahren. Beschatter zu Fuß kommen nicht mit. Die im Auto müssen dauernd um den Block fahren. Was dagegen, wenn wir nach nebenan gehen? Da ist es lauter.«

Sie setzten sich ins Spielzimmer; dort gab es eine Musikbox, die ihr Gespräch übertönte. Zwei muskulöse Kerle mit Bürstenschnitt spielten Billard. Palfrey und Goodhew saßen nebeneinander auf einer Holzbank.

Palfrey machte ein Streichholz an und hatte Schwierigkeiten, die Flamme an seine Zigarette zu bringen. »Langsam wird's mulmig«, murmelte er. »Burr ist mir etwas zu hitzig. Ich habe sie gewarnt, aber sie wollten nichts davon wissen. Zeit, die Handschuhe auszuziehen.«

»Sie haben sie gewarnt, Harry?« fragte Goodhew - die Komplexität von Palfreys Verratssystemen verwirrte ihn jedesmal aufs neue - »Wen gewarnt? Doch nicht Darker! Sie haben doch nicht etwa Darker gewarnt?«

»Ich muß auf beiden Seiten des Netzes spielen, alter Junge«, sagte Palfrey; er rümpfte die Nase und ließ den Blick nervös durch die Bar schweifen. »Einzige Möglichkeit, zu überleben. Man muß seine Glaubwürdigkeit bewahren. Auf beiden Seiten.« Ein verzweifeltes Lächeln. »Mein Telefon wird angezapft«, erklärte er und deutete auf sein Ohr.

»Von wem?«

»Geoffrey. Von Geoffreys Leuten. Matrosen. Flaggschiff-Besatzung.«

»Wie kann man das wissen?«

»Ach, das weiß man nicht. Das ist heutzutage nicht mehr festzustellen. Außer wenn mit Dritte-Welt-Methoden vorgegangen wird. Oder wenn die Polizei mitpfuscht. Sonst ausgeschlossen.« Er trank und schüttelte den Kopf. »Kampf gegen Windmühlen, Rex. Ziemlich heiße Nummer.« Mehrere schnelle Schlucke. Er murmelte Prost, wußte nicht mehr, daß er schon einmal Prost gesagt hatte. »Man hat mir einen Hinweis gegeben. Sekretärinnen. Alte Freunde von der Rechtsabteilung. Wohlgemerkt, die sagen nichts. Das brauchen sie gar nicht. Entschuldige, Harry, mein Boß hat Ihr Telefon angezapft<, so was gibt's nicht. Bloß Andeutungen.« Zwei Männer in lederner Motorradkluft hatten eine Partie Shuffleboard begonnen. »Sagen Sie, sollten wir nicht woanders hingehen?«

Dem Kino gegenüber gab es eine leere Trattoria. Es war halb sieben. Der italienische Kellner ignorierte sie.

»Meine Wohnung haben sie auch auf den Kopf gestellt«, sagte Palfrey kichernd, als ob er einen schmutzigen Witz erzählte. »Haben aber nichts mitgehen lassen. Mein Vermieter hat es mir gesagt. Zwei Freunde von mir. Denen ich angeblich den Schlüssel gegeben hatte.«

»Und hatten Sie das?«

»Nein.«

»Haben Sie jemand anderem einen Schlüssel gegeben?«

»Na ja, Mädchen und so. Die meisten geben ihn zurück.«

»Also hat man Ihnen gedroht, ich hatte recht.« Goodhew bestellte zwei Portionen Spaghetti und eine Flasche Chianti. Der Kellner zog ein saures Gesicht und schrie etwas durch die Küchentür. Palfrey war die Angst deutlich anzusehen. Sie zerrte wie Zugluft an seinen Knien, nahm ihm den Atem, bevor er sprach.

»Schwer, sein Herz auszuschütten, Rex«, erklärte Palfrey kleinmütig. »Lebenslange Gewohnheiten, nehme ich an. Man kriegt die Zahnpasta nicht mehr in die Tube zurück, wenn man sich mal draufgesetzt hat. Das ist das Problem.« Er senkte hastig den Mund über sein Glas, um den Wein aufzufangen, bevor er überlief. »Ich brauche gewissermaßen Hilfe. Tut mir leid.«

Wie so oft hatte Goodhew bei Palfrey das Gefühl, einer gestörten Rundfunksendung zu lauschen, deren Inhalt nur in konfusen Salven an sein Ohr drang. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, Harry. Das wissen Sie. Im Leben gibt's keine Gratisgeschenke. Alles muß verdient werden. Daran glaube ich. Sie vermutlich auch.«

»Ja, aber Sie haben den Mut«, wandte Palfrey ein.

»Und Sie haben das Wissen«, sagte Goodhew.

Palfrey riß verblüfft die Augen auf. »Das hat Darker gesagt! Haargenau dasselbe! Zuviel Wissen. Gefährliches Wissen. Mein Pech! Sie sind erstaunlich, Rex. Der reinste Hellseher.«

»Sie haben also mit Geoffrey Darker geredet. Worüber?«

»Na ja, eher er mit mir. Ich habe bloß zugehört.«

»Wann?«

»Gestern. Nein. Freitag. War bei mir im Zimmer. Zehn vor eins. Wollte gerade meinen Mantel anziehen. >Zum Lunch schon was vor?< Dachte, er wollte mich einladen. >Bloß eine lockere Verabredung in meinem Club<, sagte ich, >nichts, das ich nicht absagen könnte.< Und er: >Dann sagen Sie ab.< Also sage ich ab. Und dann reden wir. In der Mittagspause. In meinem Büro. Sonst keiner da. Nicht mal ein Glas Perrier oder ein trockener Keks. Saubere Arbeit. Das muß man Geoffrey lassen.«

Er grinste wieder.

»Und was hat er gesagt?« soufflierte Goodhew.

»Er hat gesagt« - Palfrey holte gewaltig Luft, wie jemand, der eine weite Strecke tauchen will -, »er hat gesagt, es sei an der Zeit, daß der Abteilung ein paar gute Leute zu Hilfe kommen. Daß die Vettern freien Zugriff auf die Operation Klette haben wollen. Um ihre eigenen Ermittler könnten sie sich schon selber kümmern, aber sie erwarten, daß wir uns um unsere kümmern. Wollte sichergehen, daß ich an Bord bin.«

»Und? Was haben Sie gesagt?«

»Daß ich an Bord bin. Hundertprozentig. Nun, bin ich ja auch. Oder wie?« Er fuhr auf: »Oder meinen Sie etwa, ich hätte ihm sagen sollen, er kann mich mal? Herrgott!«

»Selbstverständlich nicht, Harry. Sie müssen tun, was für Sie am besten ist. Ich verstehe das. Sie haben also erklärt, daß Sie an Bord sind. Was hat er gesagt?«

Palfrey verfiel wieder in seine mürrische Aggressivität. »Er hat verlangt, daß ich bis nächsten Mittwoch siebzehn Uhr eine juristische Interpretation des Abgrenzungsvertrags zwischen River House und Burrs Dienststelle abliefere. Geht um den Vertrag, den ich für Sie entworfen habe. Ich habe zugesagt.«

»Und?«

»Das ist alles. Mittwoch siebzehn Uhr ist mein Abgabetermin. Am nächsten Vormittag trifft sich die Flaggschiff-Truppe. Er braucht Zeit, um erst mal meinen Bericht zu studieren. Ich habe gesagt, kein Problem.«

Daß er mit so schrillem Ton abbrach und gleichzeitig die Augenbrauen hochzog, stimmte Goodhew nachdenklich. Wenn sein Sohn Alastair das gleiche machte, bedeutete es,

daß er etwas verheimlichte. Bei Palfrey hegte Goodhew einen ähnlichen Verdacht.

»Ist das alles?«

»Warum nicht?«

»War Darker mit Ihnen zufrieden?«

»Sehr, um die Wahrheit zu sagen.«

»Warum? Sie waren doch bloß einverstanden, einen Befehl zu befolgen, Harry. Warum sollte er da so zufrieden mit Ihnen gewesen sein? Haben Sie sich bereit erklärt, noch mehr für ihn zu tun?« Goodhew hatte das seltsame Gefühl, Palfrey dränge ihn, ihm kräftiger zuzusetzen. »Haben Sie vielleicht etwas erzählt?« fragte er lächelnd, um ihm das Geständnis leichter zu machen.

Palfrey grinste gequält.

»Aber Harry - was könnten Sie Darker denn erzählt haben, das er noch nicht wußte?«

Palfrey bemühte sich wirklich. Es war, als nehme er mehrmals Anlauf vor derselben Hürde, entschlossen, sie früher oder später zu überspringen.

»Haben Sie ihm von mir erzählt?« fragte Goodhew. »Doch wohl kaum. Das wäre glatter Selbstmord gewesen. Oder?«

Palfrey schüttelte den Kopf. »Niemals«, flüsterte er. »Ehrensache, Rex. Käme mir nie in den Sinn.«

»Also was?«

»Nur eine Theorie, Rex. Eine Vermutung, mehr nicht. Eine Hypothese. Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Keine Geheimnisse, nichts Schlechtes. Bloß Theorien. Müßige Theorien. Geplauder. Die Zeit totschlagen. Da steht einer in meinem Zimmer. Mittagspause. Starrt mich an. Mußte ihm irgend etwas sagen.«

»Theorien, die sich auf was gründen?«

»Auf die Vorlage, die ich Ihnen unterbreitet habe. Über das Material gegen Roper, das nach englischem Recht für einen Prozeß reichen würde. Ich habe in Ihrem Büro daran gearbeitet. Sie erinnern sich.«

»Natürlich erinnere ich mich. Und was ist Ihre Theorie?«

»Auslöser war dieser geheime Nachtrag, den die amerikanischen Ermittler in Miami erstellt haben. Die Zusammenfassung des bisher vorliegenden Beweismaterials. Strelski, so heißt er doch? Ropers ursprüngliches Angebot an die Kartelle, die Grundzüge des Geschäfts, alles sehr kaschiert, sehr streng geheim. Nur für Ihre und Burrs Augen bestimmt.«

»Und für Ihre, natürlich«, bemerkte Goodhew und wich in einem Vorgefühl von Ekel vor ihm zurück.

»Ich habe ein Spiel gespielt. Wenn man einen Bericht wie diesen liest, kommt man gar nicht daran vorbei. Wir spielen doch alle, oder? Können nicht anders. Natürliche Neugier. Können die Gedanken nicht abschalten ... den Verräter entlarven. Diese langen Kapitel mit nur drei Leuten im Zimmer. Manchmal nur zwei. Aber wo sie auch waren, jedesmal wurden sie von dieser verläßlichen Quelle verpfiffen. Ja, ich weiß, die moderne Technik ist schon nicht übel, aber das war geradezu lächerlich.«

»Sie haben also den Verräter entlarvt.«

Palfrey sah richtig stolz aus, wie jemand, der endlich den Mut zusammengenommen und für heute seine Pflicht getan hat.

»Und Sie haben Darker erzählt, wen Sie entlarvt haben«, meinte Goodhew.

»Es war dieser Grieche. Arbeitet mit den Kartellen zusammen, und kaum drehen sie ihm den Rücken zu, verpfeift er sie bei den Ermittlern. Apostoll. Anwalt, wie ich.«

Nachdem Goodhew ihn noch am selben Abend von Palfreys Indiskretion unterrichtet hatte, stand Burr vor dem Dilemma, das jeder Agentenführer am meisten fürchtet.

Typischerweise war seine erste Reaktion rein gefühlsmäßig. Er setzte ein dringende persönliche Nachricht an Strelski in Miami auf und teilte ihm mit, er habe Grund zu der Annahme, daß »uns nicht freundlich gesinnte Zentralisten von der Identität unseres Bruders Michael Wind bekommen haben«. Aus Rücksicht auf die hochtrabende Sprache der amerikanische Schreibtischspione änderte er den Ausdruck »Wind bekommen« in »Kenntnis erhalten« um und schickte die Nachricht ab. Daß das Leck auf britischer Seite zu suchen sei, verschwieg er: Strelski würde von selbst darauf kommen.

Nachdem er Strelski gegenüber seine Pflicht getan hatte, saß der Nachfahre von Webern aus Yorkshire stoisch in seiner Dachstube und starrte durch das Fenster in den orangefarbenen Himmel von Whitehall. Burr wartete längst nicht mehr ungeduldig auf ein Zeichen, irgendein Zeichen seines Agenten. Er hatte nur noch die Pflicht zu entscheiden, ob er seinen Agenten abziehen oder das Risiko eingehen und weitermachen sollte. Noch immer grübelnd, schlenderte er durch den langen Flur und hockte sich, die Hände in der Tasche, auf die Heizung in Goodhews Büro; draußen auf der Brüstung zankten sich die Tauben.

»Sollen wir die schlimmste Möglichkeit durchspielen?« schlug Goodhew vor.

»Die schlimmste Möglichkeit ist, daß sie Apo in die Zange nehmen und er ihnen erzählt, er habe Anweisung von uns, Corkoran als Unterzeichner zu diskreditieren«, sagte Burr.

»Damit steht mein Mann als der neue Unterzeichner fest.«

»Wer ist sie in diesem Szenario, Leonard?«

Burr zuckte die Schultern. »Apos Klienten. Oder die Nachrichtenauswerter.«

»Du liebe Zeit, Leonard, die Zentrale Nachrichtenauswertung ist doch auf unserer Seite. Natürlich haben wir unsere Differenzen, aber sie würden doch nicht unsere Quelle in Gefahr bringen, bloß wegen Kompetenzstreitigkeiten zwischen...«

»Und ob sie das würden, Rex«, sagte Burr freundlich. »So sind sie eben. Genau das machen sie.«

Und wieder saß Burr in seinem Zimmer und dachte allein über seine Alternativen nach. Die grüne Schreibtischlampe eines Spielers. Das Dachfenster eines Webers, mit Blick in die Sterne. Roper. Noch zwei Wochen, und dann kriege ich dich. Dann weiß ich, welches Schiff, kenne ich die Namen und Zahlen und Orte. Ich werde Beweismaterial gegen dich in der Hand haben, von dem dich nichts und niemand mehr reinwaschen kann, weder deine Privilegien noch deine schlauen Insider-Freunde, noch irgendwelche juristischen Spitzfindigkeiten.

Jonathan. Der beste Joe, den ich je hatte; der einzige, dessen Kode ich nie geknackt habe. Erst habe ich dich als unergründliches Gesicht gekannt. Jetzt kenne ich dich als unergründliche Stimme:

Ja, gut, danke, Leonard- sicher, Corkoran traut mir nicht, aber der arme Kerl kommt einfach nicht dahinter, weshalb ... Jed? Steht noch in seiner Gunst, soweit man das beurteilen kann, aber sie und Roper sind wie Chamäleons, ziemlich schwer zu sagen, was sich unter der Oberfläche abspielt ...

Chamäleon, dachte Burr grimmig. Mein Gott, wenn du kein Chamäleon bist, wer dann? Wie war das mit deinem kleinen Temperamentsausbruch bei Mama Low?

Die Vettern werden stillhalten, beschoß er in einer Anwandlung von Optimismus. Ein identifizierter Agent ist ein zusätzlicher Agent. Selbst wenn es ihnen gelingt, Jonathan zu identifizieren, werden sie gar nichts tun und abwarten, was er herausfindet.

Die Vettern werden handeln, sagte er sich, als das Pendel in die andere Richtung schwang. Auf Apostoll können sie verzichten. Wenn sie sich bei den Kartellen einschmeicheln wollen, werden sie ihnen Apostoll zum Geschenk machen. Wenn sie meinen, daß wir zu nahe dran sind, werden sie Apostoll auffliegen lassen und uns die Quelle zuschütten ...

Das Kinn auf eine Hand gestützt, starrte Burr aus dem Fenster: Zwischen zerfetzten Wolkenbänken dämmerte der Herbstmorgen herauf.

Abbrechen, beschloß er. Jonathan in Sicherheit bringen, sein Gesicht verändern, ihm noch einen anderen Namen geben, den Laden dichtmachen und nach Hause gehen.

Und dich für den Rest deiner Tage fragen, auf welchem der sechs zur Zeit von Ironbrand gecharterten Schiffe der größte Waffenfang deines Lebens durch die Gegend geschippert ist? Und wo der Austausch der Waren stattgefunden hat?

Und wie Inhaberobligationen im Wert von Hunderten, vielleicht Tausenden Millionen Pfund spurlos in den maßgeschneiderten Taschen ihrer anonymen Träger verschwinden konnten?

Und wie Dutzende von Tonnen erstklassigen Kokains zu Billigstpreisen irgendwo zwischen der Westküste Kolumbiens und der Freihandelszone von Colon programmgemäß verschwinden konnten, um in vernünftig gestückelten Mengen, nie zuviel auf einmal, auf den freudlosen Straßen Mitteleuropas wiederaufzutauchen?

Und was ist mit Joe Strelski, Pat Flynn, Amato und ihrer Mannschaft? Mit all ihrer Plackerei? Umsonst? Der Nachrichtenauswertung auf dem silbernen Tablett überreicht? Oder nicht einmal denen, sondern irgendeiner finsteren Bruderschaft aus ihren Reihen?

Das abhörsichere Telefon läutete. Burr ergriff dankbar den Hörer. Es war Rooke, der sich mit seinem Funktelefon aus Curacao meldete.

»Der Jet des Mannes ist hier vor einer Stunde gelandet«, berichtete er mit seiner angeborenen Abneigung, Namen zu nennen.

»Unser Freund war auch dabei.«

»Wie sah er aus?« fragte Burr gespannt.

»Prächtig. Keine Narben, soweit ich gesehen habe. Guter Anzug. Schicke Schuhe. Aufpasser links und rechts, aber das schien ihn nicht zu stören. Prima in Form, wenn du mich fragst. Du hast mich gebeten, dich anzurufen, Leonard.«

Burr sah sich um und starrte die Land- und Seekarten an. Die Luftaufnahmen von Dschungelgebieten, die mit roten Kreisen markiert waren. Die Aktenstapel auf dem alten Holzschreibtisch. Er dachte an all die Monate harter Arbeit, die jetzt an einem dünnen Faden hingen.

»Die Operation läuft weiter«, sagte er.

Am nächsten Tag flog er nach Miami.