16
»Mein Lieber«, sagte Corkoran, der sich die erste stinkende Zigarette dieses Tages ansteckte und auf dem Schoß statt eines Aschenbechers ein Porzellantintenfaß balancierte. »Was dagegen, wenn wir die Fliegenscheiße aus dem Pfeffer holen?«
»Ich will Sie nicht in meiner Nähe haben«, sagte Jonathan; er hatte sich auf diese Rede vorbereitet. »Ich habe nichts zu erklären und brauche mich für nichts zu rechtfertigen. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Corkoran lehnte sich dankbar in den Sessel zurück. Sie waren allein im Zimmer. Frisky war wieder einmal nach draußen geschickt worden.
»Sie heißen Jonathan Pine, früher in den Hotels Meister, Nefertiti und anderen Palästen beschäftigt. Aber jetzt sind Sie mit einem echten kanadischen Paß als ein gewisser Thomas Lamont unterwegs. Nur daß Sie zufällig gar nicht Thomas Lamont sind. Protest? Kein Protest?«
»Ich habe den Jungen befreit, Sie haben mich zusammengeflickt. Geben Sie mir meinen Paß, und lassen Sie mich gehen.«
»Und nachdem Sie J. Pine bei Meister und bevor Sie T. Lamont aus Kanada waren, ganz zu schweigen von J. Beauregard, waren Sie Jack Linden im hintersten Cornwall. In dieser Rolle haben Sie einen Ihrer Freunde kaltgemacht, nämlich einen gewissen Alfred alias Jumbo Harlow, einen australischen Bootshändler mit diversen Vorstrafen wegen Drogenschmuggels da unten. Und dann sind Sie verduftet, bevor der Arm des Gesetzes Sie erreichen konnte.«
»Die Polizei in Plymouth sucht mich, um mir ein paar Fragen zu stellen. Weiter habe ich es nie gebracht.«
»Und Harlow war Ihr Geschäftspartner«, sagte Corkoran, während er etwas notierte.
»Wenn Sie meinen.«
»Drogenschmuggel, Schätzchen?« fragte Corkoran und blickte auf.
»Es war ein normales Geschäft.«
»Die Zeitungen stellen das nicht so dar. Unsere kleinen Vögelchen pfeifen auch etwas anderes von den Dächern. Jack Linden alias J. Pine alias Sie hat für Harlow eine Ladung Stoff von den Kanalinseln nach Falmouth gebracht, und zwar allein mit einem Segelboot, wie die Reporter beeindruckt berichten. Und unser Partner, Bruder Harlow, hat das Zeug in London verscherbelt und uns um unseren Anteil geprellt. Was uns verstimmt hat. Verständlich. Also haben Sie getan, was jeder von uns tun würde, wenn er über seinen Partner verstimmt ist: Sie haben ihn kaltgemacht. Angesichts Ihrer erprobten Talente auf diesem Gebiet ist der unvermeidliche Eingriff nicht ganz so sauber verlaufen, wie man hatte erwarten können, denn Harlow, dieser Flegel, hat Widerstand geleistet. Es kam zu einem Kampf. Aber Sie haben gewonnen. Und dann haben Sie ihn kaltgemacht. Wie schön für uns.«
Immer ausweichen, hatte Burr gesagt. Sie sind nicht dagewesen, das waren zwei andere, er hat zuerst geschlagen, es war mit seinem Einverständnis. Dann ungeschickt nachgeben, um sie zu überzeugen, sie hätten Ihr wirkliches Ich erwischt.
»Die haben keine Beweise«, erwiderte Jonathan. »Sie haben nur etwas Blut gefunden, aber keine Leiche. Und jetzt gehen Sie endlich.«
Corkoran schien das ganze Thema vergessen zu haben. Er grinste nostalgisch ins Leere, dachte an nichts Böses mehr. »Kennen Sie den von dem Mann, der sich beim Außenministerium um einen Job bewirbt? >Sie haben ein einnehmendes Äußeres, aber wir können nicht über die Tatsache hinwegsehen, daß Sie eine Zeitlang wegen Analverkehr, Brandstiftung und Vergewaltigung im Gefängnis gesessen haben...< Kennen Sie den wirklich nicht?«
Jonathan stöhnte.
»>Das läßt sich ganz einfach erklären< sagte Carruthers. >War verliebt, aber die Kleine wollte sich nicht von mir vögeln lassen. Also hab ich ihr eins über den Schädel gezogen, sie vergewaltigt, mir dann den alten Herrn vorgenommen und das Haus in Brand gesteckt.< Den müssen Sie doch kennen.«
Jonathan hatte die Augen geschlossen.
»>Okay, Carruthers<, sagen die in der Personalabteilung. >Wir wußten, daß es eine vernünftige Erklärung geben würde. Machen wir eine Vereinbarung. Sie halten sich von den Sekretärinnen fern, spielen nicht mit Streichhölzern, geben uns einen Kuß und kriegen den Job.<«
Corkoran lachte tatsächlich. Die rosa Fettwülste an seinem Hals schwabbelten, Lachtränen liefen ihm über die Wangen. »Ich find's irgendwie beschissen, daß Sie im Bett liegen«, erklärte er. »Und außerdem der Held des Tages sind. War soviel einfacher, wenn ich Sie unter einer hellen Lampe vor mir hätte, dann könnte ich mit Ihnen James Cagney spielen und Sie mit einem Dildo zusammenschlagen.« Er nahm den hochfahrenden Ton eines Gerichtspolizisten an: »>Der Gesuchte, Mylord, soll eine verräterische Narbe an der rechten Hand haben! < Zeigen«, befahl er mit völlig veränderter Stimme.«
Jonathan machte die Augen auf. Corkoran stand wieder neben dem Bett, schwang die Zigarette wie einen schmutzigen gelben Zauberstab, nahm Jonathans rechten Unterarm in seine feuchte Hand und untersuchte die breite Narbe, die sich über den Handrücken schlängelte.
»Oha«, sagte Corkoran. »Beim Rasieren ist Ihnen das nicht passiert - in Ordnung. Ganz ruhig.«
Jonathan hatte die Hand zurückgerissen. »Er ist mit dem Messer auf mich losgegangen«, sagte er. »Ich wußte nicht, daß er eins hatte. Hat es am Unterschenkel getragen. Ich hatte ihn gefragt, was in dem Boot war. Inzwischen wußte ich es. Hatt's erraten. Er war ziemlich groß. Hab mich nicht getraut, ihn zu Boden zu werfen, also bin ich ihm an die Gurgel gegangen.«
»Der gute alte Adamsapfel, wie? Sie sind ein echter Raufbold, was? Schön zu wissen, daß manche nicht ganz umsonst in Irland gewesen sind. Sind Sie sicher, daß es nicht doch Ihr Messer war, Lieber? Wie man so hört, scheinen Sie eine ausgewachsene Schwäche für Messer zu haben.«
»Es war sein Messer, hab ich gesagt.«
»Irgendeine Ahnung, an wen Harlow den Stoff verkauft hat?«
»Keine blasse Ahnung. Ich hab nur das Boot gesegelt. Gehen sie endlich. Quälen Sie jemand anderen.«
»Maultier. Bei uns nennt man das so. Maultier.«
Aber Jonathan griff weiter an. »Aha! Jetzt verstehe ich! Sie und Roper! Sie sind Drogenschmuggler! Phantastisch. Fühl mich schon wie zu Hause.«
Er sank auf seine Kissen zurück und wartete auf Corkorans Reaktion. Die kam unerwartet heftig. Mit bemerkenswerter Behendigkeit war Corkoran zu ihm ans Bett gesprungen und hatte sich ein dickes Büschel von Jonathans Haaren geschnappt, um kräftig daran zu ziehen.
»Aber, aber« murmelte er vorwurfsvoll. »Mein Lieber. Kleine Scheißer in Ihrer Lage sollten besser ihre Zunge hüten. Wir sind die Ironbrand Gas, Light & Coke Company in Nassau, Bahamas, vorgeschlagen für den Nobelpreis für Honorigkeit. Die Frage ist, wer zum Teufel sind Sie?«
Die Hand gab Jonathans Haare frei. Er lag reglos da, sein Herz hämmerte. »Harlow hat gesagt, es ginge um eine Rücküberführung«, sagte er heiser. »Er hatte das Boot an jemand in Australien verkauft, der wollte aber nicht zahlen. Er sagte, er habe das Boot mit Hilfe von Freunden bis zu den Kanalinseln verfolgt. Wen ich es nach Plymouth bringen könnte, könnten wir es verkaufen und uns gesundstoßen. Die Sache kam mir damals ganz koscher vor. Idiotisch von mir, ihm zu trauen.«
»Und was haben Sie mit der Leiche gemacht, mein Lieber?« fragte Corkoran, der wieder in seinem Sessel saß, plump vertraulich. »In die sprichwörtliche Zinngrube geworfen? Die gute alte Tour?«
Wechsel den Rhythmus, laß ihn warten. Die Stimme grau vor Verzweiflung. »Warum holen Sie nicht einfach die Polizei,
liefern mich aus und kassieren die Belohnung?« schlug Jonathan vor.
Corkoran nahm den provisorischen Aschenbecher vom Schoß und langte nach einer militärisch aussehenden Ledermappe, die offenbar nichts anderes als Faxe enthielt.
»Und Bruder Meister?« fragte er. »Was hat der Ihnen getan?«
»Er hat mich bestohlen.«
»Ach Sie Ärmster! Wie das Leben Ihnen mitspielt! - Und wie?«
»Allen anderen in der Belegschaft wurde ein Anteil am Servicegeld ausgezahlt. Das war genau festgelegt, je nach Rang und Dienstalter bekam man soundsoviel. Da ist jeden Monat einiges rausgesprungen, sogar für einen Neuling. Meister sagte mir, Ausländern brauche er es nicht zu zahlen. Und dann bin ich dahintergekommen, daß er es anderen Ausländern doch gezahlt hat, nur mir nicht.«
»Und da haben Sie sich selbst bedient. Aus dem Safe. Da hat er aber Glück gehabt, daß Sie ihn nicht auch kaltgemacht haben. Oder ihm sein Dingsbums mit dem Taschenmesser aufgeschlitzt haben.«
»Ich habe Überstunden für ihn gemacht. Tagsüber. Und an meinem freien Tag die Inventur im Weinkeller. Nichts. Nicht mal, wenn ich mit Gästen auf dem See segeln gegangen bin. Er hat ihnen ein Vermögen dafür berechnet und mir keinen Pfennig gezahlt.«
»Aus Kairo sind wir auch ziemlich überstürzt abgereist, fällt mir auf. Warum, weiß anscheinend niemand so genau. Keinerlei Hinweise auf irgendwas Kriminelles, wohlgemerkt. Kein Flecken auf der weißen Weste. Queen Nefertiti zufolge. Oder aber die sind uns nicht auf die Schliche gekommen.«
Auf die Geschichte war Jonathan vorbereitet. Er hatte sie mit Burr zusammen ausgedacht. »Ich hatte was mit einem Mädchen. Sie war verheiratet.«
»Hatte sie einen Namen?«
Verteidigen Sie Ihre Ecke, hatte Burr gesagt.
»Nicht für Sie. Nein.«
»Fifi? Lulu? Mrs. Tut-ench-amon? Nein? Na ja, sie kann ja immer einen von Ihren benutzen, wie?«
Corkoran blätterte träge in seinen Faxen. »Und was ist mit dem Arzt? Hatte der einen Namen?«
»Marti.«
»Doch nicht der, Idiot.«
»Wer dann? Welcher Arzt? Was soll das, Corkoran? Stehe ich vor Gericht, weil ich Daniel gerettet habe? Wo soll das hinführen?« Diesmal wartete Corkoran geduldig, bis der Sturm vorüber war. »Der Arzt, der Ihnen auf der Unfallstation in Truro die Hand genäht hat«, erklärte er.
»Ich weiß nicht, wer das war. Irgendein Assistenzarzt.«
»Ein Weißer?«
»Braun. Inder oder Pakistani.«
»Und wie sind wir dort hingekommen? Zum Krankenhaus? Mit unserer armen blutenden Hand?«
»Ich hab sie in ein paar Geschirrtücher gewickelt und Harlows Jeep genommen.«
»Mit der linken Hand?«
»Ja.«
»Zweifellos dasselbe Auto, mit dem wir die Leiche wegtransportiert haben? Die Polizei hat Blutspuren in dem Wagen gefunden. Aber nicht nur von uns, sondern wohl eher von einem Cocktail. Von Jumbo war auch was dabei.«
Während er auf eine Antwort wartete, machte Corkoran sich geschäftig kleine Notizen.
»Bringen Sie mich nach Hause«, sagte Jonathan. »Ich habe keinem von Ihnen was getan. Ich verlange nichts. Wenn ich mich bei Low nicht so idiotisch aufgeführt hätte, hätten Sie nie von mir erfahren. Ich will nichts von Ihnen, ich bitte Sie um nichts, ich will kein Geld, ich will keinen Dank, ich will keinen Beifall. Lassen Sie mich gehen.«
Corkoran rauchte nachdenklich seine Zigarette und blätterte in den Papieren auf seinem Schoß. »Wie wär's zur Abwechslung mal mit Irland?« schlug er vor, als sei Irland ein Gesellschaftsspiel für verregnete Nachmittage. »Zwei alte Soldaten plaudern über bessere Zeiten. Was kann es Schöneres geben?«
Wenn Sie auf die wahren Begebenheiten zu sprechen kommen,
werden Sie nicht zu sicher, hatte Burr gesagt. Verhaspeln Sie sich, vergessen Sie ein bißchen, korrigieren Sie sich. Die sollen denken, gerade dort könnten sie Sie bei einer Lüge ertappen.
»Was haben Sie eigentlich mit diesem Typ angestellt?« fragte Frisky mit kollegialer Neugier.
Es war mitten in der Nacht. Er lag auf einem Futon vor der Tür, neben sich eine abgedeckte Leselampe und einen Stapel Pornomagazine.
»Von wem reden Sie?« fragte Jonathan.
»Von dem Typ, der sich den kleinen Daniel für einen Abend ausgeliehen hat. Der hat ja da oben im Küchenhaus geschrien wie 'ne angestochene Sau, das hätte man noch in Miami hören können.«
»Ich muß ihm den Arm gebrochen haben.«
»Gebrochen? Ich denke eher, Sie haben ihm den Arm ganz langsam rausgeschraubt. Treiben Sie vielleicht so eine japanische Kampfsportart, sind Sie einer von diesen Harisuchi-Spezialisten?«
»Ich hab einfach zugepackt und gezogen«, sagte Jonathan.
»Ist Ihnen in den Händen zerbrochen«, sagte Frisky verständnisvoll. »Kann den besten von uns passieren.«
Die gefährlichsten Augenblicke sind die, wenn Sie einen Freund brauchen, hatte Burr gesagt.
Und nach Irland erkundeten sie, was Corkoran »unsere Tage als Lakai auf dem Weg nach oben« nannte, also Jonathans Ausbildung an der Hotelfachschule, dann seine Zeit als Sous chef, als Chefkoch und schließlich als Manager in der Hotelbranche.
Danach wiederum wollte Corkoran etwas über seine Abenteuer im Chäteau Babette erfahren; als er davon erzählte, achtete Jonathan peinlich darauf, Yvonnes Anonymität zu wahren, mußte aber feststellen, daß Corkoran auch diese Geschichte kannte.
»Und wie in Gottes Namen kommen wir dazu, uns bei Mama Low einzunisten, mein Lieber?« fragte Corkoran und steckte sich die nächste Zigarette an. »Mamas Laden ist seit Urzeiten die Lieblingstränke des Chefs.«
»Wollte einfach irgendwo für ein paar Wochen vor Anker gehen.«
»Sie meinen untertauchen?«
»Ich hatte einen Job auf einer Jacht oben in Maine.«
»Chefkoch und Mädchen für alles?«
»Majordomus.«
Pause, während Corkoran in seinen Faxen wühlte.
»Und?«
»Ich hatte mir was gefangen und mußte an Land gebracht werden. Habe mich in einem Hotel in Boston ins Bett gelegt und dann Billy Bourne in Newport angerufen. Billy vermittelt mir die Jobs. Er sagte, warum arbeiten Sie nicht ein paar Monate bei Low, nur Essen zubereiten, ein bißchen ausspannen?«
Corkoran befeuchtete einen Finger, zog heraus, was auch immer er gesucht haben mochte, und hielt er ins Licht.
»Um Himmels willen«, murmelte Jonathan; es klang, als bete er um Schlaf.
»Jetzt zu dem Boot, auf dem wir krank geworden sind, mein Lieber. Müßte die Lolita gewesen sein, früher die Persephone, gebaut in Holland; Eigentümer Nikias Asserkalian, das berühmte Showtalent, toller Hecht und Gauner, sechzig Meter schlechter Geschmack. Nicht Nikos, der ist ein Zwerg.«
»Den hab ich nie kennengelernt. Wir wurden gechartert.«
»Von wem?«
»Von vier kalifornischen Zahnärzten und ihren Frauen.«
Jonathan rückte freiwillig ein paar Namen heraus, die Corkoran in sein schmuddliges billiges Notizbuch schrieb, nachdem er es auf seinem breiten Oberschenkel flachgedrückt hatte.
»Lustiger Haufen ja? Viel gelacht?«
»Haben mir nichts getan.«
»Und Sie ihnen auch nichts?« fragte Corkoran freundlich. »Ihren Safe geplündert, einem den Hals gebrochen oder mit dem Messerchen zugesetzt oder so was?«
»Jetzt reicht's, hauen Sie ab«, sagte Jonathan.
Corkoran dachte darüber nach und schien die Idee gut zu finden. Er packte seine Papiere zusammen und leerte den Aschenbecher in den Papierkorb, was eine furchtbare Schweinerei machte. Er besah sich im Spiegel, schnitt Grimassen und versuchte vergeblich, sich mit den Fingern die Haare glattzuzupfen. »Das Ganze ist einfach zu gut, Mann«, erklärte er.
»Was?«
»Ihre Geschichte. Weiß auch nicht, warum. Weiß nicht, wie. Weiß nicht, wo. Muß an Ihnen liegen. Kommt mir vor, als wäre ich Ihnen unterlegen.«
Er riß sich noch einmal heftig an den Haaren. »Aber ich bin Ihnen unterlegen. Ich bin doch bloß eine böse, kleine Tunte in der Welt der Erwachsenen. Während Sie -Sie spielen nur den Unterlegenen.«
Er ging ins Bad und pinkelte. »Tabby hat Ihnen übrigens ein paar Klamotten besorgt«, rief er durch die offene Tür. »Nichts Weltbewegendes, aber sie werden Ihre Blöße bedecken, bis die Armanis hier eintreffen.« Er spülte und kam ins Zimmer zurück. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie in den Schwitzkasten nehmen«, sagte er, während er den Reißverschluß hochzog. »Ich würde Ihnen alles wegnehmen, Ihnen die Augen verbinden und Sie so lange an Ihrem verdammten Füßen aufhängen, bis die Wahrheit durch die Schwerkraft aus Ihnen herausfällt. Aber man kann im Leben nicht alles haben, stimmt's? Tschüssi.«
Der nächste Tag. Daniel war zu dem Schluß gekommen, daß Jonathan ein wenig Unterhaltung brauchte.
»Was ist eine Lasterhöhle?«
»Ein Spielkasino. Ein Freudenhaus.«
»Eine große Garage. Was geht einer Schildkröte durch den Kopf, wenn sie mit einem Mercedes zusammenstößt?«
»Langsame Musik?«
»Ihr Panzer. Corky redet mit Roper im Arbeitszimmer. Er sagt, er ist so weit gegangen, wie er konnte. Entweder bist du persilweiß, oder du bist der größte Betrüger der Christenheit.«
»Wann sind sie zurückgekommen?«
»Im Morgengrauen. Roper fliegt immer im Morgengrauen. Sie reden über dein Fragezeichen.«
»Mit Jed?«
»Jed reitet Sarah aus. Sie reitet Sarah immer aus, wenn sie zurückkommt. Sarah hört sie und kriegt einen Anfall, wenn sie nicht gleich kommt. Roper sagt, die beiden sind Lesben. Was sind Lesben?«
»Frauen, die Frauen lieben.«
»Roper hat mit Sandy Langbourne über dich gesprochen, als er in Curacao war. Niemand darf am Telefon über dich reden. Was Thomas betrifft, bis auf weiteres Funkstille, Befehl vom Chef.«
»Vielleicht solltest du nicht so oft andere Leute belauschen. Du wirst dich noch überanstrengen.«
Daniel macht einen Buckel, warf den Kopf hoch und schrie den Ventilator an: »Ich lausche nicht! Das ist nicht fair! Ich hab's nicht mal versucht! Ich kann nichts dafür, wenn ich was höre! Corky sagt, du bist ein gefährliches Rätsel, das ist alles! Bist du nicht! Ich weiß, das bist du nicht! Ich mag dich! Roper wird dir selbst auf den Zahn fühlen und dich ansehen!«
Kurz vor der Morgendämmerung.
»Kennen Sie die beste Methode, einen zum Reden zu bringen, Tommy?« fragte Tabby von seinem Futon, um gleich mit seinem Tip herausrücken. »Unfehlbar? Hundert Prozent? Hat noch niemals versagt? Die Kribbelwasserbehandlung. Man verstopft ihm den Mund, daß er nur noch durch die Nase atmen kann. Oder ihr. Dann nimmt man einen Trichter, falls einer vorhanden ist, und schüttet ihm den Sprudel in die Nase. Haut voll in die Schaltzentrale, als ob einem das Hirn überkocht. Ganz schön teuflisch.«
Zehn Uhr morgens.
Jonathan ging unsicher an Corkorans Arm über den Kiesvorplatz von Crystal, und plötzlich erinnerte er sich genau an den Tag, als er am Arm seiner deutschen Tante Monika über den Haupthof des Buckingham-Palastes gegangen war, um den Orden seines toten Vaters abzuholen. Was haben solche Auszeichnungen für einen Sinn, wenn man tot ist, hatte er sich gefragt. Und die Schule, wenn man lebendig ist?
Ein stämmiger schwarzer Diener ließ sie ein. Er trug eine grüne Weste und schwarze Hosen. Ein ehrwürdiger schwarzer Butler in gestreifter Baumwollweste trat vor und nahm sie in Empfang.
»Zum Chef, bitte, Isaac«, sagte Corkoran. »Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Wir werden erwartet.«
In der riesigen Eingangshalle hallten ihre Schritte wie in einer Kirche. Eine geschwungene Marmortreppe mit vergoldetem Geländer führte über drei Absätze in den blaugemalten Himmel der Kuppel. Sie schritten über rosa Marmor, auf dem in rosiger Frische das Sonnenlicht schwebte. Zwei lebensgroße ägyptische Krieger bewachten einen steinernen Türbogen. Sie hingen hindurch und gelangten in eine Galerie, deren Mittelpunkt das goldene Haupt des Sonnengottes war. Griechische Torsos, marmorne Köpfe und Hände. Vasen und Steintafeln mit Hieroglyphen waren stehend und liegend in kunstvoller Unordnung angeordnet. In Messing gefaßte Glasvitrinen an den Wänden waren mit Statuetten angefüllt. Handgeschriebene Schildchen gaben die Herkunft an: westafrikanisch, peruanisch, präkolumbisch, kambodschanisch, minoisch, russisch, römisch und einmal schlicht >Nil<.
Er plündert, hatte Burr gesagt.
Freddie verkauft ihm gestohlene Kunstgegenstände, hatte Sophie gesagt.
Roper wird dir selbst auf den Zahn fühlen, hatte Daniel gesagt.
Sie betraten die Bibliothek. In Leder gebundene Bücher vom Boden bis zur Decke. Eine fahrbare Wendeltreppe stand unbenutzt im Raum.
Sie kamen in einen Gefängnisflur zwischen gewölbten Verliesen. Aus Einzelzellen schimmerten antike Waffen in jähem Dämmerlicht: Schwerter und Piken und Keulen, Rüstungen auf hölzernen Pferden; Musketen, Hellebarden, Kanonenkugeln und grüne Kanonen, an denen noch die Muscheln vom Meer hafteten.
Sie gingen durch ein Billardzimmer und gelangten ins zweite Zentrum des Hauses. Ein Tonnendach ruhte auf Marmorsäulen, die sich in einem gekachelten blauen Schwimmbecken spiegelten. An den Marmorwänden des angrenzenden Saals hingen impressionistische Gemälde: Stilleben, Bauernhöfe und nackte Frauen - ist das wirklich ein Gauguin? Auf einer Marmorsitzbank besprachen zwei junge Männer in Hemdsärmeln und weiten Zwanziger-Jahre-Hosen über offenen Aktenkoffern ihre Geschäfte.
»Corky, hallo, wie steht's?« schnarrte der eine.
»Ihr Lieben«, sagte Corkoran.
Sie näherten sich einem Portal aus polierter Bronze. Daneben saß Frisky in einem Pförtnerstuhl. Eine Frau, einen Stenoblock in der Hand, kam heraus. Frisky schob ihr einen Fuß in den Weg, als wollte er ihr ein Bein stellen.
»Ah, Sie alberner Junge«, sagte die Frau glücklich.
Das Portal schloß sich wieder.
»Ach, der Major!« feixte Frisky, als hätte er ihr Kommen eben erst bemerkt. »Wie geht's uns denn heute, Sir? Hallo, Tommy. Na also.«
»Blöde Sau«, sagte Corkoran.
Frisky nahm ein Haustelefon von der Wand und gab eine Nummer ein. Das Portal öffnete sich auf einen Raum, der so groß, so kunstvoll eingerichtet, so in Sonnenlicht gebadet und so in Schatten getaucht war, daß Jonathan nicht einzutreten, sondern aufwärts zu schweben glaubte. Hinter einer Wand aus getöntem Glas lag eine Terrasse mit seltsam geformten weißen Tischen, jeder wurde von einem weißen Schirm beschattet. Dahinter die smaragdgrüne Lagune, begrenzt von einer schmalen Sandbank und schwarzen Riffen. Jenseits der Riffe war die offene See, in vielen Blautönen schimmernd.
Die Pracht dieses Raumes war zunächst alles, was Jonathan wahrnehmen konnte. Seine Bewohner, falls es welche gab, verloren sich in den Kontrasten aus hell und dunkel. Als Corkoran Jonathan dann weiterführte, erkannte er einen mit Schildpatt und Messing reichverzierten Schreibtisch und dahinter einen verschnörkelten Thron, dessen prächtiger Gobelinbezug vom Alter verschlissen war. Und neben dem Schreibtisch, auf einem Bambussessel mit breiten Armlehnen und einer Fußbank, saß der schlimmste Mann der Welt: Er trug weiße Segelhosen, espadrilles und ein kurzärmeliges marineblaues Hemd mit seinem Monogramm auf der Brusttasche. Die Beine übereinandergeschlagen und die Lesebrille auf der Nase, las er in einer Ledermappe, auf der dasselbe Monogramm wie auf seinem Hemd zu sehen war: Er lächelte, denn er lächelte ziemlich viel. Hinter ihm stand eine Sekretärin, die eine Zwillingsschwester der ersten hätte sein können.
»Keine Störung, Frisky«, befahl eine alarmierend vertraute Stimme; die Ledermappe wurde zugeklappt und der Sekretärin hingehalten. »Niemand auf der Terrasse. Welcher Idiot läßt in meiner Bucht einen Außenbordmotor laufen?«
»Talbot, er repariert ihn, Chef«, sagte Isaac aus dem Hintergrund.
»Dann sag ihm, er soll es seinlassen. Corks, Schampus. Mensch, Pine. Kommen Sie. Gut gemacht. Wirklich gut gemacht.«
Er rappelte sich hoch, die Brille saß ihm komisch auf der Nasenspitze. Er packte Jonathans Hand und zog ihn zu sich heran, bis sie, wie damals bei Meister, einander allzu nah gegenüberstanden. Und betrachtete ihn stirnrunzelnd durch seine Brille. Und hob dabei langsam die Handflächen an Jonathans Wangen, als wollte er ihm von beiden Seiten einen Schlag versetzen. Und ließ die Hände erhoben, so nah, daß Jonathan ihre Wärme spüren konnte, während Roper den Kopf hin und her drehte und Jonathan aus wenigen Zentimetern Entfernung so lange musterte, bis er zufrieden war.
»Absolut phantastisch«, erklärte er schließlich. »Gut gemacht, Pine; gut gemacht, Marti; gut gemacht, Geld. Dafür ist es ja da. Entschuldigen Sie, daß ich bei Ihrer Ankunft nicht hier war. Mußte ein paar Farmen abstoßen. Wann war's am schlimmsten?« Verwirrenderweise hatte er sich an Corkoran gewandt, der jetzt mit einem Tablett, auf dem drei bereifte Silberpokale Dom Perignon standen, über den Marmorboden auf sie zuschritt. »Da kommt er ja endlich. Dachte schon, auf diesem Dampfer gibt es nichts zu trinken. Nun?«
»Nach der Operation, denke ich«, sagte Jonathan. »Als ich zu mir kam. Wie beim Zahnarzt, nur zehnmal schlimmer.«
»Ruhig mal. Jetzt kommt die beste Stelle.«
Verwirrt von Ropers sprunghafter Redeweise hatte Jonathan die Musik bisher noch gar nicht wahrgenommen. Doch als Roper nun Ruhe gebietend die Hand ausstreckte, hörte Jonathan Pavarotti die letzten Töne von >La donna e mobile< singen.
»Gott, er ist hinreißend. Spiele das immer sonntags. Vergeß ich nie, stimmt's, Corks? Auf Ihr besonderes Wohl. Danke.«
»Auf Ihr Wohl«, sagte Jonathan und trank auch. In diesem Augenblick brach das ferne Geräusch des Außenbordmotors ab und hinterließ eine tiefe Stille. Ropers Blick auf die Narbe an Jonathans rechtem Handgelenk.
»Wie viele kommen zum Essen, Corks?«
»Achtzehn, vielleicht zwanzig, Chef.«
»Die Vincettis auch? Habe Ihr Flugzeug noch nicht gehört. Diese zweimotorige tschechische Maschine.«
»Nach dem letzten Stand wollten sie kommen, Chef.«
»Tischkarten, sag Jed Bescheid. Und anständige Servietten. Nicht dieses rote Klopapier. Und klär das mit den Vincettis ab, ja oder nein. Hat Pauli sich schon wegen der 130er gemeldet?«
»Wartet noch ab, Chef.«
»Na, soll lieber mal schnell machen, sonst wird nichts draus. Aber bitte, Pine. Nehmen Sie Platz. Nicht da. Hier, wo ich Sie sehen kann. Und sag Isaac wegen dem Sancerre Bescheid. Ausnahmsweise mal kalt. Hat Apo den verbesserten Entwurf durchgefaxt?«
»Liegt bei Ihren Eingängen.«
»Phantastischer Bursche«, bemerkte Roper, als Corkoran ging. »Zweifellos«, stimmte Jonathan höflich zu.
»Der geborene Diener«, sagte Roper und zwinkerte ihm zu - Heterosexuelle unter sich.
Roper ließ den Champagner in seinem Pokal kreisen und sah lächelnd zu, wie er schäumte. »Würden Sie mir wohl sagen, was Sie wollen?« fragte er.
»Nun, wenn's geht, möchte ich zu Low zurück. Wirklich, sobald es Ihnen paßt. Ich brauche nur einen Flug nach Nassau. Von dort komme ich allein weiter.«
»So habe ich das nicht gemeint. Die Frage war viel umfassender. Im Leben. Was wollen Sie im Leben? Wie sehen Ihre Pläne aus?«
»Ich habe keine Pläne. Jedenfalls nicht im Augenblick. Nur treiben lassen. Pause machen.«
»Unsinn. Nehme ich Ihnen nicht ab. Wie ich das sehe, haben Sie in Ihrem Leben niemals ausgespannt. Ich vermutlich auch nicht. Versuch's aber. Spiele Golf, segle, mache dies und das, schwimme, vögele. Aber mein Motor läuft immer auf Hochtouren. Ihrer auch. Gefällt mir an Ihnen. Kein Leerlauf.«
Er lächelte immer noch. Jonathan auch, obwohl er sich fragte, auf welche Beweise Roper seine Beurteilung stützen mochte.
»Wenn Sie meinen«, sagte er.
»Kochen. Bergsteigen. Segeln. Malen. Soldat spielen. Heiraten. Sprachen lernen. Sich scheiden lassen. Ein Mädchen in Kairo, eins in Cornwall, eins in Kanada. Einen australischen Drogenhändler töten. Ich glaub das nicht, wenn mir jemand erzählt, er sei hinter nichts her. Warum haben Sie das getan?«
»Was?«
Jonathan hatte sich nie gestattet, sich an Ropers Charme zu erinnern. Von Mann zu Mann ließ Roper einen wissen, daß man ihm alles erzählen konnte und er am Ende immer noch lächeln würde.
»Für Daniel Ihr Leben zu riskieren. Erst brechen Sie einem Mann den Hals, dann retten Sie meinem Jungen das Leben. Sie haben Meister bestohlen, warum bestehlen Sie mich nicht? Warum verlangen Sie kein Geld?« Er klang fast verzweifelt. »Ich würde es Ihnen geben. Es ist mir egal, was Sie getan haben; Sie haben meinen Sohn gerettet. Wenn es um den Jungen geht, kennt meine Großzügigkeit keine Grenzen.«
»Ich habe es nicht für Geld getan. Sie haben mich zusammengeflickt. Für mich gesorgt. Sie sind gut zu mir gewesen. Und jetzt will ich einfach weg.«
»Welche Sprachen sprechen Sie eigentlich?« fragte Roper; er griff nach einem Blatt Papier, überflog es und warf es beiseite.
»Französisch. Deutsch. Spanisch.«
»Die meisten Sprachkundigen sind Idioten. Finden es beschissen, alles in einer Sprache zu sagen, also lernen Sie eine andere und fluchen in dieser. Arabisch?«
»Nein.«
»Warum nicht? Sind doch lange genug dagewesen.«
»Na ja, ein paar Brocken. Das Allernotwendigste.«
»Hätten sich eine Araberin nehmen sollen. Oder haben Sie das vielleicht? Haben Sie den alten Freddie Hamid kennengelernt, als Sie dort waren? Alter Freund von mir. Ziemlich wilder Bursche? Bestimmt. Seiner Familie gehört der Laden, in dem Sie gearbeitet haben. Besitzt ein paar Pferde.«
»Er gehörte zur Geschäftsführung.«
»Sie sind der reinste Mönch, behauptet Freddie. Habe ihn gefragt. Muster an Verschwiegenheit. Warum sind Sie dort hingegangen?«
»Zufall. Am Tag meines Examens wurde der Job am schwarzen Brett der Hotelfachschule angeboten. Und da ich schon immer mal in den mittleren Osten wollte, habe ich mich beworben.«
»Freddie hatte eine Freundin. Ältere Frau. Intelligent. Eigentlich zu gut für ihn. Großes Herz. Ständig in seiner Nähe, auf dem Rennplatz, im Jachtclub. Sophie? Haben Sie sie kennengelernt?«
»Sie wurde umgebracht«, sagte Jonathan.
»Allerdings. Kurz vor Ihrem Weggang. Haben Sie sie kennengelernt?«
»Sie hatte eine Wohnung oben im Hotel. Jeder kannte sie. Sie gehörte Hamid.«
»Ihnen nicht?«
Von seinen klaren, intelligenten Augen ging keine Drohung aus. Sie taxierten ihn. Sie boten Kameradschaft und Verständnis an.
»Selbstverständlich nicht.«
»Wieso selbstverständlich?«
»Weil es Wahnsinn gewesen wäre. Selbst wenn sie es gewollt hätte.«
»Warum sollte sie nicht? Heißblütige Araberin, höchstens vierzig, geht gern ins Heu. Sympathischer junger Bursche. Freddie ist weiß Gott kein Ölgemälde. Wer hat sie umgebracht?«
»Die Untersuchung war noch nicht abgeschlossen, als ich ging. Hab nie erfahren, ob irgend jemand verhaftet worden ist. Ein Einbrecher, hat man vermutet. Sie hat ihn überrascht, also hat er sie erstochen.«
»Das waren nicht zufällig Sie?« Die klaren, intelligenten Augen forderten ihn auf, über den Witz mitzulachen. Er lächelte wie ein Delphin.
»Nein.«
»Sicher?«
»Es gab ein Gerücht, daß Freddie es getan hätte.«
»Ach, tatsächlich? Warum sollte er so etwas tun?«
»Oder daß er es veranlaßt hätte. Angeblich hat sie ihn irgendwie betrogen.«
Roper war belustigt. »Doch nicht mit Ihnen?«
»Leider nein.«
Noch immer dieses Lächeln. Auch bei Jonathan.
»Corky wird nicht schlau aus Ihnen. Er ist ein mißtrauischer Bursche, dieser Corks. Sie machen ihn fix und fertig. In den Akten erscheinen Sie so, in Wirklichkeit anders, sagt er. Was haben Sie sonst noch getrieben? Noch ein paar Leichen im Keller? Irgendwelche krummen Dinger gedreht, von denen wir nichts wissen? Die Polizei auch nicht? Noch andere Leute kaltgemacht?«
»Ich drehe keine krummen Dinger. Ich reagiere nur, wenn mir etwas zustößt. Das ist immer so gewesen.«
»Reagieren, das kann man wohl sagen. Wie ich gehört habe, mußten Sie Sophies Leiche identifizieren, mit den Bullen zusammen. Stimmt das?«
»Ja.«
»Ziemlich üble Sache, wie?«
»Irgendwer mußte es ja tun.«
»Freddie war erleichtert. Hat gesagt, wenn ich Sie mal sehe, soll ich Ihnen danken. Inoffiziell natürlich. Er hatte etwas Angst, das selbst machen zu müssen. Hätte heikel werden können.«
War dies nun endlich Jonathans Gelegenheit, Haßgefühle zu entwickeln? In Ropers Gesicht hatte sich nichts verändert. Das halbe Lächeln blieb immer gleich. Jonathan nahm undeutlich wahr, daß Corkoran in den Raum zurückgeschlichen kam und sich auf ein Sofa sinken ließ. Ropers Tonfall wurde undefinierbar, er begann für ein Publikum zu spielen.
»Dieses Schiff, mit dem Sie nach Kanada gekommen sind«, begann er leutselig von neuem. »Hatte das einen Namen?«
»Stern von Bethlehem.«
»Eingetragen wo?«
»In South Shields.«
»Wie sind sie an die Passage gekommen? Gar nicht so einfach, oder? Auf einem schmutzigen, kleinen Schiff eine Koje zu ergattern?«
»Als Koch.«
Corkoran auf seinem Kulissenplatz konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Mit einer Hand?« fragte er.
»Ich habe Gummihandschuhe getragen.«
»Wie sind Sie an die Passage gekommen?« wiederholte Roper. »Ich habe den Schiffskoch bestochen, der Kapitän hat mich als Hilfskraft eingestellt.«
»Name?«
»Greville.«
»Dieser Agent, Billy Bourne, Stellenvermittler in Newport, Rhode Island«, fuhr Roper fort. »Wie sind Sie auf Bourne gestoßen?«
»Den kennt doch jeder. Da können Sie jeden von uns fragen.«
»Von uns?«
»Segler. Leute aus der Gastronomie.«
»Zeigst du mir mal das Fax von Billy, Corks? Er mag ihn, oder? Lobt ihn sehr, wenn ich nicht irre?«
»Ah, Billy Bourne betet ihn an«, bestätigte Corkoran mürrisch. »Lamont macht nie was falsch. Kann kochen, ist höflich, läßt weder Silber mitgehen, noch beklaut er die Gäste, ist immer da, wenn man ihn braucht, verzieht sich, wenn man ihn nicht mehr braucht, die Sonne scheint ihm aus dem Hintern.«
»Aber haben wir nicht auch die anderen Referenzen überprüft? Die waren nicht ganz so geschickt, wie?«
»Ein bißchen kurios, Chef«, gab Corkoran zu. »Eigentlich nur Geschwafel.«
»Gefälscht, Pine?«
»Ja.«
»Dieser Kerl, dem Sie den Arm zertrümmert haben. Früher schon mal gesehen?«
»Nein.«
»Der hat nicht schon mal vorher bei Low gegessen?«
»Nein.«
»Nie ein Boot für ihn gesegelt? Für ihn gekocht? Drogen für ihn geschmuggelt?«
Diese Fragen hatten offensichtlich nichts Drohendes, das Tempo wurde nicht angezogen. Ropers freundliches Lächeln blieb ungetrübt, nur Corkoran machte ein finsteres Gesicht und zupfte sich am Ohr. »Nein«, sagte Jonathan.
»Für ihn getötet, mit ihm gestohlen?«
»Nein.«
»Oder mit seinem Kumpel?«
»Nein.«
»Wir hatten den Eindruck, Sie könnten das mit denen ausgeheckt und sich dann mittendrin entschlossen haben, die Seiten zu wechseln. Das würde erklären, warum Sie den Mann so zugerichtet haben. Um zu beweisen, daß Sie heiliger sind als der Papst. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Schwachsinn«, sagte Jonathan scharf. Er wurde energisch. »Das ist eine verdammte Beleidigung.« Dann etwas beherrschter: »Ich finde, Sie sollten das zurücknehmen. Warum muß ich mir so etwas gefallen lassen?«
Sie müssen den tapferen Verlierer spielen, hatte Burr gesagt. Nie zu Kreuze kriechen. Das kann er nicht ausstehen.
Aber Roper schien Jonathans Protest gar nicht wahrzunehmen.
»In Ihrer Lage - auf der Flucht, falscher Name - konnte Ihnen nichts daran liegen, schon wieder mit der Polizei aneinanderzugeraten. Besser, sich bei dem reichen Briten beliebt zu machen, anstatt seinen Sohn zu entführen. Sie verstehen?«
»Ich hatte mit keinem von ihnen etwas zu tun. Wie gesagt. Ich hatte sie vor diesem Abend nie gesehen oder je von ihnen gehört. Ich habe Ihren Sohn da rausgeholt. Ich verlange nicht mal eine Belohnung. Ich will nur hier weg. Sonst nichts. Lassen Sie mich gehen.«
»Woher wußten Sie, daß die beiden zum Küchenhaus wollten? Hätten doch überall hin gehen können.«
»Die kannten das Gelände. Wußten, wo das Geld aufbewahrt wurde. Hatten offensichtlich alles ausgekundschaftet. Herrgott nochmal.«
»Mit Ihrer Hilfe?«
»Nein!«
»Sie hätten sich verstecken können. Warum haben Sie das nicht getan? Sich da rausgehalten. Die meisten in Ihrer Lage hätten so gehandelt, oder? Bin selbst allerdings nie auf der Flucht gewesen.«
Jonathan schwieg lange, er seufzte und schien sich mit dem Wahnsinn seiner Gastgeber abzufinden. »Langsam wünsche ich mir, ich hätte es getan«, sagte er und ließ sich frustriert zusammensinken.
»Corks, was ist mit der Flasche? Du hast sie doch nicht ausgetrunken?«
»Hier, Chef.«
Wieder zu Jonathan: »Ich möchte, daß Sie hierbleiben und sich amüsieren. Sie können sich nützlich machen, schwimmen gehen, wieder zu Kräften kommen, abwarten, was wir mit Ihnen vorhaben. Vielleicht finden wir sogar einen Job für Sie, etwas ganz Besonderes. Kommt drauf an.« Das Lächeln wurde breiter. »Karottenkuchen backen. Was haben Sie?«
»Ich fürchte, das werde ich nicht tun«, sagte Jonathan. »Ich will das nicht.«
»Quatsch. Natürlich wollen Sie das.«
»Wo könnten Sie denn sonst noch hin?« fragte Corkoran. »Das Carlyle in New York? Das Ritz Carlton in Boston?«
»Ich will einfach machen, was ich will«, sagte Jonathan höflich, aber bestimmt.
Er hatte genug. Schein und Sein waren eins für ihn geworden. Er wußte den Unterschied nicht mehr. Ich brauche Bewegungsfreiheit, muß selbst bestimmen können, sagte er sich. Ich habe es satt, für andere den Handlanger zu spielen. Er wollte gehen.
»Was zum Teufel reden Sie da?« beschwerte sich Roper verblüfft. »Ich werde Sie bezahlen. Und nicht schlecht. Sie bekommen eine Topgage. Hübsches kleines Haus auf der anderen Seite der Insel. Er kann Woodys Haus haben, Corky. Reiten. Schwimmen. Ein Boot leihen. Was wollen Sie mehr? Übrigens, welchen Paß wollen Sie eigentlich benutzen?«
»Meinen«, sagte Jonathan. »Lamont. Thomas Lamont.« Er wandte sich an Corkoran. »Er war bei meinen Sachen.«
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und ließ es vorübergehend Abend werden.
»Corky, verklicker ihm die schlechte Neuigkeit«, befahl Roper und streckte einen Arm aus, als hätte Pavarotti wieder zu singen begonnen.
Corkoran zuckte die Achseln und grinste bedauernd, als wollte er sagen, ihm sei nichts vorzuwerfen. »Tja, nun, also Ihr kanadischer Paß, mein Lieber«, sagte er, »der war einmal, tut mir leid. Hab ihn in den Reißwolf gesteckt. Schien mir das Richtige zu sein.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«
Corkoran rieb mit dem Daumen der einen Hand in der Handfläche der anderen herum, als hätte er dort eine unangenehme Schwellung entdeckt.
»Nur keine Aufregung, Mann. Habe Ihnen einen Gefallen getan. Ihre Tarnung ist aufgeflogen. Seit ein paar Tagen steht T. Lamont auf sämtlichen Fahndungslisten der westlichen Welt. Interpol, Heilsarmee, alle sind dabei. Wenn Sie wollen, können Sie Beweise sehen. Lupenrein. Tut mir leid. Tatsache.«
»Das war mein Paß!«
Der gleiche Zorn hatte ihn in der Küche bei Mama Low gepackt: ein ungeheuchelter, hemmungsloser, blinder Zorn - fast jedenfalls. Das war mein Name, meine Frau, mein Verrat, mein Schatten! Ich habe für diesen Paß gelogen! Ich habe dafür betrogen! Ich habe dafür gekocht und geschuftet und Dreck gefressen und meinen Weg mit lebenden Leichen gepflastert!
»Wir besorgen Ihnen einen neuen, einen sauberen«, sagte Roper. »Das Mindeste, was wir für Sie tun können. Corky, hol deine Polaroid und lichte ihn ab. Muß heutzutage in Farbe sein. Und laß die Schrammen wegretuschieren. Niemand erfährt davon, kapiert? Bullen, Gärtner, Hausmädchen, Stallburschen, niemand.« Eine bedächtige Pause. »Jed auch nicht. Jed hält sich aus all dem raus.« Er sagte nicht, aus was allem. »Was haben Sie mit Ihrem Motorrad gemacht - das Sie in Cornwall hatten?«
»Außerhalb von Bristol stehenlassen«, sagte Jonathan.
»Und warum haben Sie's nicht verkauft?« fragte Corkoran rachsüchtig. »Oder es mit nach Frankreich genommen? Wäre doch möglich gewesen?«
»Viel zu auffällig. Jeder wußte, daß ich ein Motorrad hatte.«
»Eins noch.« Roper stand mit dem Rücken zur Terrasse, sein Pistolenfinger zielte auf Jonathans Schädel. »Ich führe hier ein strenges Kommando. Wir stehlen gelegentlich, aber untereinander gibt's keine krummen Touren. Sie haben meinen Jungen gerettet. Aber wenn Sie aus der Reihe tanzen, werden Sie bereuen, geboren zu sein.«
Roper hörte Schritte auf der Terrasse und fuhr herum; schon wollte er wütend werden, daß man seinen Befehl mißachtet hatte, erkannte dann aber Jed, die Tischkarten in silbernen Haltern auf die über die Terrasse verteilten Tische stellte. Das kastanienbraune Haar fiel ihr über die Schultern. Ihr Körper war heute sittsam in einen Morgenrock gehüllt.
»Jeds! Komm doch mal eben her! Habe eine schöne Neuigkeit für dich. Heißt Thomas. Gehört jetzt gewissermaßen zur Familie. Sag Daniel Bescheid, er wird vor Freude in die Luft springen.«
Sie hörte kurz auf. Hob den Kopf und drehte ihn um, gewährte den Kameras ihr schönstes Lächeln.
»Ah Thomas. Super.« Die Augenbrauen hoch, zeigt vage Freude. »Das ist ja echt irre. Sollten wir das nicht irgendwie feiern, Roper?«
Es war am nächsten Morgen kurz nach sieben in Miami, aber im Hauptquartier hätte es auch Mitternacht sein können.
Dieselben Neonröhren strahlten an denselben grüngestrichenen Backsteinmauern. Burr hatte genug von seinem Artdeco-Hotel gehabt und den Bunker zu seinem einsamen Quartier gemacht.
»Ja, ich bin's«, antwortete er leise in den roten Hörer. »Und Sie sind Sie, der Stimme nach. Wie ist es gelaufen?«
Während er sprach, hob er die freie Hand langsam über den Kopf, bis der ganze Arm in den aufgesperrten Himmel zeigte. Alles war verziehen. Gott wohnte im Himmel. Jonathan hatte seinen Zauberkasten angeworfen und sprach mit seinem Führungsoffizier.
»Die wollen mich nicht«, teilte Palfrey Goodhew zufrieden mit, als sie mit einem Taxi durch Battersea fuhren. Goodhew hatte ihn an der Festival Hall abgeholt. Wir werden uns beeilen müssen, hatte Palfrey gesagt.
»Wer will Sie nicht?«
»Darkers neuer Ausschuß. Haben sich einen Kodenamen zugelegt: Flaggschiff. Wer nicht auf ihrer Liste steht, hat auf dem Flaggschiff keinen Zutritt.«
»Und wer steht auf der Liste?«
»Unbekannt. Es gibt einen Farbkode.«
»Das heißt?«
»Sie werden durch einen Magnetstreifen auf ihren Dienstausweisen identifiziert. Das Flaggschiff hat einen Leseraum. Dorthin gehen sie, schieben den Ausweis in einen Schlitz, und die Tür geht auf. Sie treten ein, die Tür geht zu. Sie setzen sich, lesen, halten eine Versammlung ab. Die Tür geht auf, und sie kommen wieder raus.«
»Was lesen sie?«
»Die neuesten Entwicklungen. Den Spielplan.«
»Wo befindet sich dieser Leseraum?«
»Außerhalb des Gebäudes. Fern von neugierigen Blicken. Gemietet. Wird bar bezahlt. Keine Quittungen. Wahrscheinlich das Obergeschoß einer Bank. Darker liebt Banken.« Er redete weiter, wollte es loswerden, um gehen zu können. »Wer Zutritt zum Flaggschiff hat, ist ein Matrose. Der ganze Kode ist aus der Seemannssprache entwickelt. Ist etwas zu naß für die Allgemeinheit, bedeutet das, es soll Flaggschiff klassifiziert werden. Oder etwas ist zu nautisch für die Landratten. Oder jemand ist ein Landsportler, kein Wassersportler. Haben einen äußeren Schutzwall von Kodenamen errichtet, um den inneren Burghof zu schützen.«
»Sind alle Matrosen vom River House?«
»Nachrichtenauswerter, Banker, Beamte, ein paar Abgeordnete, ein paar Hersteller.«
»Hersteller?«
»Produzenten, Waffenhersteller, Herrgott noch mal, Rex!«
»Sind die Hersteller Briten?«
»In etwa.«
»Sind es Amerikaner? Gibt es amerikanische Matrosen, Harry? Gibt es ein amerikanisches Flaggschiff? Haben die da drüben auch so was?«
»Passe.«
»Können Sie mir einen Namen nennen, Harry? Bloß einen Tip, wie ich da reinkomme?«
Aber Palfrey war zu beschäftigt, zu gehetzt, zu spät dran. Er sprang auf den Bordstein, beugte sich noch einmal ins Taxi, um seinen Schirm zu holen.«
»Fragen Sie Ihren Chef«, flüsterte er. Aber so leise, daß Goodhew, betäubt wie er war, nicht wußte, ob er richtig gehört hatte.