13

 

Jonathan war von ihren Bildschirmen verschwunden; verschollen, womöglich von den eigenen Leuten getötet. Ihre gesamte Planung, ihre Abhör- und Beobachtungsmaßnahmen, ihre angeblich perfekte Beherrschung des Spiels lagen wie ein zertrümmertes Auto am Straßenrand. Sie waren taub und blind und hatten sich lächerlich gemacht. Das fensterlose Hauptquartier in Miami war ein Geisterhaus, und Burr ging wie von bösen Geistern geplagt durch die trostlosen Flure.

Ropers Jacht, seine Flugzeuge, Häuser, Hubschrauber und Autos wurden ständig überwacht, ebenso die stilvolle Kolonialvilla in Nassau, in der die prestigeträchtige Hauptgeschäftsstelle der Ironbrand Land, Ore & Precious Metals Company untergebracht war. Ebenso die Telefon- und Fax-Anschlüsse von Ropers Verbindungsleuten rund um den Globus: von Lord Langbourne in Tortola über gewisse Schweizer Bankiers in Zug bis hin zu halb anonymen Mitarbeitern in Warschau; von einem mysteriösen >Rafi< in Rio de Janeiro über >Misha< in Prag und eine Kanzlei niederländischer Notare in Curacao bis hin zu einem noch nicht identifizierten Regierungsbeamten in Panama, der auch dann, wenn er von seinem Schreibtisch im Präsidentenpalast aus sprach, immer nur wie im Drogenrausch murmelte und den Decknamen Charlie benutzte.

Aber Jonathan Pine alias Lamont, zuletzt auf der Intensivstation des Doctors Hospital in Nassau geortet, wurde von keinem von ihnen auch nur mit einem Wort erwähnt.

»Er ist desertiert«, sagte Burr zu Strelski und spreizte die Hände vor dem Mund. »Erst dreht er durch, dann flieht er aus dem Krankenhaus. In einer Woche können wir seine Geschichte in den Sonntagszeitungen lesen.«

Dabei war alles so perfekt geplant gewesen. Vom Ablegen der Pasha in Nassau bis zu dem Abend der vorgetäuschten Entführung bei Mama Low war nichts dem Zufall überlassen worden. Die Ankunft der Kreuzfahrtgäste und ihrer Kinder: zwölf Jahre alte, wahrlich englische Mädchen, die träge Gesichter hatten, ständig Chips aßen und blasiert von Sportfesten sprachen; selbstbewußte Söhne mit schlanken Körpern und dem Nuscheln, aus dem Mundwinkel, das der ganzen Welt zu verstehen gibt, sie könne zum Teufel gehen; die Familie Langbourne samt schwermütiger Gattin und dem allzu hübschen Kindermädchen - sie alle waren von Amatos Leuten heimlich begrüßt, beschattet, untergebracht und gehaßt und schließlich an Bord der Pasha geleitet worden, und nichts hatte man dem Zufall überlassen.

»Wissen Sie was? Diese reichen Knirpse sind mit dem Rolls vor Joe's Easy vorgefahren, bloß um sich dort mit Gras einzudecken!« teilte Amato, seit kurzem stolzer Vater, Strelski empört per Funk mit. Die Anekdote bekam ihren gebührenden Platz in den Annalen der Operation.

Wie auch die Geschichte von den Seemuscheln. Am Abend vor der Abreise der Pasha war einer der smarten jungen Ironbrand-Männer - MacArthur, der sein Debüt mit einer stummen Rolle im Hotel Meister gegeben hatte - beim Telefonieren mit einem dubiosen Bankmenschen am anderen Ende der Stadt abgehört worden. »Jeremy, du mußt mir helfen, wo in Gottes Namen kann man jetzt noch Seemuscheln kaufen? Ich brauche tausend Stück von den verdammten Dingern, möglichst bis gestern. Jeremy, ich meine es ernst.«

Die Lauscher wurden ungewöhnlich gesprächig. Seemuscheln? War das wörtlich gemeint? Oder Muschel gleich Geschoß? Vielleicht See-Luft-Raketen? Der Ausdruck Seemuscheln war bisher noch nie im Vokabular von Ropers Waffen aufgetaucht. Im weiteren Verlauf des Tages wurden sie von ihrer Qual erlöst, als MacArthur dem Geschäftsführer eines Luxusladens in Nassau sein Problem auseinandersetzte: »Lord Langbournes Zwillingstöchter feiern am zweiten Tag der Kreuzfahrt Geburtstag... der Chef will auf einer der unbewohnten Inseln eine Muschelsuche veranstalten und für die besten Sammlungen Preise verteilen... aber letztes Jahr hat niemand Muscheln gefunden, also will der Chef diesmal kein Risiko eingehen. Seine Sicherheitsleute sollen in der Nacht davor tausend von den Dingern im Sand vergraben. Also bitte, Mr. Manzini, wo kriege ich jetzt einen solchen Haufen Muscheln her?«

Das Team lachte sich halb tot über die Geschichte. Frisky und Tabby, mit Matchbeuteln voller Muscheln bewaffnet, fallen bei Nacht über einen verlassenen Badestrand her? Es war zu komisch.

Was die Entführung betraf, so wurde sie Schritt für Schritt einstudiert. Zunächst hatten Flynn und Amato, als Jachtbesitzer getarnt, Hunter's Island ausgekundschaftet. Nach Florida zurückgekehrt, bauten sie das Terrain auf einem eigens zur Verfügung gestellten Dünengelände im Ausbildungslager von Fort Lauderdale nach. Tische wurden gedeckt, Bänder markierten die Wege. Eine eigens gebaute Hütte war das Küchenhaus. Eine Gruppe von Gästen wurde zusammengestellt. Gerry und Mike, die beiden schweren Jungs, waren knallharte Profis aus New York und bekamen genaue Anweisung, den Einsatz nach Befehl auszuführen, dann zu verschwinden und den Mund zu halten. Mike, der Entführer, war ein ungelenker Typ. Gerry, der Mann mit der Tasche, war finster, aber behende. Hollywood hätte es auch nicht besser machen können.

»Sind die Herren jetzt mit ihrem Einsatzbefehl vollkommen vertraut?« fragte der Ire Pat Flynn und musterte die Messingringe, die Gerry an jedem Finger der rechten Hand trug. »Es geht also bloß um ein paar freundschaftliche Schläge, Gerry. Wir verlangen nicht mehr als eine eher kosmetische Veränderung des Äußeren. Danach sollen Sie sich mit Ehren zurückziehen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt, Gerry?«

»Alles klar, Pat.«

Dann wurden die üblichen Bedenken und Wenns und Abers diskutiert. Nichts wurde ausgelassen. Was, wenn die Pasha in letzter Minute doch nicht Hunter's Island anläuft? Was, wenn sie dort zwar vor Anker geht, die Passagiere aber an Bord zu Abend essen? Was, wenn die Erwachsenen zum Essen an Land gehen, die Kinder aber - etwa als Strafe für irgendeinen Streich - an Bord bleiben müssen?

»Beten«, sagte Burr.

»Beten«, stimmte Strelski zu.

Aber im Grunde verließen sie sich nicht auf die göttliche Vorsehung. Sie wußten, daß die Pasha bisher noch nie an Hunter's Island vorbeigefahren war, auch wenn sie sich im klaren darüber waren, daß es irgendwann ein erstes Mal geben würde. Und das wär's dann wohl. Sie wußten, daß an Lows Schiffsanlegestelle in Deep Bay Vorräte für die Pasha bereitstanden und daß der Kapitän mit Sicherheit sowohl die Vorräte abholen als auch ein Essen bei Low zu sich nehmen würde, denn das tat er immer. Sie hatten großes Vertrauen in Daniels Einfluß auf seinen Vater. Daniel hatte in den vergangenen Wochen mehrere traurige Telefonate mit Roper darüber geführt, wie schrecklich schwer es war, sich an die Trennung der Eltern zu gewöhnen; der Zwischenstopp auf Hunter's Island sollte für ihn der Höhepunkt seines bevorstehenden Besuchs sein.

»Dieses Jahr hole ich die Krabben aber wirklich aus dem Korb, Dad«, hatte Daniel nur zehn Tage zuvor seinem Vater aus England mitgeteilt. »Ich träume auch nicht mehr von ihnen. Mums ist sehr zufrieden mit mir.«

Burr und Strelski kannten solche beunruhigenden Gespräche aus eigener Erfahrung, sie hatten selbst Kinder; und sie gingen davon aus, daß Roper, wenn er auch nicht gerade zu den Engländern zählte, denen Kinder besonders wichtig sind, eher durchs Feuer gehen würde, als Daniel zu enttäuschen.

Und sie behielten recht, vollkommen recht. Und als Major Corkoran über Satellitenfunk bei Miss Amelia den Tisch auf der Terrasse reservierte, hätten Burr und Strelski einander umarmen können - was sie, wie es im Team hieß, ohnehin andauernd taten.

Zum erstenmal unruhig wurden sie erst um halb zwölf am Abend des betreffenden Tages. Die Operation war für 23:03 angesetzt, unmittelbar nach Beginn des Krabbenrennens. Bei den Proben hatte der Überfall, der Aufstieg zum Küchenhaus und der Abstieg zum Goose Neck nie länger als zwölf Minuten gedauert. Warum nur hatten Mike und Gerry nicht längst >Auftrag ausgeführt< durchgegeben?

Dann blinkten die roten Alarmlichter auf. Burr und Strelski standen mit verschränkten Armen in der Mitte der Funkzentrale und hörten sich Corkorans Stimme auf Tonband an, wie er schnell hintereinander mit dem Kapitän der Jacht, dem Hubschrauberpiloten der Jacht, dem Doctors Hospital in Nassau und schließlich mit Dr. Rudolf Marti in seinem Haus auf Windermere Cay sprach. Schon Corkorans Stimme war alarmierend. Sie war kühl und beherrscht mitten im Kampfgetümmel: »Es ist dem Chef durchaus bewußt, daß Sie kein Notarzt sind, Dr. Marti. Aber es geht um schwere Frakturen am Schädel und im Gesicht, die wiederhergestellt werden müssen, meint der Chef. Und die Klinik braucht einen Arzt, der den Patienten an sie überweist. Der Chef möchte, daß Sie ihn bei seiner Ankunft in der Klinik erwarten, und Sie können mit einer großzügigen Entschädigung für Ihre Mühen rechnen. Darf ich ihm sagen, daß Sie da sein werden?«

Frakturen am Schädel und im Gesicht? Wiederhergestellt? Was zum Teufel hatten Mike und Gerry gemacht? Das Verhältnis zwischen Burr und Strelski war bereits gespannt, als ein Anruf aus dem Jackson Hospital sie veranlagte, mit Blaulicht dorthin zu rasen, wobei Flynn neben dem Fahrer saß. Als sie eintrafen, befand Mike sich noch im Operationssaal. Gerry hockte grau vor Wut in seiner Marine-Rettungsweste im Wartezimmer und rauchte eine nach der anderen.

»Diese verdammte Bestie hat Mike in der Tür massakriert«, sagte Gerry.

»Und was hat er mit Ihnen gemacht?« fragte Flynn.

»Mit mir? Nichts.«

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«

»Sein verdammtes Maul geküßt. Was haben Sie denn gedacht, Klugscheißer?«

Und Flynn hob Gerry wie ein ungezogenes Kind vom Stuhl und verpaßte ihm eine harte Ohrfeige; dann setzte er ihn wieder in die gleiche träge Haltung hin.

»Ihr habt ihn zusammengeschlagen, Gerry?« erkundigte sich Flynn freundlich.

»Der Scheißkerl ist durchgedreht. Hat plötzlich ernst gemacht. Hat Mike ein Tranchiermesser an den Hals gehalten und ihm den Arm in der Scheißtür zu Brei gequetscht.«

Sie kamen rechtzeitig in die Operationszentrale zurück, um Daniel über den Satellitenfunk der Pasha mit seiner Mutter in England reden zu hören.

»Mums, ich bin's. Es geht mir gut. Wirklich.«

Langes Schweigen, während sie wach wird.

»Daniel? Kind, du bist nicht wieder in England, oder?«

»Ich bin auf der Pasha, Mums.«

»Daniel, also wirklich. Weißt du, wie spät es ist? Wo ist dein Vater?«

»Ich habe die Krabben nicht aus dem Korb geholt, Mums. Hab Schiß bekommen. War mir zu eklig. Es geht mir gut, Mums. Ehrlich.«

»Danny?«

»Ja?«

»Danny, was soll das eigentlich?«

»Paß auf, wir waren auf Hunter's Island, Mums. Und dann kam da so ein Mann, der hat nach Knoblauch gestunken, und der hat mich gefangengenommen, und ein anderer Mann hat Jed die Halskette geklaut. Aber der Koch hat mich befreit, und da haben sie mich gehen lassen.«

»Daniel, ist dein Vater in der Nähe?«

»Paula. Hallo. Entschuldige. Er wollte dir unbedingt sagen, daß ihm nichts passiert ist. Wir sind bei Mama Low in einen bewaffneten Überfall geraten. Die beiden Gangster haben Daniel für zehn Minuten als Geisel genommen, aber er ist völlig unverletzt.«

»Moment mal«, sagte Paula. Wie vor ihm sein Sohn wartete Roper, bis sie sich gefangen hatte. »Daniel ist als Geisel genommen und wieder freigelassen worden. Aber es geht ihm gut. Und jetzt weiter.«

»Sie haben ihn zum Küchenhaus hochgebracht. Du erinnerst dich an die Küche, an diesen Weg den Hügel rauf?«

»Bist du sicher, daß das alles wirklich passiert ist? Wir alle kennen Daniels Geschichten.«

»Ja, natürlich bin ich mir sicher. War ja selbst dabei.«

»Bewaffnet! Die haben ihn mit vorgehaltener Waffe den Hügel hochgebracht? Einen Achtjährigen?«

»Sie wollten an das Geld im Küchenhaus. Aber der Koch war zufällig da oben, ein Weißer, der ist auf sie losgegangen. Einen hat er fertiggemacht, aber der andere ist zurückgekommen und hat ihn zusammengeschlagen. Daniel konnte inzwischen fliehen. Weiß Gott, was passiert wäre, wenn sie Dans mitgenommen hätten. Haben sie aber nicht. Alles vorbei. Wir haben sogar die Beute zurück. Dem Koch sei Dank. Nun komm, Dans, erzähl ihr, daß du für deine Tapferkeit das Victoria Cross bekommst. Das ist er wieder.«

Fünf Uhr morgens. Burr saß reglos wie ein Buddha an seinem grauen Schreibtisch in der Operationszentrale. Rooke plagte sich pfeiferauchend mit dem Kreuzworträtsel im Miami Herald ab. Burr ließ das Telefon mehrmals klingeln, ehe er in der Lage war, es abzunehmen.

»Leonard?« sagte Goodhews Stimme.

»Hallo, Rex.«

»Ist was schiefgegangen? Ich dachte, Sie wollten mich anrufen. Ihre Stimme hört sich an, als würden Sie unter Schock stehen. Also, haben sie den Köder geschluckt? Leonard?«

»Tja, geschluckt haben sie ihn.«

»Aber was haben Sie denn? Sie klingen nicht nach einem Sieg, sondern wie auf einer Beerdigung. Was ist passiert?«

»Ich versuche gerade herauszufinden, ob wir noch die Kontrolle haben.«

Mr. Lamont befindet sich auf der Intensivstation, sagte das Krankenhaus. Mr. Lamonts Zustand ist stabil.

Aber nicht lange. Vierundzwanzig Stunden später war er verschwunden.

Hat er sich selbst entlassen? Dem Krankenhaus zufolge ja. Hat Dr. Marti ihn in seine Klinik verlegt? Offensichtlich, aber nur kurz, und die Klinik erteilt keine Auskunft über den Verbleib entlassener Patienten. Und als Amato dort anruft und sich als Zeitungsreporter ausgibt, antwortet Dr. Marti persönlich, Mr. Lamont sei abgereist, ohne seine Adresse zu hinterlassen. Plötzlich machen exotische Theorien die Runde in der Operationszentrale. Jonathan hat alles gestanden! Roper hat ihn durchschaut und ins Meer geworfen! Auf Anordnung Strelskis wird die Überwachung des Flughafens von Nassau eingestellt. Er befürchtet, daß Amatos Team langsam auffällt.

»Wir arbeiten mit Menschen, Leonard«, sagt Strelski tröstend, um die Last von Burrs Seele zu nehmen. »Das kann nicht jedesmal gutgehen.«

»Danke.«

Es wird Abend. Burr und Strelski sitzen, ihre Funktelefone auf dem Schoß, in einem Steakhouse, essen Rippchen mit Cajun-Reis und beobachten das Kommen und Gehen des wohlgenährten Amerika. Eine Meldung der Telefonüberwachung läßt sie mit vollem Mund zur Kommandostelle zurückrasen.

Corkoran mit einem leitenden Redakteur der führenden Tageszeitung der Bahamas:

»Altes Haus! Ich bin's, Corky. Wie geht's uns denn so? Was machen die Tänzerinnen?«

Austausch rauher Herzlichkeiten. Dann kommt's:

»Süßer, hör zu, der Chef will, daß ihr eine Story kippt... dringende Gründe, warum der Held der Stunde jetzt nicht ins Rampenlicht soll... der kleine Daniel, sehr sensibler Junge... man wird dir sehr, sehr dankbar sein, du kannst die Pläne für deinen Lebensabend enorm aufstocken. Wie wär's mit >ein kleiner Streich, der schiefgegangen ist<? Läßt sich das machen, Alter?«

Der sensationelle Raubüberfall auf Hunter's Island wird auf dem großen Friedhof der Berichte, die von höherer Instanz abgelehnt wurden, zur ewigen Ruhe gebettet.

Corkoran mit eitlem höherem Nassauer Polizeibeamten, der für sein Verständnis für die Kavaliersdelikte der Reichen bekannt ist:

»Wie geht's uns Alter? Hör zu, in Sachen Bruder Lamont, zuletzt von einem deiner lahmarschigeren Brüder im Doctors Hospital gesichtet... was dagegen, wenn wir den einfach von der Speisekarte streichen? Der Chef würde die Sache sehr gern etwas tiefer hängen, er meint, das sei besser für Daniels Gesundheit...  möchte auch  nicht, daß Anklage erhoben wird, selbst wenn ihr die Täter schnappen solltet, kann das Theater nicht ausstehen... na prima... ah, übrigens, glaub bloß nicht den ganzen Scheiß in den Zeitungen, von wegen, daß die Ironbrand-Aktien in den Keller gehen... der Chef wird zu Weihnachten eine hübsche kleine Dividende ausspucken, da können wir uns alle was Schönes gönnen...«

Der starke Arm des Gesetzes erklärt sich einverstanden, die Krallen einzuziehen. Und Burr fragt sich, ob er da Jonathans Nachruf hört. Und der Rest der Welt bleibt stumm.

Sollte Burr nach London zurückkehren? Oder Rooke? Logisch betrachtet, war es gleichgültig, ob sie in Miami oder in London an einem Faden hingen. Unlogisch betrachtet, wollte Burr in der Nähe des Ortes bleiben, an dem sein Agent zuletzt gesehen worden war. Schließlich schickte er Rooke nach London und zog am gleichen Tag aus seinem Stahl-und-Glas-Hotel in eine bescheidenere Unterkunft in einem heruntergekommenen Teil der Stadt.

»Leonard kasteit sich, während er das Ende dieser Sache abwartet«, meinte Strelski zu Flynn.

»Stark«, sagte Flynn, der noch immer versuchte, sich damit abzufinden, daß sein Agent von Burrs Augapfel geopfert worden war.

Burrs Zelle war ein pastellfarbener Artdeco-Kasten am Strand; als Nachttischlampe diente ein verchromter Atlas mit geschultertem Globus, die stahlgerahmten Fenster dröhnten bei jedem vorbeifahrenden Auto, ein drogensüchtiger kubanischer Wächter lungerte mit Sonnenbrille und Elefantenbüchse im Foyer herum. Burr schlief dort unruhig, das Funktelefon auf dem freien Kopfkissen neben sich.

Einmal, als er nicht schlafen konnte, nahm er frühmorgens sein Funktelefon und ging auf einem der Boulevards spazieren. Aus dem dunstigen Meer tauchte ein Komplex von Kokainbanken vor ihm auf. Doch als er darauf zuging, befand er sich plötzlich auf einer Baustelle, die Gerüste wimmelten von kreischenden bunten Vögeln, und neben den geparkten Bulldozern schliefen Latinos wie Kriegstote.

Jonathan war nicht der einzige, der verschwunden war. Auch Roper war in ein schwarzes Loch gefallen. Ob nun absichtlich oder nicht, jedenfalls war er Amatos Leuten entwischt. Die abgehörten Telefonate der Ironbrand-Zentrale in Nassau ergaben lediglich, daß der Chef unterwegs war, um Farmen zu verkaufen - was in Ropers Jargon bedeutete: Kümmert euch um euren eigenen Scheiß.

Der Oberschnüffler Apostoll, den Flynn dringend konsultierte, wußte auch keinen Rat. Er habe vage mitbekommen, daß seine Klienten zu einer Geschäftsbesprechung auf der Insel Aruba gefahren sein könnten, sei aber selbst nicht eingeladen worden. Nein, er habe keine Ahnung, wo Mr. Roper sich aufhalte. Er sei Anwalt, kein Reiseveranstalter. Er sei ein Soldat der Jungfrau Maria.

Dann beschlossen Strelski und Flynn eines Abends, Burr ein wenig abzulenken. Sie holten ihn an seinem Hotel ab und überredeten ihn, die Funktelefone in der Hand, zu einem Bummel durch die Menschenmenge auf der Strandpromenade. Sie setzten sich mit ihm in ein Straßencafe, bestellten ihm Margheritas und zwangen ihn, sich für die vorbeikommenden Passanten zu interessieren. Vergeblich. Sie beobachteten die muskulösen Schwarzen in grellbunten Hemden und goldenen Ringen, die mit der Majestät von Lebemännern einherstolzierten, solange das Leben und ihre Männlichkeit währen mochte; ihre Mädchen, die in hautengen Miniröcken und hohen Stiefeln zwischen ihnen hertrippelten; ihre kahlköpfigen Leibwächter in mullah-grauen Umhängen, unter denen sie ihre Automatikwaffen verbargen. Eine Horde Strandjungen raste auf Skateboards vorbei, und die klügeren Damen brachten ihre Handtaschen in Sicherheit. Zwei alte Lesben mit schlaffen Strohhüten wollten sich nicht einschüchtern lassen und marschierten mit ihren Pudeln direkt auf sie zu, so daß sie ausweichen mußten. Nach den Strandjungen kam ein Schwärm langhalsiger Mannequins auf Rollschuhen, eine schöner als die andere. Bei ihrem Anblick wurde Burr, der Frauen liebte, einen Augenblick lebendig - nur um gleich darauf wieder in seine Melancholie zu versinken.

»He, Leonard«, machte Strelski einen letzten tapferen Versuch. »Sehen wir uns mal an, wo Roper am Wochenende einkaufen geht.«

In einem großen Hotel, in einem von Männern mit wattierten Schultern bewachten Konferenzraum, mischten Burr und Strelski sich unter die Käufer aus aller Herren Länder und lauschten den Verkaufsgesprächen gesund aussehender junger Männer mit Namensschildchen an den Rockaufschlägen. Hinter den Männern saßen Mädchen mit Auftragsbüchern. Und hinter den Mädchen, hinter einer Absperrung aus blutroten Seilen, waren in Vitrinen ihre Waren ausgestellt, jedes Stück poliert wie ein geliebter Besitz, und jedes machte garantiert einen Mann aus dem, der es besaß: von der rentabelsten Streubombe über die unentdeckbare Vollkunststoff-Glock-Automatikpistole bis hin zu den allerneuesten tragbaren Raketenwerfern, Granaten und Tretminen. Und für den Bücherfreund gab es Standardwerke, wie man raketengetriebene Geschütze selber baut oder wie man aus einer röhrenförmigen Büchse für Tennisbälle einen Einmal-Schalldämpfer basteln kann. »So ziemlich das einzige, was fehlt, ist eine Mieze im Bikini, die mit dem Arsch vor dem Rohr einer Sechzehn-Zoll-Kanone herumwackelt«, sagte Strelski, als sie zur Kommandostelle zurückfuhren.

Der Witz kam nicht an.

Ein tropisches Gewitter senkt sich über die Stadt, verdunkelt den Himmel und schlägt den Wolkenkratzern die Köpfe ab. Ein Blitz, und schon heulen die Alarmanlagen geparkter Autos. Das Hotel kracht in allen Fugen, der letzte Rest Tageslicht schwindet, als sei die Hauptsicherung durchgebrannt. Regen strömt über die Fensterscheiben von Burrs Zimmer, schwarzes Treibgut schwimmt auf dem jagenden weißen Nebel. Sturmböen peitschen die Palmen kahl, schleudern Stühle und Blumentöpfe von den Baikonen.

Doch Burrs Funktelefon hat die Attacke wie durch ein Wunder überstanden und schrillt ihm jetzt ins Ohr.

»Leonard«, sagt Strelski; seine Stimme bebt vor unterdrückter Erregung, »bewegen Sie Ihren Arsch hierher, aber schnell. Wir haben Stimmen aus den Trümmern gehört.«

Die Lichter der Stadt gehen wieder an und strahlen fröhlich nach der Gratiswäsche.

Corkoran mit Sir Anthony Joyston Bradshaw, seit kurzem der skrupellose Vorsitzende einer Gruppe heruntergewirtschafteter britischer Handelsgesellschaften, der gelegentlich die Beschaffungsstellen Ihrer Majestät mit geheimen Rüstungslieferungen versorgt.

Corkoran telefoniert unter der falschen Voraussetzung, daß die Leitung abhörsicher ist, aus der Nassauer Wohnung eines smarten jungen Ironbrand-Mitarbeiters.

»Sir Tony? Corkoran. Dicky Ropers Laufbursche.«

»Scheiße. Was wollen Sie?« Die Stimme klingt belegt und angetrunken und hallt wie in einem Badezimmer.

»Die Sache ist leider dringend, Sir Tony. Der Chef braucht Ihre guten Dienste. Was zum Schreiben da?«

Burr und Strelski lauschen gebannt, wie Corkoran sich um Präzision bemüht:

»Nein, Sir Tony, Pine. P wie Peter, I wie Idiot, N wie Null, E wie Esel. Genau. Vorname Jonathan. Wie Jonathan.« Dann ein paar harmlose Details, Jonathans Geburtsort, Geburtsdatum, britische Paßnummer. »Der Chef braucht eine gründliche Überprüfung, Sir Tony, bitte, am besten bis gestern. Und Mund halten. Absolutes Stillschweigen.«

»Wer ist Joyston Bradshaw?« fragt Strelski, als das Gespräch zu Ende ist.

Burr, der aus einem tiefen Traum zu erwachen scheint, erlaubt sich ein vorsichtiges Lächeln. »Sir Anthony Joyston Bradshaw, Joe, ist ein führendes englisches Arschloch. Seine finanzielle Klemme ist eine der wenigen Annehmlichkeiten der gegenwärtigen Rezession.« Sein Lächeln wird breiter. »Wenig überraschend, daß er auch ein alter Komplice von Mr. Richard Onslow Roper ist.« Er kommt in Fahrt. »Genaugenommen, Joe, wenn Sie und ich eine Mannschaft der größten Arschlöcher Englands aufstellen sollten, dürften wir Sir Anthony Joyston Bradshaw auf keinen Fall übergehen. Außerdem genießt er den Schutz einiger anderer hochgestellter englischer Arschlöcher, von denen etliche nicht allzuweit von der Themse entfernt ihrer Arbeit nachgehen.« Burrs angespanntes Gesicht strahlte vor Erleichterung, und er lachte laut auf: »Er lebt, Joe! Eine Leiche läßt man doch nicht überprüfen, nicht so dringend! Gründliche Überprüfung, sagt er. Na, wir haben ihm ja alles zurechtgelegt, und niemand ist besser geeignet, es ihm zu liefern, als dieser dämliche Tony Joyston Bradshaw! Sie wollen ihn, Joe! Er hat die Nase in ihr Zelt gesteckt! Kennen Sie es - dieses Sprichwort der Beduinen? Laß nie die Nase eines Kamels in dein Zelt, denn sonst kommt das ganze Kamel hinterher?«

Aber während Burr noch jubelte, dachte Strelski schon an den nächsten Schritt.

»Also kann Pat jetzt loslegen?« fragte er. »Pats Leute können den Zauberkasten vergraben?«

Sofort wurde Burr nüchtern. »Wenn Sie und Pat nichts dagegen haben, hab ich auch nichts dagegen«, sagte er.

Sie verständigten sich gleich auf die nächste Nacht.

Da Burr und Strelski ohnehin nicht schlafen konnten, fuhren sie zu Murgatroyd, einem runden um die Uhr geöffneten Hamburgerladen an der U.S. 1. Auf einem Schild hieß es: OHNE SCHUHE KEINE BEDIENUNG. Vor den Rauchglasfenstern hockten unbeschuhte Pelikane im Mondschein, jeder auf einem Pfosten entlang des hölzernen Landestegs, wie gefiederte alte Kampfbomber, die nie mehr eine Bombe abwerfen würden. Auf dem silbernen Strand starrten weiße Reiher unglücklich ihre Spiegelbilder an.

Um vier Uhr morgens piepte Strelskis Funktelefon. Er hielt es ans Ohr, sagte »ja« und lauschte. Er sagte: »Dann schlafen Sie erst mal was.« Er beendete das Gespräch, das zwanzig Sekunden gedauert hatte. »Kein Problem«, teilte er Burr mit und nahm einen Schluck Cola.

Burr brauchte ein paar Sekunden, ehe er seinen Ohren traute. »Sie meinen, die haben's geschafft? Es ist erledigt? Sie haben das Ding versteckt?«

»Sie haben eine Strandlandung gemacht, den Schuppen gefunden, den Kasten vergraben, alles sehr leise, sehr professionell, dann sind sie nichts wie weg. Jetzt muß unser Junge nur noch reden.«