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Sie jagten durch die zunehmende Dunkelheit von Cornwall, und Burr, auf den Beifahrersitz von Rookes Wagen gekauert, zog sich den Mantelkragen fester um die Ohren und versetzte sich in die fensterlosen Zimmer der Wohnung am Stadtrand von Miami zurück, wo keine achtundvierzig Stunden zuvor die Geheime Einsatztruppe von Operation Klette ihren ersten Tag der offenen Tür abgehalten hatte.
Geheime Einsatztruppen verweigern normalerweise Schreibtischspionen und anderen Schlauköpfen den Zutritt zu ihren Kreisen, aber Burr und Strelski haben ihre Gründe. Die Atmosphäre ist wie bei einer Holiday-Inn-Vertreterkonferenz unter Kriegsbedingungen. Delegierte treffen einzeln ein, identifizieren sich, steigen in stählerne Aufzüge, identifizieren sich noch einmal und grüßen sich vorsichtig. Jeder trägt Namen und Beruf am Revers, auch wenn einige der Namen nur für diesen Tag gewählt wurden und manche Berufe so obskur sind, daß selbst alte Hasen nicht gleich schlau daraus werden. >DEP DR OPSCO-ORDS< heißt es bei einem, >SUPTNARCS & FMS SW< bei einem anderen. Und dazwischen lächeln mit erfrischender Klarheit ein >US SENATOR<, ein >BUNDESANWALT< oder ein >UK VERBINDUNGSOFFIZIER<
Das River House wird von einer riesigen Engländerin vertreten in perfekter Lockenfrisur und einem Twinset ä la Thatcher; allgemein ist sie als Darling Katie bekannt und offiziell als Mrs. Katherine Handyside Dulling, Wirtschaftskonsulentin der Britischen Botschaft in Washington. Seit zehn Jahren besitzt Darling Katie den goldenen Schlüssel zu Whitehalls besonderen Beziehungen zu den zahllosen Nachrichtendiensten Amerikas. Von denen der Land-, See- und Luftstreitkräfte, über Inneres und Äußeres und CIA bis zu den allmächtigen Nuschlern der Palastgarde des Weißen Hauses - von den geistig Gesunden über die harmlos Verrückten bis hin zu den gefährlich Lächerlichen ist der geheime Überbau amerikanischer Macht Katies Revier, wo sie sondiert, schikaniert, verhandelt und die Leute für ihre berühmte Abendtafel gewinnt.
»Haben Sie gehört, wie er mich genannt hat, Cy, dieses Monster da, dieses Ding?« brüllt Katie einem verkniffenen Senator im Zweireiher zu, während die Rex Goodhew einen anklagenden Zeigefinger wie eine Pistole an die Schläfe hält. »Eine Femagogin! Ich! Eine Femagogin! Haben Sie jemals etwas politisch so Unzutreffendes gehört? Ich bin eine Maus, Sie Scheusal. Ein verwelkendes Veilchen! Und nennt sich selbst einen Christen!«
Fröhliches Gelächter erfüllt den Raum. Katies bilderstürmerisches Geschrei ist die Erkennungsmelodie der Eingeweihten. Weitere Delegierte treffen ein. Gruppen gehen auseinander, bilden sich neu. »He, Martha, hallo!... Hi, Walt... Schön Sie zu sehen... Marie, großartig!«
Jemand hat das Signal gegeben. Trockenes Rascheln, als die Delegierten ihre Pappbecher in Mülltüten werfen und zum Vorführraum eilen. Die Rangniedrigsten, angeführt von Amato, gehen zu den vorderen Reihen. Weiter hinten auf den teuren Plätzen sitzt Neal Marjoram, Darkers Stellvertreter von der Projektgruppe Beschaffung, und lacht behaglich mit einem rothaarigen amerikanischen Schreibtischspion, dessen Namensschild ihn bloß als >Mittelamerika – Finanzierung< ausweist. Ihr Gelächter verstummt, als das Licht ausgeht. Ein Witzbold sagt: »Action!« Burr sieht ein letztesmal zu Goodhew hinüber. Er sitzt nach hinten gebeugt und lächelt die Decke an wie ein Konzertbesucher, der die Musik gut kennt. Joe Strelski beginnt seinen Vortrag.
Und als Lieferant von Falschinformationen beherrscht Joe Strelski seinen Text perfekt. Burr ist verwirrt. Nach zehn Jahren fortgesetzten Betrugs fällt ihm heute zum erstenmal auf, daß die besten Betrüger die Langweiler sind. Wäre Strelski jetzt von Kopf bis Fuß an Lügendetektoren angeschlossen, würden die Nadeln, da ist Burr sicher, nicht ausschlagen. Auch sie würden sich langweilen. Strelski spricht fünfzig Minuten lang, und als er dann fertig ist, hätte niemand mehr als diese fünfzig ertragen können. Sein monotoner Wortschwall läßt die sensationellsten Informationen zu Asche werden. Der Name Richard Onslow Roper kommt ihm kaum über die Lippen. In London hat er ihn bedenkenlos ausgesprochen. Roper ist unser Ziel; Roper ist die Schlüsselfigur. Aber heute in Miami, vor einem gemischten Publikum aus Nachrichtenauswertern und Ermittlern, ist Roper ins Dunkel verbannt, und als Strelski eine halbherzige Diavorführung der Mitwirkenden kommentiert, wird Dr. Paul Apostoll zum Star der Truppe gemacht, da er uns seit sieben Jahren als wichtigster Mittelsmann und Drahtzieher des Kartells in dieser Hemisphäre bekannt ist...
Nun berichtet Strelski über den mühseligen Prozeß, Apostoll als die Hauptachse unserer anfänglichen Untersuchungen festzulegen, und gibt einen umständlichen Bericht von den erfolgreichen Bemühungen der Agenten Flynn und Amato, die Büros des Herrn Doktors in New Orleans mit einer Wanze auszustatten. Hätten Flynn und Amato ein undichtes Rohr auf dem Herrenklo repariert, hätten Strelskis Ausführungen nicht weniger begeistert klingen können. Mit einem phantastisch langweiligen Satz, den er ohne Punkt und Komma und voller falscher Betonungen aus einem vorbereiteten Text vorliest, treibt er sein Publikum dem Schlaf in die Arme:
»Basis für die Operation Klette sind nachrichtendienstliche Indikatoren aus einer Vielzahl technischer Quellen des Inhalts daß die drei führenden kolumbianischen Kartelle einen gegenseitigen Nichtangriffspakt unterzeichnet haben als Voraussetzung für die Erstellung militärischer Deckung entsprechend den verfügbaren Finanzen und der bei ihren Planungen im Vordergrund stehenden Bedrohung angemessen.« Luftholen. »Diese Bedrohungen sind: erstens.« Noch einmal Luftholen. »Militärisches Einschreiten der Vereinigten Staaten auf Ersuchen der kolumbianischen Regierung.« Beinahe fertig, aber noch nicht ganz. »Zweitens, die wachsende Stärke der nichtkolumbianischen Kartelle vor allem in Venezuela und Bolivien. Drittens, eigenständige Maßnahmen der kolumbianischen Regierung, jedoch mit tatkräftiger Unterstützung der US-Nachrichtendienste.«
Amen, denkt Burr, starr vor Bewunderung.
Die Vorgeschichte des Falles scheint niemanden zu interessieren, und Strelski breitet sie vermutlich nur deshalb aus. Während der letzten acht Jahre, sagt er - das Interesse läßt noch mehr nach - wurden »von verschiedenen Seiten, die die unbegrenzten finanziellen Mittel der Kartelle lockte«, einige Versuche unternommen, diese zu überreden, doch zunehmend schwere Waffen zu kaufen. Franzosen, Israelis und Kubaner haben ihnen ebenso ihre Waren aufgedrängt wie eine Reihe unabhängiger Hersteller und Händler, die meisten davon mit stillschweigendem Einverständnis ihrer jeweiligen Regierungen. Die Israelis, unterstützt von britischen Söldnern, schafften es tatsächlich, ihnen ein paar Golil-Sturmgewehre und ein Truppenübungspaket zu verkaufen.
»Aber die Kartelle«, sagt Strelski, »nun, nach einer Weile verloren die Kartelle irgendwie das Interesse.«
Das Publikum kennt die Gefühle der Kartelle genau.
Als Dr. Apostoll auf der Insel Tortola entdeckt wird, kommt Kinoatmosphäre auf; mit dem Teleobjektiv von der anderen Straßenseite aus gefilmt, sitzt er im Büro der karibischen Anwaltskanzlei Langbourne, Rosen und de Sota, der Notare der Niederträchtigen. Zwei käsebleiche Banker von den Cayman-Inseln werden am selben Tisch identifiziert. Zwischen ihnen sitzt Major Corkoran, und zu Burrs heimlichem Vergnügen hält der Unterzeichner einen gezückten Füllfederhalter in der Rechten. Ihm am Tisch gegenüber sitzt ein nicht identifizierter Lateinamerikaner. Der gelangweilte Schönling neben ihm, die Haare hübsch im Nacken zusammengebunden, ist niemand anders als Lord Alexander Langbourne alias Sandy, Rechtsberater des Mr. Richard Onslow Roper von der Firma Ironbrand Land, Ore & Precious Metals Company aus Nassau, Bahamas.
»Wer hat diesen Film aufgenommen, Mr. Strelski, bitte?« fragt eine sehr juristisch klingende Stimmer scharf aus der Dunkelheit. »Wir«, antwortet Burr zufrieden, und die Gesellschaft entspannt sich sofort wieder: Agent Strelski hat seine territoriale Befugnis jedenfalls nicht überschritten.
Aber jetzt kann nicht einmal Strelski die Aufregung in der Stimme unterdrücken, und für einen kurzen Augenblick erklingt klar und deutlich Ropers Name.
»Unmittelbar im Anschluß an den eben von mir erwähnten Nichtangriffspakt erteilten die Kartelle ihren Repräsentanten Weisung, mit einigen illegalen Waffenhändlern Sondierungsgespräche zu führen«, sagte er. »Was wir hier sehen, leider ohne Ton gefilmt, ist unseren Quellen zufolge der erste von Apostoll unternommene offene Versuch, an neutrale Mittelsmänner von Richard Roper heranzutreten.«
Als Strelski Platz nimmt, springt Rex Goodhew auf. Heute gibt er sich sachlich. Er scherzt nicht, er vermeidet die englischen Kinkerlitzchen, die manche Amerikaner auf die Palme treiben. Er bedauert freimütig, daß an dieser Affäre britische Staatsangehörige, darunter einige klangvolle Namen, beteiligt sind. Er bedauert, daß sie sich hinter den Gesetzen der britischen Protektorate auf den Bahamas und in der Karibik verstecken können. Das Zustandekommen guter Beziehungen auf Arbeitsebene zwischen britischen und amerikanischen Stellen macht ihm Mut. Er will Blut sehen, und die Zentrale Nachrichtenauswertung soll ihm helfen, es zu vergießen:
»Unser gemeinsames Ziel ist es, die Täter zu ergreifen und ein öffentliches Exempel an ihnen zu statuieren«, erklärt er mit Trumanhafter Schlichtheit. »Mit Ihrer Hilfe wollen wir dem Gesetz Geltung verschaffen, die Verbreitung von Waffen in einer unsicheren Region verhindern und den Nachschub von Drogen« - Goodhew spricht dieses Wort aus, als handele es sich um eine leichte Form von Aspirin - »abschneiden, denn dies ist die Währung, in der unserer Ansicht nach die Waffen bezahlt werden sollen - wohin auch immer sie letztlich geliefert werden. Um dies zu erreichen, bitten wir um Ihre volle, rückhaltslose Unterstützung als nachrichtensammelnde Dienste. Ich danke Ihnen.«
Nach Goodhew kommt der Bundesanwalt, ein ehrgeiziger junger Mann mit einer Stimme, die dröhnt wie ein laufender Rennwagenmotor in der Box. Er gelobt, »diese Sache in Rekordzeit vor Gericht zu bringen«.
Burr und Strelski beantworten Fragen.
»Wie sieht's denn dabei mit der menschlichen Seite aus, Joe?« ruft eine Frau aus dem Hintergrund des Saals. Dem britischen Kontingent verschlägt es vorübergehend die Sprache: die menschliche Seite]
Strelski errötet beinahe. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte die Frage nicht gestellt. Er macht das Gesicht eines Verlierers, der seine Niederlage nicht eingestehen will. »Wir arbeiten daran, Joanne, glauben Sie mir. Wenn man bei einer Sache wie dieser mit menschlichen Quellen arbeitet, kann man nur warten und beten. Wir haben Vorgaben, wir haben Hoffnungen, wir haben unsere Leute da eingeschleust, und wir glauben, daß irgend jemand da draußen schon bald darauf angewiesen sein wird, sich den Schutz von Zeugen zu kaufen, und uns eines Nachts anrufen und bitten wird, das für ihn zu arrangieren. Es wird dazu kommen, Joanne.« Er nickte entschlossen, als sei er als einziger davon überzeugt. »Es wird dazu kommen«, wiederholte er ebenso wenig überzeugend wie zuvor.
Mittagszeit. Die Nebelwand ist aufgezogen worden, auch wenn niemand sie sehen kann. Niemand bemerkt, daß Joanne eine von Strelskis engen Mitarbeiterinnen ist. Die Prozession setzt sich zum Ausgang in Marsch. Goodhew bricht mit Darling Katie und ein paar Schreibtischspionen auf.
»Eins will ich gleich klarstellen, Leute«, läßt Katie sich vernehmen, als sie gehen, »ich lasse mich nicht mit zwei kalorienarmen Salatblättern abspeisen, verstanden? Wenn ich nicht Fleisch und drei verschiedene Gemüse und Mehlpudding mit Rosinen bekomme, geh ich gar nicht erst mit. Von wegen Femagogin, Rex Goodhew. Und dann kommen Sie mit dem Hut bei uns betteln. Ich werd Ihnen noch mal den frommen Hals umdrehen.«
Abend. Flynn, Burr und Strelski sitzen auf der Terrasse von Strelskis Strandhaus und sehen den Streifen Mondlichts im Kielwasser der zurückkehrenden Vergnügungsboote tänzeln. Agent Flynn hält liebevoll ein großes Glas Bushmills Single Malt in der Hand. Umsichtig läßt er die Flasche nicht von seiner Seite. Man spricht nur gelegentlich. Niemand will außer der Reihe von den Ereignissen des Tages reden. Letzten Monat, sagt Strelski, war meine Tochter Vegetarierin. Diesen Monat ist sie in den Metzger verliebt. Flynn und Burr lachen pflichtschuldig, und wieder senkt sich Schweigen über sie.
»Wann wird Ihr Junge losgelassen?« fragt Strelski ruhig.
»Ende der Woche«, antwortet Burr ebenso gedämpft. »So Gott und Whitehall wollen.«
»Wenn Ihr Junge von innen zieht und unser Junge von außen schiebt, dürften wir so was wie einen Regelkreis haben«, sagt Strelski.
Flynn lacht ausgiebig und nickt in der Dämmerung mit seinem großen, dunklen Kopf wie ein Taubstummer. Burr fragt, was ein Regelkreis ist.
»Ein Regelkreis, Leonard, das heißt, daß man jeden Teil des Schweins verwendet, außer dem Quieken«, sagt Strelski. Wieder eine Pause, in der sie aufs Meer hinaussehen. Als Strelski wieder anfängt, muß Burr sich vorbeugen, um seine Worte zu verstehen.
»Dreiunddreißig erwachsene Leute in diesem Raum«, murmelt er. »Neun verschiedene Dienste, sieben Politiker. Ein paar von denen werden den Kartellen schon erzählen, daß Joe Strelski und Leonard Burr eine Quelle mit einer nichtsnutzigen menschlichen Seite haben, stimmt's, Pat?«
Flynns weiches irisches Lachen geht im Rauschen der See beinahe unter.
Burr jedoch kann, auch wenn er das für sich behält, die Zufriedenheit seiner Gastgeber nicht teilen. Die Auswerter hatten nicht allzu viele Fragen gestellt, das stimmte. Aber Burr hatte den beunruhigenden Eindruck, daß sie zu wenig gestellt hatten.
Zwei efeuumrankte Granitpfosten, in die der Name Lanyon Rose eingemeißelt war, tauchten aus dem Nebel auf. Ein Haus gab es nicht. Der Farmer war vermutlich gestorben, ehe er dazu kam, es zu bauen, dachte Burr.
Sie waren sieben Stunden gefahren. Über den Granitmauern und dem Schwarzdorn dunkelte ein unruhiger Himmel. Die Schatten auf der löchrigen Fahrbahn verschwammen undeutlich ineinander, so daß der Wagen immerzu bockte wie unter Beschuß. Es war ein Rover und Rookes ganzer Stolz. Seine kräftigen Hände kämpften mit dem Steuer. Der Wagen kam an verlassenen Bauernhöfen und einem keltischen Kreuz vorbei. Rooke schaltete das Fernlicht ein, blendete dann wieder ab. Seit sie den Tamar River überquert hatten, gab es nur noch Dämmerung und wallenden Nebel.
Die Straße stieg an, der Nebel verschwand. Plötzlich sahen sie durch die Windschutzscheibe nur noch Schluchten voller weißer Wolken. Eine Salve von Regentropfen prasselte an die linke Wagenseite. Der Wagen schwankte, dann kippte er im freien Fall über den Rand, die Motorhaube zeigte zum Atlantik. Die letzte Kurve, die steilste. Über ihnen lärmte ein Schwärm zankender Vögel. Rooke bremste auf Schrittempo ab, bis sie den Aufruhr hinter sich hatten. Wieder traf sie ein Regenschauer. Als er nachließ, sahen sie auf einem Bergsattel mitten in schwarzem Farn das graue Häuschen.
Er hat sich erhängt, dachte Burr, als er Jonathans gekrümmte Silhouette im Licht des Eingangs baumeln sah. Aber der Erhängte hob grüßend den Arm und trat ins Dunkel hinaus, bevor er seine Taschenlampe anmachte. Sie parkten auf einer kleinen, mit Granitschotter bedeckten Fläche. Rooke stieg aus, und Burr hörte die beiden Männer, die sich wie zwei Reisende begrüßten. »Schön, Sie zu sehen! Ah! Was für ein Wind!« Burr blieb vor Nervosität störrisch sitzen und schnitt dem Himmel Grimassen, während er den obersten Mantelknopf durchs Loch zwängte. Der Wind brauste um den Wagen und rüttelte an der Antenne.
»Nun komm schon, Leonard!« brüllte Rooke. »Die Nase kannst du dir später noch pudern!«
»Ich fürchte, Sie werden rüberklettern müssen, Leonard«, sagte Jonathan durchs Fahrerfenster. »Wir evakuieren Sie auf der Leeseite, wenn's recht ist.«
Burr packte sein rechtes Knie mit beiden Händen und schob es über Schalthebel und Fahrersitz, dann wiederholte er das Manöver mit dem linken Bein. Er setzte einen Straßenschuh auf den Schotter. Jonathan hielt die Taschenlampe auf ihn gerichtet. Burr erkannte Stiefel und eine gestrickte Matrosenmütze.
»Wie geht's Ihnen?« schrie Burr, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. »Sind Sie fit?«
»Nun ja, ich glaube schon«
»Braver Junge.«
Rooke ging mit seiner Aktentasche voraus. Burr und Jonathan folgten ihm nebeneinander den geharkten Pfad hinauf.
»Und das da ist gutgegangen?« frage Burr mit einer Kopfbewegung zu Jonathans bandagierter Hand. »Er hat sie also nicht aus Versehen amputiert.«
»Nein, nein, alles in Ordnung. Schneiden, nähen, einwickeln, das Ganze hat keine halbe Stunde gedauert.«
Sie standen jetzt in der Küche. Burrs Gesicht brannte noch immer vom Wind. Geschrubbter Kieferntisch, stellte er fest. Gebohnerte Steinfliesen. Polierter Kupferkessel.
»Keine Schmerzen?«
»Nicht, wenn die Pflicht ruft«, antwortete Jonathan.
Sie lachten zaghaft, wie Fremde.
»Ich habe ein Stück Papier für Sie dabei«, kam Burr wie üblich sofort auf das zu sprechen, was ihm auf der Seele lag. »Sie sollen es unterschreiben, mit mir und Rooke als Zeugen.«
»Was steht denn drin?« fragte Jonathan.
»Dummes Zeug steht drin« - wie praktisch, daß man den Bürokraten die Schuld zuschieben konnte -, »es geht um Schadensbegrenzung. Eine Versicherungspolice. Wir haben Sie nicht gedrängt, Sie werden uns nicht verklagen. Sie können bei Versäumnissen, Amtsvergehen oder Tollwut der Regierung nichts anhängen. Wenn Sie aus einem Flugzeug fallen, sind Sie selber schuld. Und so weiter.«
»Die kriegen wohl kalte Füße?«
Burr durchschaute die indirekte Frage und gab sie zurück. »Und wie sieht's mit Ihnen aus, Jonathan? Darum geht's doch wohl eigentlich?« Jonathan wollte protestieren, doch Burr sagte: Mund halten und zuhören. »Morgen um diese Zeit werden sich alle um Sie reißen. Aber nicht im positiven Sinn. Jeder, der Sie gekannt hat, wird sagen: >Hab ich doch gleich gesagt. < Jeder, der Sie nicht gekannt hat, wird Ihr Foto genau ansehen, ob da nicht der Beweis für die Anlage zum Mörder zu finden ist. Dies bedeutet lebenslänglich, Jonathan. Das werden Sie nie mehr los.«
Ein flüchtiges Bild tauchte vor Jonathan auf: Sophie in der Pracht von Luxor. Sie saß, die Arme um die Knie geschlungen, auf einem Sockel und sah die Säulenreihe entlang. Ich brauche den Trost der Ewigkeit. Mr. Pine, sagte sie.
»Wenn Sie wollen, kann ich die Uhr noch immer anhalten. Schaden wird das keinem, nur meinem Ego«, fuhr Burr fort. »Aber wenn Sie aussteigen wollen und nicht den Mumm haben, es zu sagen, oder wenn Sie Onkel Leonard einfach nur einen Gefallen tun möchten oder etwas ähnlich Dummes, dann sage ich Ihnen eindringlich: Reißen Sie gefälligst Ihren Mut zusammen und erklären Sie sich jetzt, nicht später. Wir können nett zu Abend essen, uns verabschieden und nach Hause fahren. Niemand ist Ihnen böse, jedenfalls nicht für immer. Morgen abend oder an irgendeinem Abend danach ist es nicht mehr möglich.«
Tiefere Schatten im Gesicht, dachte Burr. Der Blick des Beobachters, der an einem haftenbleibt, nachdem er längst weggesehen hat. Was haben wir da nur ins Rollen gebracht? Er sah sich von neuem in der Küche um. Gestickte Bilder von Schiffen mit vollen Segeln, Holzbesteck, Kupferkessel aus Newlyn. Eine glänzende Tafel mit der Aufschrift: >Du siehst mich, Gott.<
»Sind Sie sicher, daß ich dieses Zeug nicht für Sie in Verwahrung nehmen soll?« fragte Burr.
»Nein, bestimmt nicht. Schon gut. Verkaufen Sie's. Nur keine Umstände.«
»Eines Tages, wenn Sie seßhaft werden, brauchen Sie's vielleicht.«
»Ich reise lieber mit leichtem Gepäck. Und es ist alles noch da - das Ziel, meine ich? Er macht noch immer, was er gemacht hat, lebt noch immer, wie er gelebt hat, und so weiter? Es hat sich nichts geändert?«
»Nicht daß ich wüßte, Jonathan«, sagte Burr mit leicht verwirrtem Lächeln. »Und ich bin ziemlich auf dem laufenden. Kürzlich hat er sich einen Canaletto gekauft, falls das was besagt. Und ein paar Araber für seinen Stall. Und ein hübsches Diamant-Halsband für seine Süße. Habe nicht gewußt, daß man das Halsband nennt. Hört sich so nach Schoßhündchen an. Na ja, genau das wird sie wohl auch sein.«
»Vielleicht kann sie es sich nicht leisten, mehr zu sein«, sagte Jonathan.
Er streckte die bandagierte Hand aus, und einen Augenblick lang glaubte Burr schon, er solle sie ihm schütteln. Dann aber erkannte er, daß Jonathan das Dokument haben wollte, also wühlte er in seinen Taschen, erst im Mantel, dann im Jacket, und zog den dick versiegelten Umschlag heraus.
»Ich meine es ernst«, sagte Burr. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«
Jonathan suchte mit der linken Hand nach einem Steakmesser in der Schublade, zerschlug mit dem Griff das Siegelwachs und schlitzte den Umschlag dann an der Klappe auf. Burr fragte sich, warum Jonathan sich die Mühe gemacht hatte, das Wachs zu zerbrechen, es sei denn, um mit seiner Geschicklichkeit anzugeben.
»Lesen Sie«, befahl Burr. »Jedes verdammte Wort, sooft Sie wollen. Sie sind Mr. Brown, falls Sie nicht von selbst darauf gekommen sind. Ein namenloser Freiwilliger in unseren Diensten. Leute wie Sie heißen in offiziellen Papieren immer Brown.«
Entworfen von Harry Palfrey für Rex Goodhew. Weitergeleitet an Leonard Burr, der es Mr. Brown zur Unterschrift vorlegen soll.
»Sagen Sie mir nur nie seinen Namen«, hatte Goodhew gebeten. »Sollte ich den Namen gesehen haben, hab ich ihn vergessen. Lassen wir es dabei.«
Jonathan hielt das Schreiben an die Öllampe. Was ist er für einer? fragte sich Burr zum hundertsten Mal, während er die hartweichen Konturen seines Gesichts betrachtete. Ich dachte, ich wüßte es. Ich weiß es nicht.
»Denken Sie darüber nach«, drängte Burr. »Whitehall hat es auch getan. Ich habe sie es zweimal neu schreiben lassen.« Er unternahm einen letzten Versuch. »Bitte sagen Sie es mir, nur für mich, ja? >Ich, Jonathan, bin sicher.< Sie wissen, auf was Sie sich einlassen, Sie haben alles durchdacht. Und Sie sind noch immer sicher.«
Wieder dieses Lächeln, bei dem es Burr noch unbehaglicher wurde. Wieder streckte Jonathan die bandagierte Hand aus, diesmal nach Burrs Kugelschreiber. »Ich bin sicher, Leonard. Ich, Jonathan. Und ich werde auch morgen früh sicher sein. Wie soll ich unterschreiben? Jonathan Brown?«
»John«, erwiderte Burr. »In Ihrer normalen Handschrift.« Während er zusah, wie Jonathan sorgfältig John Brown schrieb, tauchte Corkoran, der Unterzeichner, mit seinem gezückten Füllfederhalter vor seinem inneren Auge auf.
»Erledigt«, sagte Jonathan fröhlich, um Burr zu trösten.
Aber dem fehlte noch etwas. Dramatik, ein festlicheres Gefühl. Er stand auf, mühsam wie ein alter Mann, und ließ sich von Jonathan aus dem Mantel helfen. Dann ging ihnen Jonathan ins Wohnzimmer voran.
Der Eßtisch war feierlich gedeckt. Leinenservietten, stellte Burr entrüstet fest. Drei Hummercocktails in Gläsern. Silberbesteck wie in einem Drei-Sterne-Restaurant. Der Geruch bratenden Fleischs. Ein anständiger Pommard, vorsorglich entkorkt. Was zum Teufel hat er mit mir vor?
Rooke wandte ihnen den Rücken zu; die Hände in den Taschen, betrachtete er Marilyns letztes Aquarell.
»Muß sagen, das gefällt mir nicht übel«, wagte er eine seltene Schmeichelei.
»Danke«, sagte Jonathan.
Jonathan hatte sie schon gehört, lange bevor er sie gesehen hatte. Und noch bevor er sie gehört hatte, wußte er, daß sie da waren, denn allein dort auf seinem Kliff hatte der scharfe Beobachter gelernt, Geräusche bereits im Entstehen wahrzunehmen. Der Wind war sein Verbündeter. Wenn der Nebel sank und Jonathan nur noch das Stöhnen des Leuchtturms zu hören glaubte, dann trug ihm der Wind die Stimmen der Fischer draußen auf dem See herüber.
Und so spürte er die Vibrationen des Rover-Motors, noch ehe dessen Brummen über das Kliff zu ihm herunterdrang. Wartend stand er im Wind und machte sich bereit. Als die Scheinwerfer auftauchten und genau auf ihn zielten, zielte er im Geist zurück; er schätzte die Geschwindigkeit des Rovers an den Telegrafenmasten ab und berechnete die Entfernung, über die hinweg er zielen müßte, wenn er eine raketengetriebene Granate auf sie richtete. Unterdessen behielt er aus den Augenwinkeln den Hügel im Blick, falls von dort ein zweiter Wagen käme oder sie einen Scheinangriff führten.
Und als Rooke den Wagen parkte und Jonathan lächelnd mit der Taschenlampe durch den Sturm schritt, hatte er sich ausgemalt, wie er seine beiden Gäste an dem Lichtstrahl entlang erschoß und ihnen mit abwechselnden Feuerstößen die grünen Gesichter weggepustet hatte. Untergrundkämpfer erfolgreich erledigt. Sophie gerächt.
Doch als sie jetzt losfuhren, war er ruhig und nahm andere Dinge wahr. Der Sturm hatte sich gelegt und zerrissene Wolkenfetzen zurückgelassen. Ein paar Sterne waren noch da. Graue Einschußlöcher umgaben den Mond mit einem blasigen Muster. Jonathan sah die Rücklichter des Rover an der Wiese vorbeigleiten, in der er seine Iriszwiebeln gesteckt hatte. In ein paar Wochen, dachte er, falls die Kaninchen nicht durch den Zaun kommen, wird diese Wiese lila sein. Die Rücklichter glitten am Bullengehege vorbei, und er erinnerte sich, wie er an einem warmen Abend aus Falmouth zurückgekommen war und Jacob Pengelly und seine Freundin dort überrascht hatte, beide mit nichts am Leibe außer sich selbst; Jacob bäumte sich ekstatisch hinter ihr auf, und die Kleine bog sich ihm wie eine Akrobatin entgegen.
Der nächste Monat ist durch die Traubenhyazinthen ein blauer Monat, hatte Pete Pengelly ihm erzählt. Aber dieser Monat, Jack, dieser jetzt ist golden und wird immer goldener, Ginster und Schlüsselblumen und wilde Narzissen setzen sich gegen alle anderen Blumen durch. Warten Sie's nur ab, Jack. Prost.
Ich muß zu mir selbst finden, sagte Jonathan sich auf. Ich muß meine fehlenden Teile finden.
Ich muß einen Mann aus mir machen; mein Vater hat gesagt, das werde man bei der Armee: ein Mann.
Ich muß nützlich sein. Aufrecht stehen. Mein Gewissen von der Last befreien.
Ihm war schlecht. Er ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Über der Tür hing eine Schiffsuhr aus Messing, und ohne darüber nachzudenken, warum, zog er sie auf. Dann ging er ins Wohnzimmer, wo er seinen Schatz aufbewahrte: eine alte Standuhr aus Obstholz mit nur einem Gewicht, die er bei Daphne in der Chapel Street für ein Butterbrot gekauft hatte. Er zog an der Messingkette, bis das Gewicht oben war. Dann setzte er das Pendel in Bewegung.
»Schätze, ich werde mal für eine Weile zu meiner Tante Hilary nach Teignmouth fahren«, hatte Marilyn gesagt, als die Tränen versiegt waren. »Mal 'ne Abwechslung, Teignmouth, nicht wahr?«
Jonathan hatte auch eine Tante Hilary gehabt, in Wales, neben einem Golfclub. Sie war ihm durchs Haus gefolgt, um das Licht auszumachen, und hatte im Dunkeln zu ihrem lieben Herrn Jesus gebetet.
»Geh nicht«, hatte er Sophie auf jede erdenkliche Weise angefleht, als sie auf das Taxi warteten, das sie zum Flughafen von Luxor zurückbringen sollte. »Geh nicht«, hatte er sie im Flugzeug angefleht. »Verlaß ihn, er bringt dich um, geh das Risiko nicht ein«, hatte er sie angefleht, als er sie in das Taxi setzte, das sie zu ihrer Wohnung und zu Freddie Hamid zurückbringen sollte.
»Wir haben beide unsere Verabredungen mit dem Leben, Mr. Pine«, hatte sie mir ihrem zerschlagenen Lächeln zu ihm gesagt. »Für eine arabische Frau gibt es schlimmere Erniedrigungen, als von ihrem Geliebten verprügelt zu werden. Freddie ist sehr reich. Er hat mir gewisse handfeste Versprechungen gemacht. Ich muß an mein Alter denken.«