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An einem kalten Freitag Ende Februar betrat Jonathan Mrs. Tretheweys Poststelle und stellte sich mit Linden vor, ein Name, den er, als Burr ihn aufforderte, einen vorzuschlagen, aus der Luft gegriffen hatte. In seinem ganzen Leben war er keinem Linden begegnet, es sei denn, er erinnerte sich unbewußt an irgend etwas von seiner deutschen Mutter, ein Lied oder ein Gedicht, das sie ihm auf ihrem scheinbar endlosen Sterbelager vorgetragen hatte.

Der Tag war feucht und düster gewesen, ein Abend, der beim Frühstück begonnen hatte. Das Dorf lag zehn Meilen von Lands End entfernt. Der Schwarzdorn an Mrs. Tretheweys Granitmauer war von den Südweststürmen gekrümmt. Die Autoaufkleber auf dem Parkplatz an der Kirche empfahlen Fremden, nach Hause zu gehen.

Es hat etwas von Diebstahl, heimlich ins Land seiner Geburt zurückzukehren, nachdem man es für immer verlassen hat. Es hat etwas von Diebstahl, einen nagelneuen Decknamen zu benutzen und als sein neues Ich aufzutreten. Man fragt sich, wessen Kleider man gestohlen hat, was für einen Schatten man wirft, ob man als jemand anderer schon einmal hiergewesen ist. Nach sechs Jahren als undefinierbares Ich im Exil kommt einem der erste Tag in der neuen Rolle wie ein besonderes Ereignis vor. Ein wenig von dieser Frische mag sich auf Jonathans Gesicht gezeigt haben, denn Mrs. Trethewey beteuerte hinterher stets, ihr sei eine gewisse Keckheit an ihm aufgefallen, ein Funkeln, wie sie es nannte. Und Mrs. Trethewey ist keine Schwätzerin. Sie ist eine kluge Frau, groß und stattlich, keineswegs eine Landpomeranze. Bei manchen ihrer Äußerungen fragt man sich, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie eine Ausbildung gehabt hätte, wie sie heute üblich ist, oder einen Mann, der nicht ganz so unterbelichtet gewesen wäre wie der arme alte Tom, der vorige Weihnachten in Penzance einen Schlaganfall hatte und tot umfiel, nachdem er sich beim Freimaurer-Treffen ein wenig zuviel gegönnt hatte.

»Jack Linden, also der war auf Draht«, sagte sie etwa auf ihre belehrende kornische Art. »Hatte nette Augen, wenn man ihn zum erstenmal sah, heiter, will ich mal sagen. Aber die sahen dich überall an, doch nicht so, wie du jetzt meinst, Marilyn. Die sahen dich gleichzeitig von weitem und von nahem an. Schon bevor er überhaupt in den Laden kam, hätte man denken können, der hat was gestohlen. Hatte er ja auch. Das wissen wir jetzt. So wie wir auch manches andere wissen, das wir lieber nicht wissen würden.«

Es war zwanzig nach fünf, zehn Minuten vor Ladenschluß; sie zählte die Einnahmen in der elektronischen Kasse, bevor sie sich mit ihrer Tochter Marilyn, die sich oben um die Kleine kümmerte, im Fernsehen Neighbours ansah. Sie hörte ein großes Motorrad - »so ein richtig dicker Brummer« -, sie sah, wie er es auf den Ständer stellte, den Helm abnahm und sein hübsches Haar glattstrich, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, das diente ihm eher zur Entspannung, vermutete sie. Und sie glaubte ihn lächeln zu sehen. Eine Ameise, dachte sie, und dazu noch eine fröhliche. In West-Cornwell bedeutet Ameise Ausländer, und Ausländer ist jeder, der östlich vom River Tamar zu Hause ist.

Aber diese Ameise hier hätte vom Mond stammen können. Mrs. Trethewey hatte nicht übel Lust, das Schild an der Tür umzudrehen, sagt sie, aber sein Aussehen hielt sie davon ab. Auch seine Schuhe, die gleichen, die ihr Tom immer zu tragen pflegte; sie glänzten wie Kastanien, und bevor der Mann hereinkam, trat er sie sich sorgfältig auf der Matte ab, was man von einem Motorradfahrer ja nicht gerade erwartet.

Also machte sie mit ihrer Rechnerei weiter, während er zwischen den Regalen umherging, natürlich ohne einen Korb zu nehmen, typisch Mann, ob sie nun Paul Newman heißen oder ohne Rang und Namen sind: kommen rein, um ein Päckchen Rasierklingen zu kaufen, haben am Ende beide Arme voll beladen, aber ein Korb kommt nicht in Frage. Und sehr leise auf den Füßen, fast lautlos, so leicht ist er. Motorradfahrer stellt man sich in der Regel nicht leise vor.

»Sie kommen also aus dem Norden, junger Mann?« fragte sie ihn.

»Hm, ja nun, ich fürchte, Sie haben recht.«

»Da gibt es doch nichts zu fürchten, mein Lieber. Aus dem Norden kommen viele nette Leute, und hier unten gibt es viele, die von mir aus gern in den Norden gehen könnten.« Keine Antwort. Zu beschäftigt mit den Keksen. Und seine Hände, stellte sie fest, als er jetzt die Handschuhe auszog - tadellos in Ordnung. Gepflegte Hände hatte sie gern. »Woher kommen Sie denn genau? Doch hoffentlich aus einer schönen Gegend.«

»Nun, eigentlich nirgendwoher«, bekannte er denkbar dreist, nahm zwei Schachteln Vollkornkekse und eine mit Crackern und studierte die Etiketten, als ob er so was noch nie gesehen hätte.

»Sie können doch nicht aus Eigentlich Nirgendwoher kommen, mein Bester«, wendete Mrs. Trethewey ein und beobachtete ihn, wie er an den Regalen entlangging. »Sie mögen ja nicht aus Cornwall sein, aber vom Himmel sind Sie bestimmt nicht gefallen. Also, woher kommen Sie?«

Die Dorfbewohner horchten sofort auf, wenn Mrs. Trethewey ihre strenge Stimme bekam. Jonathan dagegen lächelte lediglich. »Ich habe im Ausland gelebt«, erklärte er, als wolle er sie aufheitern. »Ich bin so einer, der zurückgekehrt ist.«

Und seine Stimme, genauso wie seine Hände und Schuhe, berichtete sie: überaus gepflegt.

»Wo denn im Ausland, mein Bester?« wollte sie wissen. »Es gibt mehr als ein Ausland, sogar für uns hier unten. So primitiv sind wir nun doch nicht, auch wenn viele das denken, möchte ich meinen.«

Aber sie kam nicht an ihn heran, sagt sie. Er stand einfach da und nahm lächelnd mit der Ruhe eines Jongleurs Tee und Thunfisch und Haferkuchen, und jedesmal, wenn sie ihm eine Frage stellte, kam sie sich vorlaut vor.

»Nun, ich bin der, der das Haus am Lanyon gemietet hat«, sagt er.

»Das heißt also, daß Sie komplett verrückt sind, mein Lieber«, sagte Ruth Trethewey behaglich. »Nur ein Verrückter möchte da draußen am Lanyon wohnen und den ganzen Tag mitten auf dem Felsen hocken.«

Und diese Geistesabwesenheit bei ihm, sagt sie. Ja, er war natürlich ein Seemann, das wissen wir jetzt, auch wenn er es mißbraucht hat. Dieses erstarrte Grinsen, mit dem er die Obstkonserven studierte, als wollte er sie auswendig lernen. Ausweichend war er, ganz genau. Schlüpfrig wie ein Stück Seife in der Badewanne. Man glaubte ihn zu haben, und schon flutschte er einem durch die Finger. Er hatte irgend etwas an sich, mehr weiß ich auch nicht.

»Ich nehme an, Sie werden doch wenigstens einen Namen haben, wenn Sie zu uns ziehen wollen«, sagte Mrs. Trethewey in irgendwie entrüsteter Verzweiflung. »Oder haben Sie den im Ausland gelassen, als sie nach Hause gekommen sind?«

»Linden«, sagte er und holte das Geld heraus. »Jack Linden. Mit i und e«, fügte er hilfsbereit hinzu. »Nicht zu verwechseln mit Lyndon mit y.«

Sie erinnerte sich, wie sorgfältig er alles in die Satteltaschen packte, etwas auf diese Seite, etwas auf die andere Seite, als ob er die Ladung in einem Boot verstaute. Dann trat er auf den Kickstarter und hob zum Abschied den Arm. Du bist Linden vom Lanyon, beschloß sie, während sie beobachtete, wie er auf die Kreuzung zufuhr und sich elegant in die Linkskurve legte. Aus Eigentlich Nirgendwoher.

»Ich hatte einen Mr. Linden-vom-Lanyon-mit-i-und-e im Laden«, erzählte sie Marilyn, als sie nach oben kam. »Und er hat ein Motorrad, das ist größer als ein Pferd.«

»Verheiratet, nehme ich an«, sagte Marilyn, die eine kleine Tochter hatte, aber nie über den Vater reden wollte.

Das also war Jonathan geworden, vom ersten Tag an, bis die Bombe platzte: Linden vom Lanyon, eine dieser rastlosen englischen Seelen, die auf der Flucht vor ihren Geheimnissen und vor sich selbst wie von einem Magneten angezogen immer weiter nach Westen die Halbinsel hinunter ziehen.

Der Rest der im Dorf über ihn vorhandenen Informationen wurde nach und nach mit Hilfe jener fast übernatürlichen Methoden zusammengetragen, die der Stolz eines jeden guten Netzwerks sind. Daß er reich war, was besagen sollte, daß er bar zahlte, und zwar fast übereilig - mit neuen Fünfern und Zehnern, die er wie Spielkarten auf den Deckel von Mrs. Tretheweys Tiefkühltruhe zählte - na, wir wissen, wo er das herhatte, stimmt's? - kein Wunder, daß es Bargeld war!

»Sagen Sie bitte, wann, Mrs. Trethewey«, pflegte Jonathan zu rufen, während er die Banknoten hinblätterte. Eigentlich eine schockierende Vorstellung, daß sie ihm nicht gehörten. Aber Geld stinkt ja bekanntlich nicht.

»Das ist nicht meine Aufgabe, Mr. Linden«, protestierte Mrs. Trethewey, »sondern Ihre. Ich kann alles nehmen, was Sie da haben und mehr.« Auf dem Land wirken Scherze am besten durch Wiederholung.

Daß er sämtliche Fremdsprachen beherrschte oder jedenfalls Deutsch. Denn als Dora Harris im Count House eine deutsche Tramperin hatte, der es ziemlich schlecht ging, bekam Jack Linden irgendwie Wind davon und fuhr zum Count House runter, um mit ihr zu reden, während Mrs. Harris aus Gründen des Anstands auf dem Bett saß. Er blieb, bis Dr. Maddern kam, um ihm die Symptome des Mädchens zu dolmetschen, einige davon waren sehr intim, sagte Dora, aber Jack Linden kannte die Wörter alle. Dr. Maddern sagte, um Wörter wie diese überhaupt zu kennen, müsse er über Spezialwissen verfügen.

Daß er frühmorgens über den Klippenweg spazierte, wie jemand, der nicht schlafen konnte, so daß Pete Hosken und sein Bruder, als sie in der Dämmerung draußen auf See vor Lanyon Head ihre Hummerkörbe einholten, ihn oben am Rand der Klippe sehen konnten: ausschreitend wie ein Soldat, meist mit einem Rucksack auf den Schultern. Und was zum Teufel trug er um diese Tageszeit in einem Rucksack herum? Drogen, nehme ich an. Na, muß ja wohl. Das wissen wir auch.

Und daß er die Klippen wiesen bearbeitete, immer rauf und runter mit der Hacke, bis man glauben konnte, er bestrafe die Erde, aus der er gekommen war: Der Kerl hätte jederzeit als ehrbarer Arbeiter sein Leben fristen können. Er baue Gemüse an, behauptete er, blieb aber nicht lange genug, um es zu essen.

Und hat sein Essen immer selbst gekocht, sagte Dora Harris; ein Feinschmecker, dem Geruch nach zu urteilen, denn wenn der Südwestwind nicht allzu heftig wehte, lief ihr davon noch in einer halben Meile Entfernung das Wasser im Mund zusammen, das sagten auch Pete und sein Bruder auf See.

Und wie nett er zu Marilyn Trethewey war oder wohl eher sie zu ihm - tja, Linden, der war nett zu jedem, bis zu einem gewissen Grade, aber Marilyn hatte drei Winter lang nicht gelacht, erst Jack Linden brachte sie wieder dazu.

Und wie er der alten Bessie Jago mit dem Motorrad zweimal die Woche Lebensmittel aus Mrs. Tretheweys Laden vorbeibrachte - Bessie wohnte an der Ecke zur Lanyon Lande -, wie er alles ordentlich in die Regale einräumte und nicht einfach die Dosen und Schachteln auf den Tisch kippte, damit sie sie dann selbst wegpacken konnte. Und was er ihr alles über sein Haus erzählte, wie er das Dach mit Zement ausbessere und neue Schiebefenster einbaue und den Weg zur Vordertür neu anlege.

Aber das war auch alles, worüber er sprach; kein einziges Wort von sich selbst, wo oder wovon er gelebt hatte, so daß sie nur rein zufällig dahinterkamen, daß er in Falmouth an einem Bootgeschäft beteiligt war, einer Firma namens Sea Pony, die sich auf das Chartern und Vermieten von Segeljachten spezialisiert hatte. Die aber keinen besonders guten Ruf hatte, sagte Pete Pengelly, eher ein Treffpunkt für Möchtegern-Kapitäne und Drogensüchtige aus dem Norden war. Pete sah ihn eines Tages in ihrem vorderen Büro sitzen, als er bei Sparrows Bootsverleih nebenan mit seinem Lastwagen vorfuhr, um einen generalüberholten Außenbordmotor abzutransportieren: Linden saß an einem Tisch, sagte Pete, und sprach mit einem großen, dicken, schwitzenden, bärtigen Kerl mit einer Goldkette um den Hals und krausen Haaren, dem der Laden zu gehören schien. So daß Pete den alten Jason Sparrow ohne Umschweife fragte: Was ist denn aus Sea Pony nebenan geworden, Jason? Sieht aus, als hätte die Mafia den Laden übernommen.

Der eine heißt Linden, der andere Harlow, teilte Jason ihm mit. Linden kommt aus dem Norden, und Harlow, der große Dicke mit Bart, ist Australier. Die beiden haben den Laden gekauft und bar bezahlt, sagte Jason; seitdem haben sie keinen Handschlag getan, haben bloß immer Zigaretten geraucht und sind mit irgendwelchen Hobbyjachten in der Bucht rumgeschippert. Linden, der versteht schon was von Schiffen, räumte Jason ein. Aber dieser Harlow, der Dicke, kann seinen Arsch nicht von einem Ruder unterscheiden. Meistens zanken sie sich, sagte Jason, jedenfalls Harlow. Brüllt rum wie ein Stier. Der andere, Linden, der lächelt bloß immer. Das sind mir zwei Partner, sagte Jason verächtlich.

Dies also war das erste, was sie von Harlow erfuhren. Linden & Harlow, Partner und Feinde.

Eine Woche später, mittags im Snug, trat dieser Harlow dann leibhaftig auf: Einen solchen Fettwanst hatte man noch nicht gesehen, hundertzwanzig, hundertdreißig Kilo. Er kam mit Jack Linden herein und pflanzte sich hinten in die Kiefernholzecke neben die Dartscheibe, wo sonst immer William Charles sitzt. Nahm die ganze verdammte Bank ein und verdrückte drei Fleischpasteten. Und da hockten die beiden, bis das Snug am Nachmittag zumachte, steckten die Köpfe über einer Karte zusammen und murmelten wie zwei verdammte Piraten. Tja, wir wissen, warum. Da haben sie es ausgeheckt.

Und ehe man sich versah, war Harlow tot. Und Jack Linden verschwunden, ohne sich auch nur von irgend jemandem zu verabschieden.

So plötzlich verschwunden, daß die meisten sich nur in der Erinnerung mit ihm beschäftigen konnten. So spurlos verschwunden, daß sie, wären nicht die Zeitungsausschnitte an der Wand des Snug gewesen, womöglich geglaubt hätten, er wäre ihnen nie über den Weg gelaufen, das Lanyon-Tal wäre nie mit orangefarbenen Bändern abgesperrt und von zwei proletenhaften jungen Polizisten aus Camborne bewacht worden, die Kriminalbeamte in Zivil wären nie von der Melkzeit bis zur Abenddämmerung durchs Dorf getrampelt -»drei Wagenladungen von diesen Typen«, sagte Pete Pengelly -, die Journalisten aus Plymouth, sogar aus London, darunter auch ein paar Frauen und einige, die man auch dafür hätte halten können, wären nie herbeigeströmt und hätten mit ihren dummen Fragen nicht jeden gelöchert, von Ruth Trethewey bis zu Slow-and-Lucky, der nicht ganz richtig im Kopf ist und den ganzen Tag mit seinem Schäferhund durch die Gegend läuft: Der Hund ist übrigens genauso bekloppt wie Lucky, nur bissiger: Wie war er gekleidet, Mr. Lucky? Worüber hat er gesprochen? Ist er Ihnen gegenüber denn niemals grob geworden?

»Am ersten Tag konnten wir die verdammten Bullen und Reporter kaum auseinanderhalten«, erinnert Pete sich gern, und alle im Snug lachen. »Wir haben die Reporter mit Sir angeredet und den Bullen gesagt, sie sollten sich verpissen. Am zweiten Tag haben wir dann allen gesagt, sie sollten sich verpissen.«

»Er war's nicht, verdammich«, knurrt der verschrumpelte William Charles von seinem Platz neben der Dartscheibe. »Die haben nie was bewiesen. Es gibt keine Leiche, also gibt's auch keinen Mörder, verdammich. So steht's im Gesetz.«

»Aber sie haben Blut gefunden, William«, sagte Pete Pengellys jüngerer Bruder Jacob, der einen so guten Schulabschluß hatte, daß er studieren konnte.

»Scheißblut«, sagt William Charles. »Ein Blutstropfen hat noch nie was bewiesen. Irgendein Bauerntrampel schneidet sich beim Rasieren, und gleich kommt die Polizei angerannt und nennt Jack Linden einen Mörder. Idiotenvolk.«

»Warum ist er dann weggelaufen? Warum verdrückt er sich mitten in der Nacht, wenn er niemand umgebracht hat?«.

»Idiotenvolk«, wiederholt William Charles wie ein eindrucksvolles Amen.

Und die arme Marilyn, die nun aussah, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden, und den ganzen Tag die Straße raufstarrte, falls sein Motorrad doch noch zurückkam, warum hat er sie verlassen? Sie wollte der Polizei keinen Unsinn erzählen. Sagte, sie hätte nie von ihm gehört, Schluß und aus! Ja, genauso.

Und so geht das weiter, hin und her, ein bunter Strom konfuser Erinnerungen: zu Hause, wo sie hundemüde vom Pflügen vor ihrem flimmernden Fernsehern hocken; an nebligen Abenden im Snug, wo sie ihr drittes Bier schlürfen und die Dielenbretter anstieren. Es dämmert, der Nebel zieht auf und klebt wie Dampf an den Schiebefenstern, kein Lüftchen regt sich. Der Wind hat sich vollständig gelegt, die Krähen werden still. Auf dem kurzen Weg zum Pub riecht es nach warmer Milch aus der Molkerei, Ölöfen, Kohlefeuer, Pfeifenrauch, Silofutter und Seetang aus dem Lanyon. Ein Hubschrauber tuckert zu den Scillys. Ein Tanker tutet im Nebel. Die Kirchenglocken dröhnen im Ohr wie ein Gong am Boxring. Alles ist separat, jeder Geruch einzeln, jedes Geräusch, jedes Stück Erinnerung. Ein Schritt auf der Straße knackt wie ein brechendes Genick.

»Ich sage dir eins, Junge«, legt Pete Pengelly los, als ob er sich in ein lebhaftes Streitgespräch einmischt, und dabei hat seit Minuten niemand ein Wort gesagt. »Jack Linden muß einen verdammt guten Grund gehabt haben. Jack hat für alles, was er getan hat, einen Grund gehabt. Sag bloß, das ist nicht wahr.«

»Von Fischen hat er auch was verstanden«, räumt der junge Jacob ein, der wie sein Bruder kleine Boote aus dem Porthgwarra holt. »Einmal samstags ist er mit uns raus, stimmt's, Pete? Vorher nie mit ihm gesprochen. Sagt, er will'n Fisch mit nach Hause nehmen. Ich biet ihm an, ihn für ihn auszunehmen, stimmt's? Ah, das mach ich selbst, sagt er. Und löst den Fisch gleich von den Gräten, einfach so. Haut, Kopf, Schwanz, Fleisch. Macht das sauberer als 'ne Robbe.«

»Und Segeln könnt er! Ganz allein von den Kanalinseln nach Falmouth, und das bei 'nem halben Orkan!«

»Der Australier hat nur bekommen, was er verdient«, sagt eine Stimme aus der Ecke. »So ein ungehobelter Klotz, und Jack hat immer bloß gelächelt. Hast du mal seine Hände gesehen, Pete? Lieber Gott, die waren groß wie Kürbisse.«

Ruth Trethewey ist fürs Philosophische zuständig, obwohl Ruth nie über die Marilyn-Seite der Geschichte spricht und jeden zum Schweigen bringt, der in ihrer Gegenwart davon anfängt: »Jeder Mensch hat seinen persönlichen Teufel, der irgendwo auf ihn lauert«, erklärt Ruth, die seit dem Tod ihres Mannes gelegentlich die männliche Vorherrschaft im Snug durchbricht. «Es gibt hier heute abend keinen Mann, in dem nicht ein Mörder steckte, wenn ihn der Falsche reizt. Und selbst wenn du Prince Charles bist, das ist mir egal. Jack Linden war einfach zu höflich, das konnte nicht gutgehen. Alles, was er in sich verschlossen hatte, ist auf einmal rausgekommen.«

»Jack Linden, hol dich der Teufel«, erklärt Pete Pengelly plötzlich mit vom Trinken geröteten Gesicht, während die anderen in respektvollem Schweigen dasitzen, wie immer, wenn Ruth Trethewey eine ihrer Ansichten verkündet hat. »Wenn du heut abend hier reinkommst, spendier ich dir ein Bier, Mann, und schüttel dir, verdammt noch mal, die Hand genauso, wie ich es an dem Abend damals gemacht hab.«

Und am nächsten Tag ist Jack Linden vergessen, vielleicht für Wochen. Seine erstaunliche Seereise ist ebenso vergessen wie das Geheimnis der beiden Männer, die ihn mit einem Rover am Abend vor seinem Verschwinden am Lanyon besucht haben sollen - und einige Male vorher, wie ein paar Leute behaupten, die es wissen sollten.

Aber die Zeitungsausschnitte hängen im Snug noch immer an der Wand, die graublauen Klippen des Lanyon-Tals tropfen und dampfen noch immer in dem scheußlichen Wetter, das ewig über ihnen zu hängen scheint: Ginster und Narzissen blühen noch immer Seite an Seite an den Ufern des Lanyon, der zur Zeit nicht breiter ist als ein ordentlicher Schritt. Daneben schlängelt sich der dunkle Weg bis zu dem geduckten Haus, das Jack Lindens Zuhause gewesen war. Noch immer fahren die Fischer in weitem Bogen um Lanyon Head herum, wo bei Ebbe braune Felsen wie Krokodile im Wasser lauern und die Strömung einen auch an den ruhigsten Tagen runterziehen kann, so daß jedes Jahr irgendein Trottel aus dem Norden, der mit seiner Freundin im Gummiboot da rausfährt, um nach Wrackteilen zu tauchen, dort für immer ins Wasser springt oder vom Rettungshubschrauber aus Culdrose in Sicherheit gebracht werden muß.

Leichen, so sagt man im Dorf, hat es in der Lanyon-Bucht schon immer gegeben, lange bevor Jack Linden seinen bärtigen Australier dazuwarf.

Und Jonathan?

Jack Linden war für ihn genauso ein Rätsel wie für das Dorf. Es nieselte grau, als er die Vordertür des Hauses auftrat und die Satteltaschen auf die nackten Dielen warf. In fünf Stunden war er dreihundertfünfzig Meilen gefahren. Doch als er in seinen Motorradstiefeln von einem trostlos kahlen Raum zum anderen stapfte und aus den eingeschlagenen Fenstern auf die apokalyptische Landschaft blickte, lächelte er wie jemand, der den Palast seiner Träume gefunden hat. Ich bin auf dem Weg, dachte er. Auf dem Weg zu mir selbst, dachte er und erinnerte sich an den Schwur, den er in Meisters Weinkeller getan hatte. Auf dem Weg, die fehlenden Teile seines Lebens zu entdecken. Mit Sophie ins reine zu kommen.

Seine Ausbildung in London gehörte zu einem anderen Teil seiner Erinnerungen: die Gedächtnisspiele, die Kameraspiele, die Kommunikationsspiele, die endlose Berieselung von Burrs methodischen Belehrungen: Seien Sie dies und niemals das, seien Sie natürlich, aber etwas mehr. Die Pläne dieser Leute faszinierten Jonathan, er genoß ihre Raffinesse und die ständige Querdenkerei.

»Wir rechnen damit, daß Linden die erste Runde durchhält«, hatte Burr durch Rookes Pfeifenqualm gesagt, als die drei Männer in dem spartanischen Ausbildungshaus am Lisson Grove zusammensaßen. »Danach denken wir uns eine neue Identität für Sie aus. Sie wollen noch immer mitmachen?«

Ah, und ob er wollte! Mit neu entflammtem Pflichtgefühl wirkte er heiter an seiner bevorstehenden Vernichtung mit und steuerte eigene Ideen bei, die ihm dem Original mehr zu entsprechen schienen.

»Sekunde mal, Leonard. Ich bin auf der Flucht, die Polizei ist hinter mir her, okay? Sie sagen, ich soll mich nach Frankreich absetzen. Aber ich war doch in Irland. Ich würde, wenn's brenzlig wird, niemals über die Grenze gehen.«

Und sie hörten auf ihn und bewilligten ihm eine höllisch riskante zusätzliche Woche im Versteck und waren beeindruckt und sagten das auch hinter seinem Rücken.

»Halt ihn an der kurzen Leine«, empfahl Rooke Burr in seiner Rolle als Verwalter von Jonathans Armee-Vorleben. »Nicht verhätscheln. Keine Extrawürste. Keine überflüssigen Frontbesuche, um ihn aufzumuntern. Wenn er es nicht schafft, ist es besser, wenn wir es so früh wie möglich herausbekommen.«

Aber Jonathan schaffte es. Er hatte es immer geschafft. Entbehrung war sein Element. Er sehnte sich nach einer Frau, einer Frau, die er erst noch kennenlernen mußte, einer Frau, die eine Mission hatte wie er selbst, keine leichtfertige Reiterin mit einem reichen Gönner, sondern eine Frau mit Sophies Würde und Herz und Sophies ganzer Sexualität. Wenn er bei seinen Klippenspaziergängen um eine Ecke kam, ließ ein Lächeln entzückten Erkennens sein Gesicht bei der Vorstellung erstrahlen, daß dieses ihm bisher noch nicht begegnete Muster an weiblicher Tugend irgendwo auf ihn wartete: O hallo, Jonathan, du bist es.

Doch allzu oft, wenn er ihre Züge genauer studierte, sah sie Jed beunruhigend ähnlich: Jeds unberechenbarer, vollkommener Körper. Jeds Lächeln, das ihn verfolgte.

Zum ersten Mal besuchte Marilyn Trethewey Jonathan, um eine Kiste Mineralwasser zu liefern, die zu groß für sein Motorrad war. Sie war gut gebaut wie ihre Mutter, hatte ein energisches Kinn und tiefschwarzes Haar wie Sophie, rote kornische Wangen und kräftige, feste Brüste, denn sie konnte keinen Tag älter als zwanzig sein. Wenn er sie, immer allein, hinter dem Kinderwagen über die Dorfstraße laufen oder im Laden ihrer Mutter einsam an der Kasse stehen sah, fragte Jonathan sich, ob sie ihn überhaupt wahrnahm, oder ob sie nur den Blick auf ihm ruhen ließ, während sie in Gedanken etwas ganz anderes sah.

Sie bestand darauf, die Kiste mit den Flaschen selbst zur Vordertür zu tragen, und als er ihr helfen wollte, wies sie ihn ab. Also blieb er auf der Schwelle stehen, während sie ins Haus ging und die Kiste auf den Küchentisch stellte; bevor sie wieder nach draußen kam, sah sie sich lange im Wohnzimmer um.

»Sie müssen Fuß fassen«, hatte Burr ihm geraten. »Sich ein Gewächshaus kaufen, einen Garten anlegen, lebenslange Freundschaften schließen. Wir müssen wissen, daß Sie sich losreißen mußten. Wenn Sie ein Mädchen finden, das Sie sitzenlassen können, um so besser. In einer perfekten Welt würden Sie ihr ein Kind machen.«

»Vielen Dank .«

Jonathans Tonfall ließ Burr aufhorchen, und er sah ihn rasch von der Seite an. »Was ist denn los? Haben wir uns etwa gelobt, im Zölibat zu leben? Diese Sophie hat es Ihnen ja wirklich angetan, was?«

Ein paar Tage später tauchte Marilyn wieder auf, diesmal hatte sie nichts abzuliefern. Und statt wie sonst in Jeans und schmuddeligem Oberteil kam sie jetzt in Rock und Jacke, als hätte sie einen Termin bei ihrem Anwalt. Sie läutete, und als er die Tür aufmachte, sagte sie: »Sie schicken mich nicht weg, ja?« Also trat er einen Schritt zurück und ließ sie an sich vorbei, und sie stellte sich mitten in das Zimmer, wie um seine Vertrauenswürdigkeit zu testen. Er sah, daß die Spitzenärmel ihrer Bluse knitterten, und ihm war klar, daß es sie viel Überwindung gekostet hatte, so weit zu gehen.

»Es gefällt Ihnen hier, oder?« fragte sie ihn auf ihre herausfordernde Art. »So ganz allein?» Sie besaß den Scharfblick und die unverbildete Klugheit ihrer Mutter.

»Es macht mir Spaß«, sagte Jonathan, zu seiner Hotelierstimme Zuflucht nehmend.

»Und was machen Sie hier? Sie können doch nicht den ganzen Tag in die Glotze starren. Sie haben ja gar keine.«

»Lesen. Wandern. Hier und da ein paar Geschäfte machen.« Und jetzt geh, dachte er, hob die Augenbrauen und sah sie verkrampft lächelnd an.

»Sie malen auch?« sagte sie und betrachtete die Aquarelle, die auf dem Tisch vor dem zur See blickenden Fenster ausgebreitet waren.

»Ich versuch's.«

»Ich kann malen.» Sie untersuchte die Pinsel, prüfte ihre Form und Elastizität. »Ich war gut im Malen. Hab sogar Preise gewonnen.«

»Warum malen Sie dann nicht jetzt?« fragte Jonathan.

Er hatte das als Frage gemeint, doch zu seinem Schreck faßte sie es als Einladung auf. Schon hatte sie den Wassertopf in die Spüle entleert und neu gefüllt, und nun setzte sie sich an seiner Tisch, nahm einen frischen Bogen Zeichenpapier, schob sich die Haare hinter die Ohren und nahm nichts mehr wahr außer ihrer Arbeit. Und mit dem langen Rücken, den sie ihm zuwandte, und dem schwarzen Haar, das darüberfiel, und dem Sonnenlicht vom Fenster, das auf ihrem Scheitel glänzte, war sie Sophie, sein anklagender Engel.

Er sah ihr eine Zeitlang zu und hoffte, die Assoziation möge vergehen, aber sie blieb, so daß er nach draußen ging und bis zum Einbruch der Dunkelheit im Garten grub. Als er zurückkam, wischte sie gerade den Tisch ab, so wie sie es auch in der Schule getan hatte. Dann lehnte sie ihr noch nicht fertiges Bild an die Wand; es zeigte weder See noch Himmel, noch Kliff, sondern ein dunkelhaariges, lachendes Mädchen -Sophie als Kind, zum Beispiel, Sophie, lange bevor sie ihren perfekten englischen Gentleman wegen seines Passes geheiratet hatte.

»Kann ich morgen wiederkommen?« fragte sie auf ihre knappe, aggressive Art.

»Sicher. Wenn Sie wollen. Warum nicht?« sagte der Hotelier und nahm sich vor, morgen nach Falmouth zu fahren. »Falls ich weg muß, laß ich die Tür offen.«

Und als er aus Falmouth zurückkam, fand er das Bild des Mädchens und einen Zettel mit der schroffen Mitteilung, es sei für ihn. Danach kam sie fast jeden Nachmittag, und wenn sie genug gemalt hatte, setzte sie sich im gegenüber in den Sessel am Kamin und las seinen Guardian.

»Die Welt ist ganz schön aus den Fugen geraten, stimmt's, Jack?« meinte sie, mit der Zeitung raschelnd. Er hörte sie lachen, und auch im Dorf begann man das zu hören. »Der reinste Schweinestall, Jack Linden. Das können Sie mir glauben.«

»Ich glaub's«, versicherte er, sorgsam bedacht, ihr Lächeln nicht zu lange zu erwidern. »Das glaub ich unbedingt, Marilyn.« Aber er wünschte nun dringend, sie würde gehen. Ihre Verletzbarkeit machte ihm angst. Wie die Distanz, die er ihr gegenüber empfand. Nicht in tausend Jahren. Ich schwör's, versicherte er Sophie in Gedanken.

Nur frühmorgens, denn meist erwachte er im Morgengrauen, drohte Jonathans Entschlossenheit zum Einsatz gelegentlich ins Wanken zu geraten, und für eine düstere Stunde wurde er zum Spielball einer Vergangenheit, die noch weit hinter den Verrat an Sophie zurückreichte. Er erinnerte sich an das Kratzen der Uniform auf seiner kindlichen Haut und das Schaben das Khakikragens am Hals. Er sah sich auf der Eisenpritsche in seiner Kaserne schlafen, wobei er angespannt auf das Wecksignal und die ersten im Falsetto gebrüllten Tagesbefehle wartete: Steh nicht rum wie ein verdammter Butler, Pine, nimm die Schultern zurück, Junge! Ganz zurück! Weiter! Er durchlebte all seine Ängste von neuem: vor dem Spott, wenn er versagte, und dem Neid, wenn ihm etwas gelang; vor dem Exerzierplatz, dem Sportplatz und dem Boxring; vor dem Erwischtwerden, wenn er sich zum Trost etwas stahl - ein Taschenmesser, ein Foto der Eltern eines Kameraden; vor seiner Angst zu versagen, denn dies bedeutete, daß er dabei versagte, sich beliebt zu machen; davor, zu spät oder zu früh zu kommen, zu sauber, nicht sauber genug zu sein, zu laut, zu leise, zu unterwürfig, zu frech. Er erinnerte sich, daß er lernen mußte, Tapferkeit als Alternative zu Feigheit zu betrachten. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er zum erstenmal zurückschlug, und an den Tag, an dem er selbst als erster zuschlug, als er sich selbst beibrachte, aus Schwäche Stärke zu machen. Er erinnerte sich an seine ersten Frauen, die auch nicht anders waren als die späteren, jede neue eine größere Enttäuschung als die letzte, während er sich abmühte, sie in den himmlischen Status der Frau zu erheben, die er nie gehabt hatte.

An Roper dachte er unablässig - er brauchte ihn nur aus der Erinnerung hervorzuholen, um aufwallende Tatkraft und Entschlossenheit zu spüren. Er konnte weder Radio hören noch die Zeitung lesen, ohne nicht sogleich bei jedem Konflikt Ropers heimliches Wirken zu erkennen. Wenn er von einem Massaker an Frauen und Kindern in Osttimor las, hatten Ropers Gewehre die Greueltaten begangen. Wenn in Beirut eine Autobombe explodierte, hatte Roper sie geliefert, und vermutlich auch das Auto dazu: Bin dagewesen, kenne den Film, danke.

Nach Roper selbst waren es Ropers Leute, die zum Gegenstand seiner faszinierten Entrüstung wurden. Er dachte an Major Corkoran alias Corky alias Corks in seinem schmierigen Schal und den scheußlichen Wildlederstiefeln; Corky der Unterzeichner, Corky, der fünfhundert Jahre Gefängnis bekommen konnte, wann immer Burr sich dafür entschied.

Er dachte an Frisky und Tabby und die anderen zwielichtigen Trabanten: Sandy Lord Langbourne mit dem im Nacken zusammengebundenen goldblonden Haar. Dr. Apostoll auf seinen Plateausohlen, dessen Tochter sich wegen einer Cartier-Uhr umgebracht hatte; MacArthur und Danby, die in graue Anzüge gekleideten Manager-Zwillinge von der beinahe anständigen Seite des Unternehmens: bis der Roper-Clan für ihn zu einer Art monströser Königlichen Familie wurde, mit Jed als First Lady im Turm.

»Wieviel weiß sie von seinen Geschäften?« hatte Jonathan Burr einmal gefragt.

Burr zuckte die Achseln. »Der Roper ist weder ein Angeber noch ein Schwätzer. Keiner weiß mehr, als er wissen muß. Nicht bei unserem Dicky.«

Ein Heimatloser aus der Oberklasse, dachte Jonathan. In Klosterschulen erzogen. Verschmähtes Vertrauen. In der Kindheit eingesperrt wie ich.

Jonathans einziger Vertrauter war Harlow, doch bei solchen Einsätzen sind dem gegenseitigen Vertrauen Grenzen gesetzt. »Harlow ist bloß ein Statist«, erinnerte ihn Rooke bei einem nächtlichen Besuch am Lanyon. »Er ist nur da, um von Ihnen getötet zu werden. Er kennt das Ziel nicht und braucht es auch nicht zu kennen. Lassen Sie es dabei.«

Trotzdem waren der Mörder und sein Opfer auf dieser Etappe der Reise Verbündete, und Jonathan bemühte sich um eine Beziehung zu ihm.

»Sind Sie verheiratet, Jumbo?«

Sie waren von ihrem planmäßigen Auftritt im Snug zurück und saßen jetzt an dem geschrubbten Kieferntisch in Jonathans Küche. Jumbo schüttelte bedauernd den Kopf und nahm einen Schluck Bier. Er war eine schüchterne Seele, wie große Männer es häufig sind, ein Schauspieler oder gestrandeter Opernsänger mit einem gewaltigen Brustkasten. Den schwarzen Bart, vermutete Jonathan, hatte er sich eigens für diese Rolle wachsen lassen, und gleich nach dem Ende der Vorstellung würde er ihn dankbar wieder abnehmen. War Jumbo wirklich Australier? Es tat nichts zur Sache. Er war überall heimatlos.

»Ich bitte mir eine Luxusbestattung aus, Mr. Linden«, sagte Jumbo ernst. »Schwarze Pferde, eine glänzende Kutsche und einen neunjährigen Lustknaben mit Zylinder. Auf Ihr Wohl.«

»Auf das Ihre, Jumbo.«

Als er die sechste Dose geleert hatte, schlug Jumbo auf seine blaue Jeansmütze und schleppte sich zur Tür. Jonathan sah seinen klapprigen Landrover über den gewundenen Weg davonrumpeln.

»Wer war das denn?« fragte Marilyn, die mit zwei frischen Makrelen hereinkam.

»Ah, bloß mein Geschäftspartner«, sagte Jonathan.

»Also für mich hat er eher ausgesehen wie Godzilla in einer dunklen Nacht.«

Sie wollte die Fische braten, aber er zeigte ihr, wie man sie mit frischem Dill und Gewürzen in Alufolie backen konnte. Als sie es einmal wagte, ihm die Schürze umzubinden, streifte ihr kräftiges Haar seine Wange, und er wartete auf den Duft von Vanille. Laß die Finger von mir. Ich bin ein Verräter. Ein Mörder. Geh nach Hause.

Eines Nachmittags flogen Jonathan und Jumbo von Plymouth nach Jersey und zogen eine Show mit der Besichtigung einer Acht-Meter-Jacht ab, die dort am Ende des kleinen Hafens von St. Helier vertäut lag. Die Reise, wie auch ihr gemeinsames Auftreten im Snug, galt nur dem Zweck, gesehen zu werden. Am Abend flog Jumbo allein zurück.

Die inspizierte Jacht hieß Ariadne und war dem Logbuch zufolge zwei Wochen zuvor aus Roscoff gekommen, ein Franzose namens Lebray hatte sie gesegelt. Davor war sie in Biarritz gewesen und davor auf hoher See. Jonathan brachte zwei Tage damit zu, sie auszurüsten, Proviant zu beschaffen und den Kurs auszuarbeiten. Am dritten Tag segelte er los, um sich mit dem Schiff vertraut zu machen und die Kurswechsel festzulegen, denn auf See wie an Land verließ er sich nur auf seine eigene Arbeit. Im Morgengrauen des vierten Tages setzte er dann Segel. Die Wettervorhersage für dieses Gebiet war gut, der Wind kam aus Südwest, und er steuerte vierzehn Stunden lang mit konstant vier Knoten auf Falmouth zu. Gegen Abend jedoch frischte der Wind auf und erreichte bis Mitternacht Stärke sechs oder sieben, so daß eine starke Grundsee die Ariadne zum Stampfen brachte. Jonathan reffte die Segel und kreuzte vor dem Wind in Richtung Plymouth, um dort Schutz zu suchen. Als er den Eddystone-Leuchtturm passierte, drehte der Wind auf West und schwächte sich ab, so daß er wieder Kurs auf Falmouth nahm und, um dem schweren Wetter zu entgehen, dicht an der Küste hart am Wind in westlicher Richtung lavierte. Als er in den Hafen einlief, war er, ohne zu schlafen, zwei anstrengende Nächte durchgesegelt. Manchmal hatten ihn die Geräusche des Sturms fast taub gemacht. Manchmal hatte er überhaupt nichts gehört und sich gefragt, ob er tot sei. Die schweren Wellen und das Kreuzen gegen den Wind hatten ihn herumgeworfen wie einen Kieselstein, seine Knochen knackten wie die eines alten Mannes, und sein Schädel tönte hohl von der Einsamkeit der See. Aber während der ganzen Fahrt hatte er an nichts gedacht, wie er sich hinterher erinnerte. Nur an sein Überleben. Sophie hatte recht. Er hatte eine Zukunft.

»Schöne Fahrt gehabt?« fragte Marilyn und starrte ins Kaminfeuer. Sie hatte die Strickjacke ausgezogen. Darunter trug sie eine ärmellose Bluse, die am Rücken zugeknöpft war.

»Nur ein kleiner Ausflug ins Landesinnere.«

Sie sah zu ihm hinüber, und er erkannte mit Schrecken, daß sie den ganzen Tag auf ihn gewartet hatte. Auf dem Kaminsims stand ein neues Bild, dem ersten sehr ähnlich. Sie hatte ihm Obst mitgebracht und Freesien für die Vase.

»Ah, danke sehr«, sagte er höflich. »Sehr nett von Ihnen. Danke.«

»Sie wollen mich also, Jack Linden?«

Sie hob die Hände in den Nacken und öffnete die oberen zwei Knöpfe ihrer Bluse. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und lächelte. Sie begann zu weinen, und er wußte nicht, was er tun sollte. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, führte sie zum Lieferwagen und ließ sie dort allein, bis sie sich ausgeweint hatte und nach Hause fahren konnte.

An diesem Abend überkam Jonathan ein geradezu metaphysisches Gefühl seiner Unsauberkeit. In seiner extremen Einsamkeit gelangte er zu der Überzeugung, daß der vorgetäuschte Mord, den er begehen sollte, so etwas wie eine Projektion der echten Morde war, die er in Irland schon begangen hatte, und des echten Mordes, den er an Sophie begangen hatte, und daß die Feuerprobe, die ihn erwartete, nur der Vorgeschmack einer lebenslänglichen Buße sein würde.

In den Tagen, die ihm noch blieben, erfüllte ihn eine leidenschaftliche Liebe für den Lanyon, und er erfreute sich an der Vollkommenheit in immer neuen Einzelheiten: Die Seevögel, wo immer sie sich niederließen, saßen stets am rechten Ort; die mit dem Wind schwebenden Falken; die untergehende Sonne, die in einer schwarzen Wolke verschwand; die Flotten kleiner Boote, die sich über den Untiefen zusammendrängten, und die Möwenschwärme über ihnen. Und wenn es dunkel wurde, waren die Boote wieder da, eine winzige Stadt mitten im Meer. Mit jeder letzten Stunde wurde der Drang, in dieser Landschaft aufzugehen - in ihr unterzutauchen, in ihr begraben zu sein -, beinahe unerträglich.

Ein Sturm zog auf. Jonathan zündete in der Küche eine Kerze an und starrte an ihr vorbei in die wirbelnde Nacht; der Wind knatterte in den Fensterrahmen und brachte das Schieferdach zum Rattern wie eine Uzi. Als der Sturm sich am frühen Morgen legte, wagte Jonathan sich nach draußen und schritt über das Schlachtfeld der vergangenen Nacht; dann sprang er wie Lawrence von Arabien ohne Helm auf sein Motorrad, fuhr zu einer der alten Hügelfestungen hinauf und suchte die Küstenlinie ab, bis er den Lanyon gefunden hatte. Meine Heimat. Das Kliff hat mich akzeptiert. Hier will ich bleiben. Und anständig sein.

Aber seine Schwüre waren umsonst. Der Soldat in ihm polierte schon die Stiefel für den langen Marsch gegen den schlimmsten Mann der Welt.

Während dieser letzten Tage, die Jonathan in seinem Haus verbrachte, begingen Pete Pengelly und sein Bruder Jacob den Fehler, am Lanyon mit Lampen auf Jagd zu gehen.

Pete erzählt die Geschichte nur vorsichtig, und in Gegenwart anderer Gäste erzählt er sie gar nicht, denn sie ist mit einem Geständnis und einem gewissen reumütigen Stolz verbunden. Mit Lampen auf Kaninchenjagd zu gehen ist in dieser Gegend ein seit über fünfzig Jahren geheiligter Sport. Ausgerüstet mit zwei Motorradbatterien, die man sich in einem kleinen Kasten um die Hüfte schnallt, einem alten Autoscheinwerfer mit scharf gebündeltem Strahl und einigen Sechs-Volt-Ersatzbirnen, kann man eine ganze Versammlung von Kaninchen lange genug hypnotisieren, um sie reihenweise abzuknallen. Weder Gesetz noch Bataillone streitbarer Damen in braunen Baskenmützen und Söckchen haben je vermocht, dem Einhalt zu gebieten, und der Lanyon ist seit Generationen ein beliebtes Jagdrevier - oder war es jedenfalls bis zu jener Nacht im März, als vier Mann unter der Führung von Pete Pengelly und seinem jüngeren Bruder Jacob mit Gewehren und Lampen dort hinaufkamen.

Sie parkten vor Lanyon Rose und schlichen dann am Fluß entlang. Pete schwört bis zum heutigen Tag, sie selbst seien leise wie die Kaninchen gewesen und hätten nicht die Lampen benutzt, sondern sich ihren Weg im Licht des Vollmonds gesucht, eben deswegen hätten sie ja gerade diese Nacht gewählt. Doch als sie geduckt, um nicht über den Horizont zu ragen, auf dem Kliff auftauchten, stand dort kein halbes Dutzend Schritte oberhalb von ihnen Jack Linden, die bloßen Hände seitlich ausgestreckt. Kenny Thomas redete hinterher viel von diesen Händen, so bleich und auffallend im Mondlicht, aber das war nur die Folge der besonderen Situation. Klügere Köpfe erinnern sich, daß Jack Linden keine großen Hände gehabt hatte. Pete erzählt lieber von Lindens Gesicht, das wie ein verdammter Granitklotz vorm Himmel stand, wie er sich ausdrückt. Da hätte man sich die Faust dran gebrochen. Über das, was dann geschah, gibt es keine Meinungsverschiedenheiten.

»Entschuldigung, aber wo möchten die Herren hin, wenn ich fragen darf?« sagt Linden mit der üblichen Höflichkeit, aber ohne zu lächeln.

»Auf die Jagd«, sagt Pete.

»Hier geht niemand mit Lampen auf die Jagd, tut mir leid, Pete«, sagt Linden, der Pete Pengelly nur ein paarmal gesehen hatte, aber anscheinend nie einem Namen vergaß. »Dieses Gelände gehört mir, das wissen Sie. Ich baue nicht darauf an, aber es gehört mir, und ich lasse es eben, so wie es ist. Und das erwarte ich auch von anderen Leuten. Aus Ihrer Jagd wird also leider nichts.«

»Ach ja, ach ja, Mr. Linden?« sagt Pete Pengelly.

»Jawohl, Mr. Pengelly. Ich dulde es nicht, daß auf meinem Land in der Schonzeit Wild geschossen wird. Das ist nicht fair. Würden Sie nun bitte die Patronen aus Ihren Waffen nehmen, zum Auto zurückgehen und nach Hause fahren? Sie sind mir doch nicht böse?«

Worauf Pete sagt: »He, du kannst mich mal«, und die anderen drei sich an seine Seite drängen, so daß sie als geschlossener Trupp zu Linden aufblicken - vier Gewehre gegen einen Mann mit dem Mond im Rücken. Sie waren direkt aus dem Snug gekommen, und ein paar Biere hatten sie stark gemacht.

»Aus dem Weg, verdammich, Mr. Linden«, sagt Pete.

Dann machte er den Fehler, mit dem Gewehr unterm Arm herumzufuchteln. Nicht daß er auf Linden gezielt hätte, er schwor, so was hätte er nie getan, und wer Pete kannte, glaubte ihm das auch. Und das Gewehr war gesichert: Pete würde nie im Leben nachts mit geladenem und entsichertem Gewehr durch die Gegend laufen, sagt er. Trotzdem kann es sein, daß er, als er zum Beweis seiner Entschlossenheit damit herumfuchtelte, versehentlich den Hahn gespannt hat, das gibt er ohne weiteres zu. Pete behauptet nicht, er könne sich genau und vollständig an alles erinnern, was passiert ist, denn inzwischen stand die Welt für ihn auf dem Kopf, der Mond schwamm im Meer, der Arsch klebte ihm am Hinterkopf, und die Füße klebten ihm am Arsch, und die erste nützliche Erkenntnis, die Pete zusammenbrachte, war die, daß Linden plötzlich über ihm stand und die Patronen aus seinem Gewehr leerte. Und da es zutrifft, daß große Männer schwerer stürzen als kleine, war Pete sogar sehr schwer gestürzt, und der Schlag, wo immer er ihn getroffen haben mochte, hatte ihm nicht nur den Atem genommen, sondern auch den Willen aufzustehen.

Das Ethos der Gewalt verlangte, daß nun die anderen dran waren, immerhin waren sie noch zu dritt. Die beiden Thomas-Brüder waren schon immer schnell mit den Fäusten gewesen, und der junge Jacob spielte als Flügelstürmer bei den Pirates und war breit wie ein Bus. Und Jacob war schon drauf und dran, seinem Bruder zu Hilfe zu eilen. Doch Pete, der im Farnkraut lag, hielt ihn davon ab.

»Rühr ihn nicht an, Junge. Komm ihm bloß nicht zu nahe, verdammich. Der Kerl muß ein Zauberer sein. Wir gehen jetzt alle zum Wagen«, sagte er und rappelte sich mühsam hoch.

»Erst bitte die Patronen aus den Gewehren«, sagte Linden.

Da Pete Pengelly nickte, nahmen die drei Männer die Patronen aus den Gewehren. Dann marschierten alle vier zum Auto zurück.

»Ich hätte die Sau umgebracht!« protestierte Jacob, nachdem sie losgefahren waren. »Ich hätte ihm sämtliche Knochen gebrochen, Pete, nach dem, was er dir angetan hat!«

»Nein, das hättest du nicht, mein Lieber«, gab Pete zurück. »Sondern er hätte dir die Knochen gebrochen, glaub mir.«

Und seit dieser Nacht war Pete Pengelly ein anderer Mensch, sagen die Leute im Dorf, auch wenn sie vielleicht ein wenig zu voreilig Ursache und Wirkung verknüpfen. Im folgenden September heiratete Pete eine vernünftige Bauerntochter aus St. Just. Deshalb kann er mit einer gewissen Distanz auf die Episode zurückblicken und von der Nacht erzählen, in der Jack Linden ihn um ein Haar kaltgemacht hätte, wie er dann den fetten Australier kaltmachte.

»Ich sag dir eins, Junge. Wenn Jack ihn wirklich umgebracht hat, dann hat er saubere Arbeit geleistet, das steht mal fest.«

Aber die Sache fand ein besseres Ende, auch wenn Pete das manchmal für sich behält, als sei es zu kostbar, um es mit anderen zu teilen. Am Abend vor seinem Verschwinden kam Jack Linden in den Snug, legte Pete Pengelly eine bandagierte Hand auf die Schulter und spendierte ihm doch verdammt noch mal ein Bier. Sie sprachen zehn Minuten miteinander, dann ging Jack Linden nach Hause. »Er hat das mit sich ins reine gebracht«, behauptet Pete stolz. »Jetzt hör mir mal gut zu, Junge. Jack Linden hat seine Angelegenheiten geregelt, nachdem er den verdammten Australier abserviert hatte.«

Nur daß er inzwischen nicht mehr Jack Linden hieß, aber daran konnten sie sich nicht so recht gewöhnen und werden es vielleicht wohl auch nie. Einige Tage nach seinem Verschwinden entpuppte sich Linden-vom-Lanyon-mit-i-und-e als Jonathan Pine aus Zürich, von der Schweizer Polizei wegen Verdachts der Unterschlagung gesucht, die er in einem vornehmen Hotel, wo er eine Vertrauensstelle innegehabt hatte, begangen haben sollte. »Segelnder Hotelier auf der Flucht«, titelte der Cornishman über einem Foto von Pine alias Linden. »Im Fall des vermißten Australiers sucht die Polizei nach einem Bootshändler aus Falmouth. >Wir gehen von einem Mord im Zusammenhang mit Drogengeschäften aus<, erklärt der Kripochef. >Der Gesuchte dürfte an seiner bandagierten Hand leicht zu identifizieren sein.<« Aber da kannten sie Pine schlecht.

Ja, bandagiert. Und verletzt. Verletzung und Verband waren wesentliche Bestandteile von Burrs Plan.

Jack Lindens Hand, dieselbe, die er Pete Pengelly auf die Schulter gelegt hatte. Eine Menge Leute, nicht nur Pete Pengelly, hatten diese bandagierte Hand gesehen, und auf Burrs Betreiben machte die Polizei einen großen Wirbel um diese Zeugen und um die Hand, welche es war und wann sie sie gesehen hatten. Und als das Wer und das Wann und das Welche ermittelt war, frage die Polizei nach dem Warum. Soll heißen, man notierte die widersprüchlichen Erklärungen, die Jack für den fachmännisch dicken Mullverband um seine rechte Hand und die wie ein Bündel Spargel zusammengebundenen Fingerspitzen gegeben hatte. Und mit Burrs Unterstützung sorgte die Polizei dafür, daß diese Erklärungen ihren Weg in die Presse fanden.

»Wollte in meinem Haus eine neue Fensterscheibe einsetzen«, erzählte Jack Linden Mrs. Trethewey am Donnerstag, als er ihr zum letzten Mal, diesmal mit der falschen Hand, sein Geld hinblätterte.

»Das kommt davon, wenn man einem Freund hilft«, hatte Jack zu dem alten William Charles gesagt, als die beiden sich zufällig in Penhaligons Tankstelle trafen - Jack, um sein Motorrad aufzutanken, William Charles, um sich die Zeit zu vertreiben. »Hat mich gebeten, mal vorbeizukommen und beim Reparieren seines Fensters zu helfen. Und jetzt sehen Sie sich das an.« Dann hielt er William Charles die bandagierte Hand hin wie ein Hund seine kranke Pfote, denn Jack konnte über alles einen Scherz machen.

Aber erst Pete Pengelly brachte sie richtig in Rage. »Natürlich war es in seinem verdammten Schuppen, Mann!« erklärte er dem Kriminalbeamten. »Hat eine Fensterscheibe zurechtgeschliffen, oben am Lanyon in seinem Schuppen; plötzlich rutscht das Schleifgerät ab, und alles ist voller Blut. Er legt sich selbst einen Verband an, zieht ihn fest und fährt dann auf seinem Motorrad eigenhändig zum Krankenhaus, bis nach Truro, und die ganze Zeit läuft ihm das Blut in den Ärmel, hat er mir selbst erzählt! So was denkt man sich nicht aus, Mann. So was tut man, verdammich.«

Doch als die Polizei den Schuppen am Lanyon pflichtbewußt untersuchte, wurde weder Glas noch Schleifgerät oder Blut gefunden.

Mörder lügen, hatte Burr Jonathan eingeschärft. Zu folgerichtig ist zu gefährlich. Ohne Widersprüche sind Sie kein Krimineller.

Der Roper überprüft alles, hatte Burr erklärt. Auch wenn er keinen Verdacht hat, überprüft er. Also statten wir Sie mit dieser kleinen Notlüge aus, damit aus dem unechten Mord ein echter wird.

Und eine hübsche Narbe spricht Bände.

Und irgendwann in diesen letzten Tagen verstieß Jonathan gegen sämtliche Regeln und besuchte, ohne Burrs Einwilligung oder Wissen, seine ehemalige Frau Isabelle, um sich mit ihr zu versöhnen.

Ich bin auf der Durchreise, log er, als er sie von einer Telefonzelle in Penzance anrief; gehen wir irgendwo essen, wo's ruhig ist. Auf der Fahrt nach Bath - wegen der bandagierten Hand trug er nur den linken Motorradhandschuh -probte er seinen Text für sie, bis er in seiner Vorstellung zum Heldengesang geworden war: Du wirst in der Zeitung einiges über mich lesen, Isabelle, aber das ist alles nicht wahr. Wir haben schlimme Zeiten durchgemacht, Isabelle, das tut mir leid; aber wir haben auch schöne Zeiten erlebt. Dann wünschte er ihr alles Gute und malte sich aus, sie würde diesen Wunsch erwidern.

Auf einer Herrentoilette zog er seinen Anzug an und verwandelte sich wieder in einen Hotelier. Er hatte sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen und erkannte sie kaum wieder, als sie zwanzig Minuten zu spät auftauchte und dem verdammten Verkehr die Schuld daran gab. Das lange braune Haar, das sie sich früher, bevor sie zu Bett gingen, auf den nackten Rücken zu bürsten pflegte, war praktisch kurz geschnitten. Sie trug unförmige Kleider, um ihre Figur zu verstecken, und hatte ein schnurloses Telefon in einer Tasche mit Reißverschluß dabei. Und er erinnerte sich jetzt, daß am Ende das Telefon das einzige gewesen war, womit sie hatte reden können.

»Mensch«, sagt sie. »Du siehst glücklich aus. Keine Sorge. Ich schalte es ab.«

Sie ist eine Schwätzerin geworden, dachte er, und dann fiel ihm ein, daß ihr neuer Mann irgend etwas mit der örtlichen Jagdgesellschaft zu tun hatte.

»Na, mich laust der Affe«, rief sie. »Corporal Pine. Nach soviel Jahren. Was um Himmels willen hast du denn mit deiner Hand gemacht?«

»Ein Boot darauf fallen lassen«, sagte er, was als Erklärung offenbar reichte. Er erkundigte sich, wie die Geschäfte stünden. In seinem Anzug schien dies genau die richtige Frage zu sein. Er hatte gehört, daß sie in Innenarchitektur machte.

»Einfach furchtbar«, erwiderte sie aufrichtig. »Und was treibt Jonathan? Ach Gott«, sagte sie, als er es ihr erzählte. »Du bist also auch in der Freizeitindustrie. Wir sind dem Untergang geweiht, Liebling. Du baust die Dinger aber doch nicht?«

»Nein, nein. Maklertätigkeiten, Überführungen. Wir hatten einen ganz guten Start.«

»Wer ist wir, Darling?«

»Ein australischer Partner.«

»Männlich?«

»Männlich, hundertzwanzig Kilo.«

»Und wie sieht's mit deinem Sexleben aus? Ich hab immer gedacht, du wärst vielleicht schwul. Bist du aber nicht, oder?«

Diesen Vorwurf hatte sie ihm damals oft gemacht, aber das hatte sie anscheinend vergessen.

»Großer Gott, nein«, antwortete Jonathan lachend. »Wie geht's Miles?«

»Prächtig. Sehr gut. Bankgeschäfte sind gute Werke. Nächsten Monat muß er mein überzogenes Konto ausgleichen, also bin ich nett zu ihm.«

Sie bestellte einen warmen Entensalat und Badoit und zündete sich eine Zigarette an. »Warum bist du aus der Hotelbranche ausgestiegen?« fragte sie und blies ihm Rauch ins Gesicht. »Zu langweilig?«

»Bloß der Reiz des Neuen«, sagte er.

Wir desertieren, hatte die nicht zu bändigende Tochter des Captains geflüstert, als sie sich mit ihrem phantastischen Körper auf ihn legte: Wenn ich noch ein einziges Mal diesen Armee-Fraß essen muß, sprenge ich die ganze Kaserne eigenhändig in die Luft. Fick mich, Jonathan. Mach eine Frau aus mir. Fick mich und nimm mich irgendwohin mit, wo ich atmen kann.

»Was macht die Malerei?« fragte er und dachte daran, wie sehr sie beide ihr großes Talent bewundert hatten, wie er sich erniedrigt hatte, um es noch größer zu machen, wie er für sie gekocht und geschleppt und geputzt hatte in dem Glauben, angesichts dieser Selbstverleugnung werde sie um so besser malen.

Sie schnaubte. »Meine letzte Ausstellung hatte ich vor drei Jahren. Sechs von dreißig verkauft, alle an Miles' reiche Freunde. Wahrscheinlich mußte einer wie du kommen, um ein Nervenbündel aus mir zu machen. Gott, hast du mir das Leben schwergemacht. Was zum Teufel wolltest du eigentlich? Ich wollte van Gogh sein, und was wolltest du? Außer daß du die Antwort der Armee auf Rambo warst?«

Dich, dachte er. Dich wollte ich, aber du warst nicht da. Er konnte es nicht sagen. Er wünschte, er hätte schlechtere Manieren. Schlechte Manieren bedeuten Freiheit, war eine ihrer Redensarten. Wer fickt, hat schlechte Manieren. Aber jetzt ging es nicht mehr um ihr Argument. Er war gekommen, um für die Zukunft, nicht für die Vergangenheit um Verzeihung zu bitten.

»Warum sollte ich Miles eigentlich nicht erzählen, daß wir uns treffen?« fragte sie vorwurfsvoll.

Jonathan setzte das alte falsche Lächeln auf. »Ich wollte nicht, daß er sich unseretwegen aufregt«, sagte er.

Einen magischen Augenblick lang sah er sie, wie er sie zum erstenmal besessen hatte, damals, als sie die Königin des Regiments war: das frische, aufsässige, verlangend schiefgelegte Gesicht, die geöffneten Lippen, die Glut in ihren Augen. Komm zurück, schrie es in ihm: versuchen wir's noch mal.

Der junge Geist verschwand, der alte kehrte wieder.

»Warum um Himmels willen bezahlst du denn nicht mit Kreditkarte?« fragte sie, als er mit der linken Hand die Scheine hinblätterte. »Da weiß man viel besser, wo die Knete geblieben ist, Liebling.«

Burr hat recht, dachte er. Ich bin ein Single.