Neunzehn

Vier Tage später fuhr Iker an den Flughafen, um Romina und Leandra abzuholen. Am Telefon hatte Naomi vermieden, über die vergangenen Tage zu sprechen. Sie würden früh genug erfahren, was sich während ihrer Abwesenheit abgespielt hatte.

Die Polizei hatte Sammy mitgenommen und mithilfe des amerikanischen Konsulats seine Sozialversicherungsnummer herausgefunden. Die ersten Ziffern bestätigten, dass sie tatsächlich in Seattle ausgestellt worden war. Aufgrund der Angaben, wo er früher gewohnt hatte und über den Namen seiner Eltern war es für die Behörden kein großer Aufwand mehr gewesen, seinen damaligen Wohnort festzustellen. Er war bereits an die Behörden in Seattle überstellt worden, die ihn zunächst in eine Rehaklinik überwiesen hatten. Die Polizeibeamten in Barcelona hatten sich recht auskunftsfreudig gezeigt und Iker mitgeteilt, dass sie leider keine lebenden Verwandten mehr ermitteln konnten. Er habe zwar einen Bruder, der in England wegen schwerer Körperverletzung gesucht wurde, doch der sei spurlos verschwunden. Da Sammy jedoch außer seines Gedächtnisverlusts gesund sei, solle er nach einem kurzen Klinikaufenthalt bald entlassen werden und ein staatliches Arbeitsprogramm antreten.

Naomis Rücken heilte gut, und auch Roman klagte nicht mehr über Schmerzen in der Schulter. Auf die Wunde an seiner Augenbraue wies nur noch ein leicht verschorfter Riss hin.

Iker hatte die letzten Tage immer wieder verwundert reagiert, wenn er Kai hochgenommen hatte und dieser auf seinem Arm noch lauter brüllte, als auf Romans oder Naomis. Manchmal fiel es Naomi schwer zu glauben, dass sich ihr Leben jetzt in normalen Bahnen abspielen würde und sie sich keine Sorgen um Kais Zukunft machen musste. Ihm lag die Welt zu Füßen, und er konnte tun, was immer er wollte.

Naomi hörte, wie der Wagen in die Einfahrt fuhr und ging zur Haustür. Leandra flog förmlich die Stufen zu ihr hoch, fasste sie vorsichtig an den Schultern, zog sie zu sich und drückte sie fest an ihre Brust. »Iker hat uns alles erzählt. Wir machen uns solche Vorwürfe, dass wir nicht mit dir zurückgeflogen sind.«

»Ihr konntet es doch nicht wissen«, flüsterte Naomi und schluckte trocken. »Nun ist es ja vorbei.« Es würde noch einige Zeit vergehen, bis sie die Vorkommnisse jener Nacht verarbeitet haben würde, aber Sammy war fort und ihre Familie endgültig in Sicherheit. »Wie war´s denn noch bei euch?«

»Das soll besser Romina erzählen. Es war unheimlich und wundervoll, sie als Panther auf den alten Mauern umherstreifen zu sehen. Ein einmaliger Anblick. Nopaltzin und Ichtaca sahen ihr ebenfalls die ganze Nacht sprachlos zu.« Für einen Moment leuchteten Leandras Augen vor Begeisterung.

»Jetzt kommt erst mal rein«, erwiderte Naomi und zog ihre Großmutter mit sich.

»Und mit euch ist wirklich alles in Ordnung? Hast du noch Schmerzen?« Leandra sah sie mitfühlend an.

»Wir sind okay. Und eigentlich möchte ich diese Tage nur noch vergessen. Deswegen sollte Iker euch schon auf der Heimfahrt erklären, was passiert ist.« Naomi hatte in den vergangenen Tagen genug darüber geredet.

Karsten hatte jede Einzelheit wissen wollen, als er vor zwei Tagen wegen seiner Semesterarbeit hier gewesen war. Die Beschreibung von Tenochtitlán hatte er bis ins kleinste Detail in die Biografie von Hernán Cortés mit aufgenommen. Es war ein großartiges Porträt ihres Vorfahren geworden. Iker hatte die grammatikalischen Verbesserungen vorgenommen, und Karsten hatte die Arbeit danach sofort seinem Professor übergeben. Noch am selben Nachmittag hatte er einen Anruf des Professors erhalten, der ihm mitteilte, es sei die beste Arbeit, die ihm jemals unter die Finger gekommen wäre.

Im Esszimmer stand ein großes Frühstück bereit, und nach einem ersten Blick auf Romina, bemerkte Naomi eine Veränderung an ihr. Ein zartes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Selten hatte sie Romina so zufrieden und ausgeglichen erlebt. Bisher schien sie immer von irgendetwas gehetzt zu werden. Ihre Augen huschten nicht mehr von einer Ecke in die andere, als hätte sie Angst, sie könne etwas verpassen oder übersehen.

»Nachdem ihr von Iker erfahren habt, dass Sammy uns nicht mehr gefährlich werden kann, gibt es nur noch eines, was ihr wissen solltet. Gestern habe ich wieder in der Kanzlei angerufen und nach Thursfield Junior gefragt. Nachdem ich mit seiner Sekretärin mittlerweile schon zehn Mal gesprochen habe und sie immer irgendwelche Ausreden präsentierte, hatte ich dieses Mal eine Aushilfe am Telefon, die viel gesprächiger war. Sie erzählte mir im Vertrauen, dass der Juniorchef vorerst nicht mehr in die Kanzlei zurückkommen würde.«

Iker gluckste. »Den Job wird sie nicht lange haben.«

Naomi grinste. »Eher nicht. Ganz aufgeregt hat sie mir erzählt, dass Thursfield vor einigen Monaten auf einer Geschäftsreise überfallen und übel zugerichtet auf einer Landstraße bei Barcelona aufgefunden worden sei. Als er sich endlich von seinen schweren Verletzungen erholt hatte, war er an seinem ersten Tag in der Kanzlei mit einem Gehilfen in Streit geraten. Das Geschrei in seinem Büro hat damit geendet, dass der Gehilfe plötzlich aus der Kanzlei stürmte. Ein Anwaltskollege wollte nach Thursfield sehen und fand ihn bewusstlos und mit blutendem Hinterkopf auf dem Fußboden neben seinem Schreibtisch vor. Er muss heftig auf die Schreibtischkante gefallen sein. Auf jeden Fall ist er nun blind.«

»Das nenne ich eine gerechte Strafe!«, rief Leandra aus.

Romina und Iker nickten zustimmend.

»Ich bin mir sicher, dass der Gehilfe Sammys Bruder war. Ich habe ihn damals in der Kanzlei gesehen und im Wald wiedererkannt. Und die Polizei sagte ja auch, dass er in England gesucht würde.« Naomi räusperte sich. »Naja, auf jeden Fall haben sie innerhalb der Kanzlei lange gehofft, dass die Blindheit nur vorübergehend sein würde. Daher auch die ewigen Ausreden. Aber nach über einem halben Jahr besteht keine Hoffnung mehr, dass er jemals wieder sehen kann. Damit wären wir auch ihn los.« Naomi stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Und nachdem ich die zweite Vollmondnacht hier im Garten verbringen musste und beinahe verrückt geworden bin, möchte ich wissen, wie es in der Ausgrabungsstätte gewesen ist.« Sie fixierte Romina, die immer noch dieses Lächeln im Gesicht trug. »Du siehst verändert aus.«

Rominas Lächeln wurde breiter. »Ich sehe nicht nur so aus. Dort zu bleiben war die beste Entscheidung meines Lebens. Dieser Ort ist magisch. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich mit mir dermaßen im Einklang. Schon in der ersten Nacht überkam mich eine innere Ruhe, die weit über die Verwandlung an den gewohnten Lichtungen hinausging. Es ist, als würde ich plötzlich alles verstehen, obwohl ich keine Erklärungen erhalten habe. Die beiden Nächte dort haben mich befreit.«

»Wovon? Wie meinst du das?«, fragte Naomi nach.

»Von allem. Ein tiefer Frieden erfüllt mich und ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Vielleicht so: du fühlst dich federleicht, als hättest du einen Joint geraucht, nur dass dein Kopf ganz klar ist.« Romina sah von Naomi zu Iker.

»Das Gefühl kenne ich nicht«, sagte Naomi.

Leandra riss die Augen auf. »Du hast tatsächlich noch nie einen Joint geraucht?«

»Du etwa?«

»Natürlich! Auch wenn mir davon schlecht wurde, fühlte sich mein Körper ganz leicht an. Allerdings nur, solange ich nicht versucht habe, mich zu bewegen. Denn das fiel mir unendlich schwer.« Leandra blinzelte amüsiert. »Nun bist du entsetzt.«

»Nein, nur überrascht.«

Roman reichte ihr den Brötchenkorb. »Du hast nichts verpasst.«

Naomi schnitt sich das Brötchen auf, belegte es mit Käse und biss hinein. Nachdenklich kaute sie, bevor sie den Bissen hinunterschluckte und mit einem Schluck Kaffee nachspülte. »Nachdem du es nicht beschreiben kannst, würde ich es gerne selbst erleben.«

»Das sollst du. Ich sagte dir ja schon, dass es mir nichts mehr ausmacht, sollte es im Dezember tatsächlich vorbei sein. Seit jenen Nächten spielt es wirklich keine Rolle mehr. Ich bin bereit für alles, was kommen mag. Sollte ich also sterben, dann ist es eben so. Ich habe mein Leben gelebt und nun meinen Frieden gemacht. Unsere Feinde sind besiegt und die Gefahr ist vorüber.« Romina legte eine Pause ein. »Außerdem bleiben mir noch einige Monate, um meine restliche Zeit mit meiner wiedergewonnenen Familie zu genießen.«

Leandra nagte auf ihrer Unterlippe. »Ich mag das zwar nicht hören, aber ich verstehe dich. Nopaltzin hat ebenfalls bemerkt, wie Rominas Wesen sich in diesen Nächten verändert hat. Dass sie zufriedener und glücklicher wirkt. Daraufhin hat er Brenda angerufen und sie gebeten, beim nächsten Vollmond mit Jason und Katie zu kommen.«

Naomi nickte gemächlich. Wenn es die quirlige Romina beruhigen konnte, weshalb nicht auch Katie. Vielleicht käme sie mit ihrem Wesen dann besser zurecht. Es war eine großartige Idee. Naomi dachte darüber nach, wie es sein würde, wenn sie alle gleichzeitig dort wären. Es musste herrlich sein, zwischen den alten Tempeln umherzustreifen und die Stärke dieser Erde in sich aufzunehmen. »Wir sollten alle hinfahren.«

Romina klatschte vor Begeisterung in die Hände, Iker schwieg, während Leandra und Roman nicht zu deutende Blicke austauschten. »Warum nicht?«, fragte Naomi.

»Ich wollte sowieso noch mal dorthin! Warum nicht schon nächsten Monat?« Romina biss zufrieden in ein Croissant und stieß Iker an der Schulter an. »Es wird Zeit, dass du dich nach draußen begibst. Du kannst dich nicht ewig hier einsperren.«

Naomis Gedanken schweiften in die Ferne. Sie würde weitere Mitglieder ihrer Familie kennenlernen, und sie würden sich dort, wo alles vor so langer Zeit begonnen hatte, verwandeln und ihren inneren Frieden finden. Aus ihrem Gedächtnis rief sie die Bilder von Tenochtitlán ab. Sie glaubte, sogar die Gerüche wahrzunehmen. Das Bild der jungen Aztektenfrau manifestierte sich. Ihr Entschluss stand fest. Bei dieser Gelegenheit wollte sie mehr über Malintzins Schicksal herausfinden.

Es spielte keine Rolle mehr, ob der Fluch im Dezember von ihr genommen würde, oder nicht. Kai war frei. Nach ihrer Ausbildung konnte sie mit Roman weitere Kinder haben, ohne befürchten zu müssen, ihnen eine schwere Last aufzubürden. Ihre Sorge hatte Romina gegolten, doch die hatte ihren Frieden gefunden. Was die Zukunft auch bringen mochte, sie war bereit.

»Und wisst ihr, wem wir das alles zu verdanken haben?«, fragte Naomi. Verwirrte Gesichter sahen sie an.

»Dorothea. Hätte sie nicht die alte Hutschachtel unter dem Bett aufbewahrt, wäre es uns niemals möglich gewesen, die fehlenden Punkte in unserer Vergangenheit zu entdecken. Schade nur, dass sie es nicht miterleben konnte.«

 

ENDE