Fünfzehn

Die Fahrt zum Flughafen verbrachten Naomi und Brenda schweigend. Obwohl der Taxifahrer nicht den Anschein erweckte Englisch zu sprechen, konnten sie das Risiko nicht eingehen, dass ein Fremder etwas über die vergangene Nacht erfuhr. Hätte Brenda Deutsch gesprochen, wäre eine Unterhaltung vielleicht möglich gewesen. Naomi brütete vor sich hin und ließ die Ereignisse vor ihrem geistigen Auge nochmals Revue passieren. Malintzin hatte für ein besseres Leben gekämpft, ihr Volk verraten und ihren Nachkommen ein schwieriges Erbe hinterlassen. Wie hätte sie selbst an ihrer Stelle gehandelt? Diese Frage beschäftigte Naomi lange Zeit, ohne dass sie eine Antwort darauf finden konnte. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie eine fremdbestimmte Zukunft als Sklavin aussehen mochte. Auch wenn sie nun einen kleinen Einblick in das damalige Leben erhalten hatte, konnte sie Moctezumas Passivität nicht verstehen. All seine Macht und seine Streitkräfte hatten ihm nichts geholfen, weil ihm sein blinder Glaube im Weg gestanden hatte. Warum hatte er die Vernichtung seines Volkes zugelassen? Nichts hinterfragt? Naomi würde es vermutlich nie begreifen. Viel besser konnte sie Malintzin verstehen. Nachdem sie mehrere Sprachen gesprochen hatte und auch sonst im richtigen Moment die für sie richtigen Entscheidungen getroffen hatte, musste Malintzin sehr intelligent gewesen sein. Wie gerne hätte Naomi mehr über diese bemerkenswerte Frau erfahren. Diese Frau hatte mit Martín nicht nur den ersten Mestizen geboren, sondern auch den Träger eines Erbes, unter dem all ihre Nachfahren zu leiden hatten.

Trotzdem trug Naomi ihr nichts nach. Vielleicht wäre es tatsächlich am zweiundzwanzigsten Dezember vorüber, wenn die fünfte Sonne der Azteken unterging.

»Wirst du eines Tages hierher zurückkommen?«, unterbrach Brenda ihre Gedanken.

»Ich weiß es nicht.« Naomi dachte nach. »Vielleicht. Es kommt darauf an, was Romina anschließend berichten wird. Und du?«

»Bei mir ist es ähnlich. Ich überlege, ob es nicht eine gute Idee wäre, Katie und Jason herzubringen, sodass sie ihre Situation besser verstehen können. Nopaltzin könnte die Zeremonie mit ihnen wiederholen.« Brenda presste die Lippen aufeinander und seufzte.

»Hat er das gesagt?«, fragte Naomi.

»Nein. Aber ich könnte ihn darum bitten. Er wird mir diese Bitte nicht abschlagen.«

Naomi nickte. »Wann geht dein Flug?«

»Es geht eine Maschine gegen fünfzehn Uhr, doch dort stehe ich auf der Warteliste. Die Nächste startet erst abends. Aber das spielt keine Rolle. Ich muss mir noch über sehr vieles klar werden.«

Eine Stunde später hielt der Taxifahrer vor der Abflughalle, in der sich die Iberia Airline befand. Obwohl der Schalter der Delta Airlines in einer anderen Halle lag, stieg Brenda ebenfalls aus.

Gemeinsam gingen sie zum Check-in-Schalter, wo Naomi ihre Bordkarte in Empfang nahm.

»Grüße Katie und Jason von mir. Sie kennen mich zwar nicht, aber das könnten wir ja bald mal ändern ...« Naomi blickte unsicher zu Brenda.

»Schau mich nicht so an, als ob ich etwas dagegen haben könnte. Nach allem, was ich die letzten Tage erfahren habe, sehe ich die Welt mit anderen Augen. Du gehörst zu meiner Familie.« Brenda sah sie lange an, bevor sie Naomi in die Arme schloss und fest an sich drückte. »Wenn du mich besser kennenlernst, dann wirst du sehen, dass ich gar nicht so übel bin. Es fällt mir nur schwer einzugestehen, dass es mehr als einen Gott geben soll.«

Naomi zögerte kurz, bevor sie sich aus ihren Armen löste. »Es tut mir leid.« Naomi wusste nicht, was sie ihr sonst hätte sagen sollen.

»Nun geh schon. Dein Flug wartet nicht auf dich. Pass auf dich auf, ja?« Brenda lächelte sie an. »Und lass uns nächste Woche telefonieren.«

Naomi nickte. »Ich hoffe, Katie kommt bald besser damit zurecht. Immerhin hat sie Jasons und jetzt auch deine Unterstützung. Wer weiß, vielleicht ist im Dezember tatsächlich diese ganze Geschichte vorbei«, fügte sie hinzu, obwohl sie selbst nicht daran glaubte.

Naomi trat zurück, winkte Brenda zum Abschied, drehte sich um und eilte zur Sicherheitskontrolle. Jede Faser in ihr drängte danach, endlich Romans Stimme zu hören. Auf der Fahrt zum Flughafen hatte sie ihm nur eine kurze SMS geschickt, dass alles in Ordnung wäre und sie sich bereits auf dem Weg zum Flughafen befände.

Dreißig Minuten später saß Naomi etwas abseits an ihrem Gate, um in Ruhe telefonieren zu können. Nach dem zweiten Klingeln hörte sie Roman sagen: »Du fehlst uns. Zeit, dass du nach Hause kommst.« Im Hintergrund hörte sie Kai glucksen.

»Ich vermisse euch auch. Am liebsten würde ich dir jetzt schon alles erzählen, aber ...«

»... aber das geht wegen der vielen Leute nicht. Das ist mir klar«, unterbrach Roman ihre Entschuldigung. »Auch wenn ich darauf brenne, wie so ein Aztekenhäuptling aussieht, bin ich einfach nur erleichtert, dass alles gut gegangen ist. Wann landet deine Maschine?«

»Morgens um sieben - und nein, du brauchst mich nicht abzuholen. Ich steige in ein Taxi, und sobald ich zuhause bin, kuschele ich mich zu euch ins Bett und dann wird eine Runde geschmust.« Roman wandte ein, dass er sie lieber am Flughafen abholen wollte. »Lass es dir nicht einfallen, das Bett zu verlassen!« Naomi lachte. »Außer, du willst schon Frühstück vorbereiten, das wir dann im Bett verputzen können.«

»Also gut. Dann gibt´s Frühstück und Krümel im Bett und du erzählst mir, was bei euch dort drüben abging, bis dir die Augen zufallen!«

»Abgemacht. Auch wenn ich es dann für Iker wiederholen muss.« Naomi hörte, dass ihr Flug aufgerufen wurde. Die ersten Passagiere stiegen bereits in die Maschine. »Ich muss aufhören. Wir sehen uns nachher, ja? Liebe Grüße an Iker und gib Kai einen dicken Kuss von mir!«

»Ja, ja, und wer küsst mich?«, fragte Roman lachend. »Ach ja, Pilar kocht übrigens heute Abendessen für uns. Sie meinte, sie hätte einiges gutzumachen.«

Naomi lachte über seine erste Bemerkung, obwohl ihr die harmlose Bemerkung über Pilar einen kurzen Stich versetzte.

»Ich liebe Dich!«, sagte Roman. »Sag dem Piloten, er soll etwas schneller fliegen, okay?«

Naomi küsste in den Telefonhörer, legte auf und stellte sich zu den restlichen Passagieren in die Schlange.

Der Gedanke an Pilar trübte ihre Freude nach Hause zu kehren; nicht sehr, aber doch genug, weil ihr bewusst wurde, dass auch Pilar ein Recht darauf hatte zu erfahren, was Romina und sie während des Rituals erlebt hatten. Vielleicht konnte sie Iker dazu überreden, es ihr zu erzählen, nachdem sie ihm alles erzählt hatte.

 

*

 

Pilar schleppte die Einkäufe vom Markt nach Hause. In Gedanken versunken überlegte sie, ob sich das, was sie ausgeheckt hatte, noch irgendwie aufhalten ließe; denn ihre Zweifel setzten ihr immer stärker zu.

Aber es war zu spät. Alles war arrangiert, und es führte kein Weg mehr zurück.

An dem Tag, an dem sie Sammy angerufen hatte, hatte sie noch geglaubt, ihr Plan sei perfekt. Wenn Kai verschwände und Naomi eine Nachricht von Sammy in Kais Wiege fände, würde sie durchdrehen und Roman die Hölle heißmachen, weil er nicht besser auf das Baby geachtet hatte. Es würde unweigerlich zum Bruch zwischen den beiden kommen.

Doch mit einem hatte Pilar nicht gerechnet: Sammy hatte überhaupt kein Interesse an diesem Kind. Sie hatte leichtfertigerweise angenommen, Sammy würde sich freuen und sich des Babys annehmen, es großziehen, da es sich schließlich um sein leibliches Kind handelte.

Sammy hatte sich über die Nachricht gefreut, allerdings nur aus einem einzigen Grund: Um Naomi zu schaden. Seine Reaktion hatte erste Zweifel in ihr geweckt, und diese hatten sich bis jetzt nicht mehr zerstreuen lassen.

Sie hatte schon vorher gewusst, dass Sammy ein Schwein war, trotzdem hatte sie unmöglich seine Ablehnung dem Kind gegenüber vorhersehen können.

In dem Moment, als sie am Telefon Sammys gemeines Lachen vernommen hatte, war ihr bewusst geworden, dass es ein Fehler gewesen war, ihm von dem Kind zu erzählen. Sammy würde sich von ihr nicht kontrollieren lassen.

Noch deutlich hatte sie seine Warnung und den toten Vogel vor Augen. Ihre Angst vor Sammy und ihr Liebeskummer wegen Roman hatten sie dazu verführt, den für sie leichtesten Weg zu gehen. Unentwegt betete sie sich vor, es würde alles gut ausgehen, doch in ihrem Herzen spürte sie etwas anderes. Entsetzen über sich selbst und Panik vor dem, was unweigerlich folgen würde.

Vor der Toreinfahrt verharrte sie einen Moment, bis sie ihre Gedanken wieder so weit im Griff hatte, dass sie sie vor Iker verbergen konnte. Für einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, mit Iker zu sprechen und überlegte, was das für Folgen haben würde. Kai wäre in Sicherheit. Sie selbst müsste vermutlich ausziehen. All das könnte sie ertragen, wenn Sammy nicht erneut gedroht hätte, ihren Vater zu töten.

Es gab keinen Ausweg für sie.

Pilar straffte die Schultern, steckte den Schlüssel in das Eingangstor, schloss auf und betrat das Grundstück.

Während sie in der Küche die Einkäufe verstaute, dachte sie an Tomaten. Dieses Wort wiederholte sie so oft im Geiste, bis sie nur noch an Tomaten dachte. Auch wenn Iker sich nicht in ihrer Nähe aufhielt, konnte Pilar nicht riskieren, dass dieser auch nur einen flüchtigen Gedanken auffing.

Anschließend deckte sie den Tisch für das Abendessen und legte eine Notiz in die Küche mit der Nachricht, dass sie heute kochen würde und das Essen um zwanzig Uhr dreißig serviert würde.

Erst als sie ihr Zimmer betrat, erlaubte sie sich, wieder an etwas anderes als an Tomaten zu denken. Sie setzte sich auf die Bettkante, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.

Nachdem keine Tränen mehr kamen, ließ sie sich rücklings auf die Matratze fallen und starrte mit offenen Augen an die Decke. Tief in ihrem Inneren hoffte sie, dass sich Sammy gut um das Kind kümmern würde. Wenn sie ihm erklärte, dass Kai besondere Fähigkeiten hatte, würde er sich mit Sicherheit für ihn interessieren. Er würde seinem eigenen Kind nicht schaden. So schlecht konnte selbst Sammy nicht sein.

Pilar sah immer wieder unsicher zur Uhr. Die Zeit war viel zu schnell verstrichen.

Mit schlurfenden Schritten ging sie ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht und bemerkte, dass sie zwar keine rot geweinten Augen mehr hatte, aber trotzdem sehr blass aussah. Mit den Fingern zupfte sie die Haut über ihren Wangen, bis sie eine gesündere Farbe aufwies, bevor sie ihr Make-up erneuerte. Sie blickte an sich hinab und entschied, dass für den heutigen Tag ihre Jeans und das ausgeleierte T-Shirt passend zu ihrer Stimmung waren. Erst hatte sie überlegt, ob sie sich ein Sommerkleid anziehen sollte, doch hätte sie sich darin nur noch unwohler in ihrer Haut gefühlt.

Als sie ihr Zimmer verließ, stieß sie im Treppenhaus auf Roman, der mit Kai auf dem Arm die Stufen herunterkam.

Er lächelte sie an. »Danke, dass du heute kochst! Iker gehen nämlich die Ideen aus.«

»Kein Problem.« Sie zuckte mit den Schultern und sah zu Boden. »Ich habe einiges gutzumachen und dachte, dass ich wenigstens das Kochen übernehmen könnte, wenn ich schon mal hier bin.«

»Geht es deinem Vater besser? Du wirkst niedergeschlagen.« Roman sah sie aufmerksam an.

»Er fühlt sich schon viel kräftiger.« Die Ausrede, ihr Vater sei krank und benötige ihre Hilfe und Unterstützung, war nur vorgeschoben, um so wenig Zeit wie möglich hier im Haus verbringen zu müssen, wo sie immer Gefahr lief, dass Iker in ihren Gedanken las. Außerdem wollte sie nicht zugeben, dass ihr Vater ihr wegen des Studiums zusetzte und er sie lieber unter seinem Dach wusste, wo er sie kontrollieren konnte. »Ich bin nur etwas müde. Das Studium verlangt mir viel ab.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Roman nickte und ging voraus in die Küche. »Ich bin schon sehr gespannt, was Naomi zu erzählen hat, wenn sie morgen zurückkommt. Leider konnte sie am Telefon nicht darüber reden, da sie schon am Gate war und zu viele Leute um sie herumstanden.« Er warf einen Blick auf die Küchenuhr und lächelte. »Sie müsste bereits abgeflogen sein.«

Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er setzte Kai in den Kinderstuhl und sah Pilar an. »Soll ich dir mit dem Kochen helfen?«, fragte er und sah zu Kai. »Sobald ich diesen Kerl hier verpflegt habe, hätte ich Zeit.«

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie sich über die Vorstellung, gemeinsam mit Roman zu kochen, gefreut, nur an diesem speziellen Tag musste sie sein Angebot ablehnen. »Bei Fisch mit Paprikakartoffeln und Gemüse kannst du nicht viel helfen. Das geht schnell. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du weißt, wie man eine katalanische Nachspeise zubereitet.«

»Aber ich könnte es lernen ...«

Pilar schüttelte den Kopf und holte das Gemüse aus dem Kühlschrank. »Ein andermal, okay?«

Roman trat neben sie, öffnete den Kühlschrank und nahm die Babymilch heraus. »Sobald die warm ist, bin ich weg und störe dich nicht weiter.« Er griff nach einem kleinen Topf, füllte ihn mit Wasser und stellte das Fläschchen hinein, bevor er den Herd anstellte.

»Du störst nicht, auch wenn ich heute wirklich lieber alleine koche.« Pilar wandte sich ab, legte das Gemüse ins Spülbecken und begann, es zu waschen und zu putzen. »Ich muss über einiges nachdenken.«

Sie spürte Romans Blick im Rücken. Auch wenn er bemerkt hatte, dass sie sich anders verhielt als gewöhnlich, hakte er nicht nochmals nach, was sie sehr erleichterte. Hätte er nachgebohrt, hätte sie sich eine Geschichte ausdenken müssen. Vielleicht wäre sie sogar umgekippt und hätte ihm alles erzählt. Ihn zu verletzten, verursachte Pilar beinahe körperliche Schmerzen, und sie war sich unsicher, ob sie stark genug gewesen wäre, um durchzuhalten, wenn er nochmals nachgefragt hätte.

Doch Roman schwieg.

Nachdem das Glas aufgewärmt war, wusch er sich die Hände, gab einen Tropfen auf sein Handgelenk, um die Temperatur zu überprüfen und begann Kai zu füttern, der hungrig den Mund öffnete und nuckelte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun Kai.

Pilar presste die Lippen zusammen und fing an, das Gemüse klein zu schneiden. Als sie die Kartoffeln ins Wasser gab, verabschiedete sich Roman aus der Küche und versprach, pünktlich zum Essen wieder herunterzukommen.

Eine halbe Stunde später brutzelten die scharf gewürzten Kartoffeln in der Pfanne, und der Fisch garte mit dem Gemüse im Ofen.

Vorsichtig gab sie das Eigelb in eine Schüssel, fügte Zucker und Mehl sowie Milch mit Zimt und etwas Zitronenschale hinzu. Nachdem sich die Zutaten gut miteinander verbunden hatten, schüttete sie die noch flüssige Nachspeise in feuerfeste Schälchen. Nach einem prüfenden Blick in den Flur, mischte sie die bereits verriebenen Tabletten des Schlafmittels unter die Creme zweier Schalen, rührte nochmals um, bevor sie Zucker darüberstreute und die beiden Schalen getrennt von ihrem eigenen Nachtisch in den Kühlschrank zum Abkühlen stellte.

Fünf Minuten später blickte Roman in die Küche und fragte, ob er ihr noch zur Hand gehen könnte. »Es ist alles fertig. Sieh nach, wo Iker bleibt und setzt euch schon rüber.« Pilar gab das Gemüse auf die Platte, legte den Fisch darauf und füllte eine Schüssel mit Kartoffeln.

Kaum hatte sie die Küche verlassen, hörte sie Iker und Roman im Esszimmer miteinander reden.

Sie betrat das Speisezimmer. Die Kerzen brannten, und einer der beiden hatte bereits den Wein eingeschenkt.

»Prima. Dann kann es losgehen! Lasst es euch schmecken«, sagte sie und stellte die Fischplatte auf den Tisch. »Ich hole nur noch kurz die Kartoffeln.« Pilar verließ das Esszimmer und kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder. Die gute Laune im Zimmer war beinahe mit Händen greifbar. Ihr Herz krampfte sich zusammen und sie schnappte nach Luft. Nach einigen Atemzügen beruhigten sich ihre Nerven wieder.

Als sie mit der Schale zurück ins Esszimmer kam, lächelte Iker sie an. »Das sieht toll aus! Womit haben wir ein solches Festessen verdient?«

Pilar zuckte die Achseln und schöpfte sich einige Kartoffelschnitze auf ihren Teller. »So was Besonderes ist es nun auch wieder nicht.« Es kostete sie Überwindung, nicht nur auf ihren Teller zu starren.

Roman erhob das Weinglas und schaute in die Runde. »Auf die Köchin!«

Als Iker sein Glas gegen Romans stieß und es leicht klirrte, schluckte Pilar trocken, bevor sie sich ein Lächeln abrang und ebenfalls anstieß.

Während des Essens blendete sie gewohnheitsmäßig alle Gedanken aus. Mit höchster Konzentration brachte sie den Hauptgang hinter sich. Sie dachte nur an den Geschmack der Speisen. Glücklicherweise unterhielten sich Iker und Roman angeregt miteinander. Beide rätselten, was Naomis Reise nach Sevilla und Mexico City ergeben hatte. Pilar hörte aufmerksam zu und leerte ihr Weinglas in einem Zug, als Iker Roman neckte, er müsse sich eben noch die paar Stunden gedulden, bis Naomi wieder zu Hause sei.

»Es hat herrlich geschmeckt und ich bin ich pappsatt!«, sagte Roman. »Bei mir hat kein Krümel mehr Platz.«

Iker rieb sich über den Bauch. »Stimmt. Es war einfach zu lecker, um rechtzeitig aufzuhören.«

Diese Worte versetzten Pilar in Panik und sie sprang regelrecht vom Tisch auf. Die Crema Catalana, dachte sie. Sie mussten sie essen!

Iker lächelte. »Oha, Roman, wir müssen noch eine Ecke Platz in unseren Bäuchen schaffen. Bei dem Nachtisch bleibt uns nichts anderes übrig.«

»Was gibt es denn noch?«, fragte Roman.

Iker grinste. »Crema Catalana.«

Roman zog die Augenbrauen nach oben. »Stimmt, den Nachtisch habe ich ganz vergessen. Und Pilar hatte recht, Crema Catalana kenne ich wirklich nicht.«

Mit verschränkten Armen lehnte sich Iker zurück. »Dann wird es allerhöchste Zeit.«

In der Küche beeilte sich Pilar, den Zucker zu karamellisieren. Trotz ihrer Nervosität achtete sie genau darauf, die Schalen auseinanderzuhalten. Der Flambierbrenner verwandelte die feine Zuckerschicht in eine braune und zarte Knusperschicht.

Auf einem Tablett servierte sie die Nachspeise, griff nach ihrer Schale und sah Iker und Roman aufmunternd an. »Dann lasst es euch schmecken.« Ihre Worte bekräftigend, durchbrach sie die feine Kruste mit dem Löffel und schob sich diesen genussvoll in den Mund.

Iker machte sich ebenfalls über seinen Nachtisch her und nickte anerkennend. »Ganz hervorragend. Mir gelingt die Kruste nie so fein.«

Mit einem Lächeln im Gesicht sah Roman von Iker zu seinem Nachtisch und steckte den Löffel ebenfalls in die Schale. »Wow, schmeckt das gut!« Genießerisch leckte er sich über die zuckrigen Lippen.

Die Creme darunter war kühl und herrlich süß.

Roman steckte den Löffel erneut in die Schale, nahm nur ein kleines Bisschen und wandte sich Kai zu, der während des Abendessens im Babystuhl geschlafen hatte und nun interessiert auf den Tisch sah. Roman war im Begriff, Kai den halb gefüllten Löffel in den Mund zu stecken.

»Stopp«, rief Pilar.

Roman zuckte zurück und sah sie aus überraschten Augen an. »Was ist denn?«

»Das ist nichts für Babys. Viel zu viel Eigelb! Er wird einen Ausschlag davon bekommen.« Pilar hoffte, Roman würde ihr diese Ausrede abnehmen.

»Meinst du?«, fragte er verwundert und sah von Pilar zu Iker.

Iker schien zu überlegen. »Keine Ahnung. Aber riskieren solltest du es nicht. Bekommt er wirklich Ausschlag davon?«

Pilar nickte hektisch. »Ich kenne viele Babys, die davon Ausschlag bekommen.«

»Na dann«, meinte Roman, stand auf, küsste Kai und schob sich den Löffel selbst in den Mund. »Dann musst du eben noch etwas wachsen, bevor du solche Leckereien bekommst.« Er setzte sich wieder und löffelte die Schale leer.

Kaum hatte Pilar die leeren Teller übereinandergestapelt, als Iker bereits zu gähnen begann. »Das viele Essen und die Arbeit im Archiv fordern ihren Tribut. Ich muss aufs Sofa. Soll ich dir noch schnell helfen, Pilar?«

Sie verneinte. »Leg dich ruhig hin und ruhe dich aus. Ich räume das schon weg.«

»Sicher?«, fragte er, begleitet von einem weiteren Gähnen.

Roman nahm die Wassergläser und trug sie in die Küche. Pilar folgte ihm mit der Platte und der Schüssel. »Lass gut sein. Ich kümmere mich schon darum.«

»Danke. Auch für das tolle Essen. Dann werde ich mit dem Knirps mal hochgehen und versuchen, noch etwas zu lernen.«

In der Küche stützte sie sich an der Spüle auf und schloss die Augen. Sie hatte es getan und beinahe hätte Kai eine gute Portion Schlafmittel abbekommen. Wer konnte schon beurteilen, wie viel so ein kleiner Körper verkraftet? Und sparsam war sie mit den Schlaftabletten nicht umgegangen. Sie hatte die empfohlene Dosis verdoppelt, um sicherzugehen, dass beide in dieser Nacht tief schlafen würden.

Iker streckte den Kopf in die Küche und bedankte sich für das Essen. Morgen würde er sich dafür revanchieren. Mit diesen Worten verließ er die Küche, und sie hörte, wie die Tür seines Wohnbereichs ins Schloss fiel.

Pilar ging ins Esszimmer, um den restlichen Tisch abzudecken, schenkte sich jedoch ein großes Glas Wein ein und ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Sie fühlte sich müde, als hätte sie selbst ein Schlafmittel genommen. Vermutlich hatte sie sich in den letzten Tagen so sehr verkrampft, dass nun, wo es kein zurück mehr gab, die Anspannung von ihr abfiel und sich die Müdigkeit Bahn brach.

Trotzdem raffte sie sich auf, wischte den Tisch ab und packte das restliche Geschirr in die Spülmaschine. Anschließend ging sie mit dem Glas Wein in ihr Zimmer, wo sie sich den Wecker auf morgens zwei Uhr stellte, sich hinlegte und augenblicklich einschlief.

 

Das Piepen ihres Handys weckte Pilar. Sofort war sie wach und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Bevor sie ihre Zimmertür öffnete, lauschte sie, ob sie Geräusche im Haus hörte.

Nichts rührte sich.

Leise drückte sie die Türklinke zu Ikers Schlafzimmer hinunter, schlüpfte hinein und sah sich um. Das Bett war unberührt. Iker schnarchte leise auf dem Sofa und der Fernseher lief ohne Ton. »Iker«, flüsterte sie und fasste ihm an die Schulter. Keine Reaktion. Er schlief tief und fest.

Geräuschlos verließ sie Ikers Zimmer, schlich die Treppenstufen nach oben und wiederholte dasselbe in Romans Schlafzimmer. Er lag in seinen Kleidern auf der Bettdecke und bewegte sich nicht. Einige Schulunterlagen lagen aufgeschlagen neben ihm. Kai lag mit geöffneten Augen in seiner Wiege und versuchte, nach dem Mobile zu greifen, welches über ihm befestigt war. Sie kitzelte ihn kurz am Bauch und er lächelte. Mit bangem Gefühl in der Magengegend nahm sie das Babyfon und kehrte zurück ins Erdgeschoss, wo sie im Dunkeln auf Sammys Anruf wartete.

Pünktlich um drei Uhr klingelte ihr Handy. Sie nahm das Gespräch nicht an, sondern stand auf, öffnete die Haustür und das Rolltor. Die Scheinwerfer des Wagens griffen wie lange Finger durch die Dunkelheit nach ihr. Ein nervöses Flattern durchlief ihren Körper.

Der Wagen stoppte vor der Eingangstür, die Motorengeräusche erstarben und die Dunkelheit umhüllte erneut das Gelände.

Die Fahrertür ging fast gleichzeitig mit der Beifahrertür auf. Pilar erschrak, als sie sah, dass Sammy nicht alleine gekommen war. Den Typen, der auf der Beifahrerseite ausstieg, hatte sie noch nie gesehen.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Wer ist das? Du hast gesagt, du würdest alleine kommen.«

Sammy lächelte kalt. »Ich habe meine Meinung eben geändert. Das ist mein Bruder und er wird mir helfen.«

»Helfen? Womit?« Bei Sammys Worten kroch es ihr eiskalt den Körper hinauf. »Du wolltest nur Kai abholen.«

»Nenn ihn nicht Kai. Was für ein scheußlicher Name!« Sammy ging nicht auf ihre Frage ein. »Ich hoffe, sie schlafen tief und fest wie seinerzeit Dornröschen.«

»Sag schon. Wobei soll er dir helfen?«, fragte Pilar erneut und nickte.

»Ach Süße, das wirst du schon sehen. Meine Pläne haben sich eben geändert.« Sammy stieg die Treppenstufen hinauf, tätschelte Pilars Wange und betrat das Haus.