Vierzehn

Ein Ritual. Was musste Naomi sich darunter vorstellen? Nervös nagte sie auf ihrer Unterlippe und wartete, bis Nopaltzin den Holzgegenstand aufnahm und aus seiner Hosentasche ein Tütchen hervorkramte.

»Wie Moctezuma werden wir mit diesem Gerät Kräuter rauchen«, erklärte er und zog eine Art Schublade aus dem unteren Teil des ovalen Gegenstands.

Die eierförmige Kugel erinnerte Naomi an einen kleinen Football. Sie beobachtete, wie er die Kräuter in eine Einkerbung gab. »Wie oft hast du das schon durchgeführt?«

Nopaltzin schüttelte den Kopf. »Noch nie. Das Ritual wurde mir überliefert, aber es gab bisher keinen Grund für mich, es durchzuführen. Das Rauchen der Kräutermischung ist etwas Heiliges, was eigentlich nur den Hohepriestern vorbehalten war. Ich bin schon sehr neugierig, ob uns die Götter Bilder schicken werden, um alles besser zu verstehen. Moctezuma sah in einer Vision, wie der Naturgott Quetzalcóatl begleitet von einer Menschenfrau sein Reich aufsuchte, um ihm reiche Ernten zu bescheren. Zufrieden mit der Aussicht, sein Volk ausreichend ernähren zu können, kehrte er nach Tenochtitlán zurück.«

»Du glaubst, wir werden sehen, was damals geschah?«, fragte Naomi und sah zu Romina, die mit den Schultern zuckte.

Ohne zu antworten, drückte Nopaltzin die trockenen Kräuter fest und zündete sie mit einem Streichholz an, bevor er die Lade zurückschob und in ein Loch am oberen Ende der Holzkugel blies, bis Rauch aus dem angebrachten Rohr drang. Er führte das Rohr zum Mund und zog den Rauch tief in seine Lungen, bevor er gemächlich ausatmete. Danach blies er erneut in das Loch, damit die Kräuter weiter brannten, und gab die ovale Kugel an Naomi weiter, bevor er die Kerzen entzündete.

Unsicher drehte sie sie in Händen. Ihre letzte Erfahrung mit irgendwelchen Kräutern hatte sie mit Sammy gehabt. Nachdem sie damals die Kräutermischung gegessen hatte, war sie bewusstlos geworden. »Was bewirken die Kräuter?«

»Hab keine Angst, sie werden dir den Zugang zu den Göttern ermöglichen. Es wird dir nichts geschehen.« Nopaltzin sah sie mit festem Blick an und nickte bekräftigend.

Obwohl Naomi sich unwohl dabei fühlte, führte sie das Rohr an die Lippen und atmete vorsichtig ein. Der Rauch brannte in ihrer Lunge und schmeckte fremdartig und würzig.

»Du musst tiefer einatmen«, forderte Nopaltzin.

Naomi atmete aus, steckte sich das Rohr in den Mund und zog kräftig daran. Der Qualm presste ihr die Brust zusammen und das Ausatmen fiel ihr schwer. Immer wieder stieß sie die Luft aus; trotzdem ließ der Druck in ihrem Körper nicht nach. Selbst als sie spürte, dass sich keine Luft mehr in ihren Lungen befand und sie einatmen musste, fühlten sich ihre Bronchien an, als würde sie jemand mit einer Faust umklammern.

Als Naomi die Holzkugel an Romina weiterreichen wollte, nahm Nopaltzin ihre Hand, zog die Kugel zu sich und blies in das Loch, bis zarte Rauchschwaden aus dem Rohr waberten.

Die Kugel wanderte fünf Mal zwischen Nopaltzin, Naomi und Romina hin und her. Nopaltzin erklärte, dass sie nach dem Aztekenkalender unter der fünften Sonne lebten und für jeden Sonnengott ein Zug aus dem Rauchgerät genommen werden musste. Beim letzten Zug schaffte es Naomi nicht mehr, den Hustenreiz zu unterdrücken. Ihr Körper wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt, bis ihr der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Sie beruhigte sich erst wieder, als sie den Kopf zwischen die Knie nahm und flach durch die Nase ein- und ausatmete.

Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, setzte sie sich auf und sah zu Romina, die offenbar keine Probleme mit dem Rauchen hatte.

Der komplette Innenraum war in Rauchschwaden gehüllt und Naomis Augen brannten.

Nopaltzin legte die Pfeife auf das Adlersymbol in der Mitte des Tempelraums, lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Schließt eure Augen und versucht jeden weltlichen Gedanken zu verbannen. Nur so werdet ihr offen für das Kommende sein.« Im Anschluss begann Nopaltzin ein Lied zu summen.

Schon nach kurzer Zeit hörte Naomi die Klänge der Melodie direkt in ihrem Kopf. Der Druck in ihrer Brust ließ nach und in ihrem Kopf breitete sich eine ungewohnte Leichtigkeit aus. Die anfängliche Furcht vor dem Unbekannten wich einer unbestimmten Neugierde.

Wie durch Watte vernahm sie Nopaltzins Stimme, als er begann, von den damaligen Ereignissen zu berichten. Seine Worte verschwammen mit Bildern und plötzlich tauchte vor Naomis geistigem Auge eine fremde Landschaft auf. Es fühlte sich an, als würde sie die Landschaft überfliegen, denn sie sah diese atemberaubende Stadt aus der Vogelperspektive. Umgeben von grünen Gebirgsketten, von leicht rauchenden Vulkanen, lag eine im Schachbrettmuster angelegte Stadt inmitten eines gewaltigen Sees. Die aus Tausenden von verankerten Flößen entstandene Stadt wurde durch fünf Dammstraßen zum Festland verbunden. Unterbrochen wurden die aus Erde und Stein gebauten Dämme durch bewegliche hölzerne Brücken. Einige waren für den Durchgang geöffnet, andere waren verschlossen. Eine Stadtmauer schien diese Stadt nicht zu benötigen, da sie komplett vom Wasser umschlossen war. Naomi sog die unglaublich frische Luft ein und nahm Gerüche wahr, die sie noch nie gerochen hatte. Alles roch satt und rein.

Das Zentrum der Stadt bildete ein großer Marktplatz, wo reges Treiben herrschte. Die Händler boten Federn, Lederschurze, Körbe, Kakaobohnen und Getreide an. Am Ende des Marktplatzes ragte ein Tempel in die Höhe. Etwas Prächtigeres hatte Naomi noch nie gesehen. Pyramidenförmig thronte das Gebäude über der ganzen Stadt. Breite Treppenstufen führten nach oben zu zwei Wohnhäusern, die auf der obersten Plattform erbaut waren. Die gesamte Stadt lag den beiden Wohnhäusern zu Füßen.

Die Stadt schien in vier Bezirke aufgeteilt zu sein, denn in jede Himmelsrichtung war ein etwas breiterer Wasserkanal, der die Stadt unterteilte. Ein unglaubliches Labyrinth aus Gassen und Kanälen verband die einzelnen Bezirke. Alles in dieser Stadt schien streng geordnet zu sein.

Die Gärten waren mit tropischen Blumen angelegt; Blumen und Pflanzen, die Naomi noch nie zuvor gesehen hatte. Rote, weiße, orangerote und gelbe Blütendolden hingen dick an hochgewachsenen Stauden. Naomi vermochte den süßlichen Duft der Blumen deutlich zu riechen, obwohl sie immer noch über der Stadt zu schweben schien.

Manche Gebäude ragten mehrstöckig in die Höhe und die prachtvollen Gartenanlagen waren von den Besitzern liebevoll eingezäunt worden. Andere Bauten wiederum waren nur auf Pfählen errichtet und wirkten dagegen einfach und zweckmäßig.

Naomi wusste, dass sie Tenochtitlán unter sich sah. Die Aztekenstadt, wie sie vor sechshundert Jahren ausgesehen hatte. Der Anblick verzauberte sie.

Neben dem großen Haupttempel befanden sich mehrere kleinere Tempel. Manche waren pyramidenförmig, andere hatten zwiebelförmige Dächer und weitere erinnerten an Tribünen. Aus Naomis Sicht sahen die auf den Dämmen umhereilenden Menschen aus, wie eine eifrig dahineilende Ameisenstraße.

Naomis Blick näherte sich dem Templo Mayor, der höchsten Tempelanlage. Dort sah sie einen Azteken vor einem der beiden Wohnhäuser stehen und auf die Stadt hinabsehen. Auf seinem Kopf trug er einen beeindruckenden Federschmuck, der durch ein goldenes Stirnband zusammengehalten wurde. Bekleidet war er mit einem farbenprächtigen Umhang, der ihm lang über den Rücken fiel und vor seiner Brust befestigt war. Sonst trug er nur ein gemustertes Hüfttuch, das seine Geschlechtsteile bedeckte. Bis auf den Umhang waren seine Brust, Arme und Beine nackt, und die Muskeln seines gesamten Körpers waren stark ausgeprägt. Obwohl Naomi noch nie ein Bild von Moctezuma gesehen hatte, glaubte sie, dass es sich nur um den früheren Herrscher von Tenochtitlán handeln konnte.

Ebenso erkannte sie Hernán Cortés an seiner silbern schimmernden Rüstung und dem mit roten Federn geschmückten Helm, als er auf seinem Schimmel über einen der Dämme in die Stadt einritt. Er sah jünger und besser aus, als auf den Bildern, die sie von ihm gesehen hatte.

Neben ihm ritt eine dunkelhaarige Frau, deren Gesicht Naomi wegen eines umgelegten Umhangs nicht sehen konnte.

Je näher Hernán Cortés und sein Trupp an den Tempel heranritten, desto besorgter wirkte Moctezumas Gesicht.

Als Moctezuma die Reiter auf den Marktplatz einreiten sah, sagte er zu seinem Sohn: »Quetzalcóatl erweist uns die Ehre, genau wie es die Götter vorhergesagt haben. Sieh nur seinen prächtigen Kopfschmuck an und auf welch gottgleichem Tier er zu uns kommt.« Moctezumas Augen glänzten. »Und wie in meiner Vision, wird er begleitet von einer Frau aus unserem Volk. Es war richtig ihn mit Edelsteinen, Gold und feinen Stoffen zu beschenken, als wir durch unsere Späher erfahren haben, dass er zu uns auf die Erde gekommen ist. Auch wenn ich gehofft habe, er würde nicht zu uns kommen, sondern unserem Volk nur die vorausgesagten reichen Ernten bringen. Denn ich bin unwürdig, einen Gott in meinem Haus zu beherbergen.«

Moctezumas Sohn nickte und betrachtete die Ankunft der Fremden aus der Ferne, während der Herrscher zur Begrüßung des Gottes die Tempelstufen hinabging.

Überrascht stellte Naomi fest, dass sie die fremdartigen Worte verstehen konnte.

Als Naomi die junge Aztekin, die nun das Tuch abnahm, erblickte, erschrak sie. Ihre Ähnlichkeit mit der Aztekin war unverkennbar. Sie hatte die gleichen grünen Augen, ähnliche Gesichtszüge und dasselbe schwarze Haar.

Es konnte sich nur um eine Vorfahrin handeln. Der Gedanke ließ Naomi zittern.

Die junge Aztekin namens Malintzin übersetzte Moctezumas Begrüßungsworte, und als sie wegen seiner ehrfürchtigen Begrüßung erkannte, dass der Herrscher den Spanier Hernán Cortés für den Gott Quetzalcóatl hielt, ließ sie ihn in dem Glauben. Zusätzlich überzeugte sie den Aztekenhäuptling, sie übermittle den Willen der Götter und setzte so die Forderungen der Spanier nach Proviant und Unterkunft durch.

Naomi wusste nicht viel über die Geschichte Mexikos, doch verstand sie sehr wohl, dass Malintzin ein falsches Spiel mit dem Häuptling spielte.

Moctezuma neigte daraufhin seinen Kopf, berührte mit den Fingern den Erdboden vor seinen Füßen, führte die Hand zum Mund und unterwarf sich mit dieser Geste dem Willen der Götter. Gottesfürchtig überließ er Hernán Cortés den Thron, den Palast und die Macht.

Die folgenden Bilder verschwammen, doch sah Naomi wie Cortés in den darauf folgenden Tagen über den Marktplatz schritt und die Tempelanlage von Tenochtitlán besichtigte.

Moctezuma erlaubte den Eindringlingen, in seinem Palast eine Kapelle zu erbauen. Heimlich wählten die Spanier eine andere Stelle, als die, die Moctezuma ihnen zugewiesen hatte. Bei den Arbeiten durchstießen die Spanier eine Mauer und standen völlig unvermittelt in der Schatzkammer Moctezumas.

Kaum hatten sie die Reichtümer entdeckt, ließ Hernán Cortés aus Habgier Moctezuma in seinem eigenen Palast gefangen nehmen. Um seine Festnahme zu rechtfertigen, behauptete er den Azteken gegenüber, Moctezuma habe den Befehl zu einem Angriff auf einen spanischen Trupp befohlen.

Naomi sah die riesige Armee der Jaguarkrieger, die sich auf dem Marktplatz versammelte und für einen Kampf bereithielt, und verstand nicht, wie Moctezuma so dumm sein konnte, sich widerstandslos von den spanischen Soldaten in seiner eigenen Stadt gefangen nehmen zu lassen. Naomi hätte am liebsten geschrien, er solle sich das nicht gefallen lassen; doch sie sah Ereignisse, die längst vergangen waren.

Erleichtert bemerkte sie, dass die Jaguarkrieger sich besprachen und ihren Herrscher anflehten, etwas gegen die Eindringlinge zu unternehmen, doch Moctezuma weigerte sich einzugestehen, es nicht mit Göttern, sondern mit listigen Soldaten zu tun zu haben, die ihn an der Nase herumgeführt hatten.

Moctezumas Untätigkeit heizte die Stimmung unter den aztekischen Adligen an, auf den Straßen brodelte es und die Zweifel an ihrem Herrscher wurden immer größer.

Naomi bangte mit dem Volk, das sich hoffentlich bald zur Wehr setzen würde.

Später war auf dem Marktplatz alles mit Blumen geschmückt, Lebensmittel lagen ausgebreitet auf den Steinstufen der einzelnen Tempelanlagen und Musik erklang. Die Musikinstrumente waren Naomi fremd. Sämtliche Flöten gaben merkwürdige Laute von sich und hatten die Form von Tierkörpern: Entenflöten, Flöten in Form eines Adlerkopfes oder in der eines Frosches. Ebenfalls gab es Rasseln aus getrockneten Kürbissen. Die aus diesen Instrumenten ertönende Musik hatte etwas Schauriges. Kein Ton schien zum anderen zu passen; zumindest nicht für Naomis Ohren. Doch den Azteken gefiel es, sie verharrten, lauschten, musizierten selbst, bis in der Menge ein Tumult ausbrach. Cortés` Männer fielen über die Menschen her. Die Soldaten metzelten Männer, Frauen und Kinder nieder; wer ihnen auf dem Platz begegnete, kam nicht mit dem Leben davon.

Die Brutalität und das viele Blut ließen Naomi würgen.

Diesmal zögerten die Jaguarkrieger nicht einzugreifen, und sie trieben die Spanier in ihre Wohnbereiche zurück. Doch ohne Moctezumas ausdrücklichen Befehl schienen es die Krieger nicht zu wagen, die Spanier einfach zu töten. Trotzdem blieb der Palastbereich, in dem sich die Soldaten aufhielten, auch ohne weiteren Befehl unter der strengen Überwachung der Jaguarkrieger.

Als Hernán Cortés zwei Tage später nach Tenochtitlán zurückkehrte, verlangte er, dass die spanischen Truppen mit Lebensmitteln versorgt werden sollten, was ihm das aztekische Volk verweigerte. Im Palast erfuhr er, dass sein kommandoführender Offizier wegen des Stimmungswechsels unter den Adligen den Befehl gegeben hatte, die Aufständischen beim Frühlingsfest töten zu lassen, obwohl dies nicht mit Hernán Cortés abgesprochen gewesen war.

Daraufhin holte Cortés Moctezuma aus seinem Quartier und zwang ihn auf den Marktplatz, um zu seinen Untertanen zu sprechen und ihnen zu befehlen, seine Leute zu versorgen. Moctezuma gehorchte und forderte sein Volk auf, den Widerstand aufzugeben.

Moctezumas Sohn stand zwischen den Jaguarkriegern. Sein Gesicht war zornesrot. Er griff nach einem faustgroßen Stein, warf ihn nach seinem Vater und beschimpfte ihn als Feigling; weitere Steinwürfe folgten.

Moctezumas Leibdiener trugen den Verletzten zurück in seine Räume, wo er den Kriegsgott Tepeyollotl anflehte, in seinem Namen Rache zu üben. Moctezuma wusste um das Liebesverhältnis von Malintzin mit Hernán Cortés und bat den Kriegsgott die Nachfahren, die aus der verräterischen Verbindung von Malintzin und Hernán Cortés hervorgingen, zu verfluchen. Eine aus seinem Volk hatte ihn verraten, und sie musste bestraft werden. Tepeyollotl gewährte dem sterbenden Moctezuma den Wunsch, senkte seinen Stab herab, richtete über die Nachfahren der beiden Eindringlinge und offenbarte Moctezuma in einer Vision, was aus deren Nachfahren werden sollte.

Naomi sah, wie sich während dieser Vision ein junger Mann in einen Panther verwandelte. Sie sollten zu Seelenbegleitern werden. Ihre Aufgabe sei es, die verstorbenen Jaguarkrieger, die im Kampf gegen die Spanier gefallen waren, zu ihm zur Sonne zu begleiten. Tepeyollotl erklärte weiter: »Dem Kriegsgott, der in Jaguargestalt die fünfte Sonne auf die Erde brachte, dem sollt ihr dienen und damit ihr euch eures Erbes bewusst bleibt, werdet ihr, wenn der Mond voll ist, in der Gestalt der Seelenbegleiter an eure Aufgabe erinnert. Bis ans Ende der Zeit.«

Nachdem Moctezuma diese Worte vernommen hatte, starb er.

Naomis Blick war starr auf den toten Herrscher gerichtet. Ihr Verstand schien wie in Watte gepackt, und sie war nicht in der Lage zu denken. Die Bilder des toten Herrschers verschwammen vor ihren Augen und machten anderen Platz.

Naomi sah Malintzin mit hochschwangerem Bauch in den Wehen. Als ihr Sohn geboren wurde, trat Hernán Cortés neben sie, nahm ihr das Kind aus den Armen und erklärte: »Er wird Martín heißen, nach meinem Vater. Ich werde ihn mit mir nehmen und gut für ihn sorgen. Du weißt, ich bin verheiratet und ich kann dich nicht mit mir nach Spanien nehmen. Einige meiner Offiziere werden hier bleiben, und du kannst dir einen auswählen, der dich heiraten und versorgen soll.«

Naomi sah, wie Hernán Cortés den Raum verließ und Malintzin mit Tränen in den Augen zurückließ.

Das Bild löste sich in Nebel auf und das nächste, was Naomi erkennen konnte, war Noplatzins erschöpftes Gesicht, der ihr gegenübersaß und sie aus trüben Augen anblickte.

In den kommenden fünf Minuten sprach keiner ein Wort. Jeder schien das Gesehene und Erlebte verarbeiten zu müssen.

Romina starrte auf einen Punkt über Nopaltzin und schwieg.

Nopaltzin legte den Kopf schräg und rieb sich das Kinn. »Ich bin selbst überrascht, wie klar ich die Bilder sehen konnte. Niemals hätte ich damit gerechnet, in die Vergangenheit sehen zu können.«

»Die Bilder waren unglaublich und es war richtig unheimlich, trotz der fremden Sprache zu verstehen, was gesprochen wurde.« Naomi strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Warum hat Malintzin die Azteken überhaupt verraten?«, fragte Naomi. Die Rolle dieser jungen Frau ließ sie nicht los. Noch immer hatte sie ihr trauriges Gesicht vor Augen, als Hernán Cortés ihr das Kind aus den Armen genommen hatte.

»Malintzins Geschichte ist in Mexiko allen bekannt. Viele Ureinwohner hegen immer noch einen tiefen Groll gegen sie, weil die Spanier großes Leid über sie gebracht und ihr Reich zerstört haben. Doch in der heutigen Zeit wird sie von vielen als die Begründerin des mexikanischen Volkes verehrt.« Er schüttelte den Kopf. »Im Grunde war Malintzin nur ein junges und verzweifeltes Mädchen, welches von der eigenen Familie verraten wurde. Gebürtig war sie nämlich von edlem Blut, doch als ihre Mutter erneut heiratete und ihrem neuen Mann einen Sohn schenkte, sollte der Neugeborene das Erbe antreten. Malintzin musste verschwinden. Ihre Mutter hat sie an einen Sklavenhändler der Maya verkauft. Hernán Cortés geriet nach seiner Landung an der Küste Mexikos in Auseinandersetzungen mit den Maya. Die haben sich aus Angst vor den mächtigen Pferden und den bis dahin unbekannten Schusswaffen schnell unterworfen. Sie glaubten, es handle sich um Gotteskrieger. Und um die Krieger milde zu stimmen, schenkten sie Cortés Schmuck und Frauen. Darunter war auch Malintzin.«

»Ihre eigene Mutter hat sie als Sklavin verkauft?«, unterbrach Naomi seine Erzählung. »Das arme Mädchen.« Naomi mochte sich nicht vorstellen, was die junge Frau hatte alles durchmachen müssen.

Nopaltzin griff nach seiner Wasserflasche und trank sie zur Hälfte leer, bevor er sie an Naomi weitergab, die ebenfalls einen kräftigen Schluck trank. Romina lehnte ab. Sie saß bewegungslos auf ihrem Platz und sah Nopaltzin an, bis er weitererzählte.

»Es stellte sich heraus, dass Malintzin nicht nur Maya, sondern auch Náhuatl beherrschte und die Nachrichten der Abgesandten Moctezumas zu übersetzen wusste, was ihr Besitzer, einer von Cortés` Offizieren, bemerkt hatte und seinem Vorgesetzten Bericht darüber erstattete. Es dauerte nicht lange, bis Malintzin durch ihren Umgang mit den Spaniern auch die spanische Sprache sprechen konnte. Schnell entwickelte sie sich von einer Sklavin zu Hernán Cortés` Dolmetscherin und kurz darauf auch zu seiner Geliebten.« Er seufzte. »Malintzin verlor durch den Verrat ihrer Mutter die Wurzeln zu unserem Volk und versuchte, ihr Leben durch ihre eigene Geschicklichkeit selbst zum Guten zu wenden. Sie fühlte sich weder den Maya noch den Azteken verbunden. Malintzin zögerte nicht, ihr eigenes Volk zu verraten, als es für sie vorteilhaft war. Eine Entscheidung, die man irgendwie nachvollziehen kann. Die tatsächliche Schuld trifft Malintzins Mutter.«

»Was ist aus ihr geworden?«, fasste Naomi nach.

»Über ihr weiteres Leben ist nicht viel bekannt. Sie soll jung gestorben sein.«

»Der Fluch begann also erst mit ihrem Sohn Martín und nicht schon vorher. Zumindest habe ich es so verstanden.« Naomi überlegte laut. »Sagtest du nicht, ich müsse noch weiter in der Zeit zurückgehen, als bis zu Martín?«

»Ich habe mich offenbar geirrt. Der Fluch besagt eindeutig, dass nur die Nachfahren zu Seelenbegleitern werden«, antwortete Nopaltzin.

»Das spielt doch überhaupt keine Rolle mehr«, wandte Romina ein. »Was mich viel mehr interessiert, ist der Ausspruch: bis ans Ende der Zeit. Was bedeutet das in eurer Kultur? Du hast gesagt, ihr lebt heute unter der fünften Sonne. Was bedeutet das für die Zukunft? Wir man uns jemals verzeihen?« Romina verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

Nopaltzin grunzte leise. »Die Götter vergeben, wenn der Mensch vergibt.«

Romina seufzte. »Ein Feind, der mir verzeiht, wird mir kaum über den Weg laufen. Und ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich unseren Feinden selbst nie verzeihen könnte. Nicht, nachdem was sie mir und meiner Familie angetan haben. Also bleiben wir, was wir sind, bis ans Ende unserer Tage.«

Nopaltzin sah Romina an. »Die Zeit der fünften Sonne neigt sich dem Ende zu. Dieses Jahr im Dezember wird sie untergehen. Doch bedeutet das tatsächlich das Ende der Zeit?« Er schüttelte den Kopf. »Es wird eine neue Sonne geben, die uns ein anderer Gott überbringen wird. Dieser Gott wird dann während der sechsten Sonne als der höchste Gott verehrt werden. Also könnte eine Erlösung für euch denkbar sein, da ein anderer Gott über die Erde wachen wird.«

Romina senkte den Blick und flüsterte: »Im Dezember also.« Plötzlich stand sie auf. »Eine Frage stellt sich mir dabei. Ich frage mich - sollte es im Dezember diesen Jahres tatsächlich so weit kommen, dass der Fluch aufgehoben wird - ob ich künftig normal altere, plötzlich steinalt sein werde oder womöglich sogar einfach tot umfalle, nachdem ich bereits einige Leben aufgebraucht habe. Das ist ein Punkt, der mich wirklich interessieren würde.« Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck wandte sie sich ab, stand auf und verließ den Raum.

»Ich verstehe nicht genau, was sie mit ihrer Frage meint.« Nopaltzin erhob sich ebenfalls.

»Romina verfügt über sieben Leben. Einige hat sie bereits in Kämpfen verloren. Sie ist nicht dreißig, sondern siebenundneunzig Jahre alt.« Naomi überlegte kurz, ob die Aufhebung des Fluchs tatsächlich Gutes für ihre Familie brächte oder ob sich daraus nur weiteres Leid entwickeln würde. Für Romina könnte es das Todesurteil bedeuten.

Naomi spürte Nopaltzins Blick auf sich ruhen.

»Wie kann das sein? Ihr seht wie Schwestern aus. Im Grunde könntet ihr sogar Schwestern von Malintzin sein, so groß ist die Ähnlichkeit mit ihr. Wie ist das möglich?«

»Romina ist meine Urgroßmutter. Sie erlangte sieben Leben, weil sie sich mit einem jungfräulichen Clanmitglied einließ. Iker, Rominas Sohn, wurde in dieser Nacht gezeugt und verfügt über besondere Fähigkeiten. Er kann unsere Gedanken lesen. So ist es auch bei meinem Sohn. Deine Götter hatten noch mehr Überraschungen für uns auf Lager.«

Nopaltzin rieb sich das Kinn. »Darüber weiß ich nichts. Ich kann dir nur sagen, was mir von meinen Vorfahren überliefert wurde und versuchen zu deuten, was wir heute gesehen haben.«

Naomi stand ebenfalls auf, um draußen nach Romina zu sehen.

Die von schwachen Scheinwerfern beleuchtete Außenanlage wirkte mystisch und geheimnisvoll. In diesem Licht konnte sie sich die alten Gemäuer besser in ihrer ursprünglichen Form vorstellen, als bei hellem Tageslicht; vor allem, nachdem sie noch deutlich die Tempelanlagen von Tenochtitlán vor Augen hatte.

Romina saß auf der obersten Treppenstufe der Steintribüne links des Tempels und sah winzig aus, wie sie so zusammengesunken dasaß. Auf der Tribüne fänden über zweihundert Menschen einen Sitzplatz.

Naomi stieg die Treppenstufen des Tempels hinab, überquerte den Hauptplatz und erklomm die Stufen. Oben angelangt setzte sie sich auf eine Stufe unterhalb von Romina und sah zu ihr hinauf. »Alles in Ordnung mit dir?« Ein kühler Wind wehte über sie hinweg. Naomi löste das Sweatshirt, das sie bisher um die Hüften geschlungen hatte, und schlüpfte hinein. Die Jeansjacke hatte sie im Tempel liegen gelassen.

Romina seufzte und sah Naomi in die Augen. »Ich versuche, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich vielleicht nur noch sechs Monate zu leben habe. Erst hat mich der Gedanke erschreckt, doch je länger ich darüber nachdenke, desto weniger ängstigt er mich. Der Kampf wäre endlich vorüber. Und ob ich nun in dieser Nacht sterbe, alt werde oder mein jetziges Aussehen behalte, um noch weitere fünfzig Jahre zu leben ... es spielt keine Rolle. Nicht mehr. Ich bin bereit, egal was kommen sollte. Für Jason und Katie wäre es eine Erlösung und für dich ebenfalls. Du könntest in Frieden leben und ein normales Leben führen.« Romina erhob sich. »Brenda und Leandra sitzen dort hinten.« Sie zeigte zum Tempel, der aus Naomis Perspektive verschwindend klein unter dem aufragenden Felsmassiv aussah.

Mit dem Rücken an der Felsenwand lehnten die beiden Frauen und sprachen mit einem Mann, dessen Gesicht Naomi aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte. Nopaltzin konnte es nicht sein, da er gerade den Tempel verließ und sich umsah.

»Lass uns zu ihnen gehen. Sie werden wissen wollen, was im Tempel vor sich gegangen ist«, sagte Romina und stand auf.

Naomi betrachtete den fast vollen Mond. »Was hast du anschließend vor? Fliegst du mit Brenda und Leandra zu Katie und Jason?«

Romina ließ ihren Blick über die Anlage schweifen. »Wenn ich ehrlich bin, würde ich die beiden Vollmondnächte gerne hier verbringen. Ich werde Nopaltzin fragen, ob er es mir erlaubt und ob es hier sicher für mich ist.«

Gemeinsam stiegen sie die Stufen hinab. Auf dem Hauptplatz stießen sie auf die anderen. Nopaltzin sprach immer noch leise mit Brenda und Leandra. Der andere Mann war Ichtaca, der sich etwas zurückfallen ließ.

»Die Geschichte ist das Verrückteste, was ich jemals gehört habe«, sagte Brenda. »Aber irgendwie glaube ich trotzdem jedes Wort davon.«

Leandra fixierte erst Naomi, dann Romina. »Ihr habt tatsächlich gesehen und gehört, was damals vor sich ging?«

Naomi nickte.

»Das muss unglaublich gewesen sein.«

Mit Grauen dachte Naomi an das Massaker während des Frühlingsfests und schwieg.

»Und wie soll es nun weitergehen?«, fasste Leandra nach.

Naomi zuckte mit den Schultern.

»Was hast du gesehen? Erzähl schon«, drängte Leandra. »Nopaltzin hat zwar schon einiges erzählt, aber vielleicht kannst du mir noch Genaueres darüber berichten. Ichtaca möchte erfahren, was sich während der Zeremonie zugetragen hat. Solange Nopaltzin es ihm erzählt, haben wir genug Zeit, um darüber zu sprechen, wie du die Nacht erlebt hast.«

Geduldig erzählte Naomi, was sie in dieser Nacht gesehen hatte. Brenda und Leandra hörten atemlos zu, als sie die gewaltige Stadt beschrieb und was sich zugetragen hatte.

Nachdem Naomi geendet hatte, fragte sie, wie Leandra und Brenda die Nacht verbracht hätten.

Leandra lächelte. »Naja, wir saßen hier und haben gewartet. Trotzdem fand ich es herrlich, hier auf diesen Felsen zu sitzen und mich mit Brenda zu unterhalten. Obwohl fast Vollmond ist, trauten wir uns nicht herunter, weil wir einen Sturz nicht riskieren wollten. Sich hier oben den Knöchel zu verstauchen ... darauf wollten wir es beide nicht ankommen lassen.« Naomis Großmutter rieb sich über die Arme. »Mir ist immer noch ganz mulmig zumute. Plötzlich haben wir im Mondlicht eine Person über den Platz gehen sehen. Wir haben uns zu Tode erschreckt, bis Brenda erkannte, dass Ichtaca auf uns zukam. Er schaltete die Außenbeleuchtung ein und wunderte sich darüber, dass sein Vater uns hier im Dunkeln sitzen gelassen hat. Er hat sich zu uns gesetzt und Brenda übersetzte die Unterhaltung. Ich habe den jungen Mann eigentlich nur angestarrt. Der sieht aber auch gut aus!«

Naomi prustete los. »Oma, also wirklich! Was hat er über sich erzählt?«

»Er ist nicht verheiratet, aber das interessiert dich vermutlich nicht.« Leandra grinste breit.

Amüsiert schüttelte Naomi den Kopf, wenn sie auch zugeben musste, dass Ichtaca der mit Abstand attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte.

»Schau mich nicht so an, ich erzähle ja schon.« Leandra setzte sich auf die unterste Treppenstufe des Tempels. »Ichtaca hat seinen Vater wohl regelmäßig geneckt, weil er darauf bestand weiter Englisch zu lernen. Außerdem hat Ichtaca den alten Geschichten keine Bedeutung mehr beigemessen. Früher hatte Ichtaca den Erzählungen seines Vaters gerne gelauscht. Sie waren für ihn wie Gutenacht-Geschichten. Aber er hat nach all den Jahren nicht mehr damit gerechnet, dass Brenda jemals wieder kommen würde. Sein anfängliches Interesse an der eigenen Religion verdrängte der Kampf ums tägliche Leben. Von den jungen Azteken hat ja kaum jemand feste Arbeit.

»Brenda sprach davon«, sagte Naomi ein.

»Ichtaca ist seit damals nie wieder einem Jaguar begegnet und die Erinnerung daran verblasste immer weiter. Die Religion seiner Vorfahren hat für ihn einfach an Bedeutung verloren; bis Ichtaca dich das erste Mal gesehen hat. Danach war für ihn alles anders. Er hat erkannt, dass sein Vater sich nicht geirrt hat und am liebsten hätte er heute an dieser Zeremonie teilgenommen. Doch Nopaltzin hat es ihm ebenfalls verboten. Erst hat er es seinem Vater übel genommen, darum ist er auch nicht mit hierher gekommen. Später dann hat er es sich anders überlegt. Er ist über den Zaun geklettert und hat hier mit uns gewartet, bis ihr aus dem Tempel gekommen seid.«

Nachdem auch Nopaltzin seinem Sohn alles erzählt hatte, trat Romina auf ihn zu und bat ihn, die kommenden Vollmondnächte in der Tempelanlage verbringen zu dürfen.

»Darf ich in diesen Nächten anwesend sein?«, fragte er. »Es wäre mir eine große Ehre, dich als Seelenbegleiterin in deiner verwandelten Form zu beobachten.«

Romina zögerte.

»Ich wäre ebenfalls gerne bei dir«, fügte Leandra hinzu.

Romina schien einen Moment darüber nachdenken zu müssen. »In Ordnung. Aber nur, wenn es hier draußen außer mir niemanden gibt.« Romina suchte Nopaltzins Blick. »Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen.«

Nopaltzin schüttelte den Kopf. »Es gibt nur dich. Hier wird dir nichts geschehen und du musst dich auch nicht um uns sorgen.« Er ging einen Schritt auf Romina zu und griff nach ihrer Hand. »Darf mein Sohn ebenfalls hier sein? Erst seit er euch kennt, interessiert er sich wieder für unsere Religion. Bitte.«

Widerstrebend willigte Romina ein.

Naomi konnte die Bitte ihrer Urgroßmutter verstehen. Das Kraftfeld, das von dieser Stätte ausging, war einmalig und um ein Vielfaches stärker, als sie es an den bisherigen Treffpunkten verspürt hatte. Wenn Roman nicht auf sie warten würde, wäre sie selbst gerne geblieben. Vielleicht würde sie eines Tages zurückkommen und selbst eine Vollmondnacht auf diesem Gelände verbringen. Doch nun musste sie zurück. Naomi hatte es Roman versprochen, doch nicht nur ihr Versprechen trieb sie nach Hause. Auch traute sie Pilar nicht über den Weg.

Das Nachtblau des Himmels hellte sich auf, und sie beschlossen zurückzugehen. Ihr Flug nach Barcelona würde in sieben Stunden gehen. Es war Zeit aufzubrechen.