Elf

Das Taxi setzte Naomi am Flughafen ab. Nachdem sie eingecheckt hatte, eilte sie zur Flughafenkontrolle, wo sie ungeduldig darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Direkt nach der Kontrolle zog sie ihr Handy aus der Tasche, suchte nach Leandras Telefonnummer und drückte auf die Wahltaste. Während des Verbindungsaufbaus hastete sie weiter zum Fluggate. Die Maschine würde in dreißig Minuten starten, und sie wollte noch vor ihrem Abflug wissen, wann Leandra, Romina und Brenda in Mexico City landeten, denn Naomis Maschine würde erst kurz vor Mitternacht auf dem Flughafen ankommen.

Nach dem dritten Klingeln nahm Leandra das Gespräch entgegen. »Hallo Oma. Und, wann werdet ihr landen?« Im Eilschritt suchte sie nach den Wegweisern zu ihrem Gate und entdeckte mit Erleichterung, dass es nur etwa einhundert Meter weiter zu ihrer Rechten lag. Sie verlangsamte ihre Schritte.

»Rennst du?«, fragte Leandra.

»Nicht mehr. Und?«

»Wir fliegen mittags los und landen um vier. Wir werden aber am Flughafen auf dich warten. Brenda meinte, es sei zu gefährlich dich alleine mit einem Taxi in die Stadt fahren zu lassen. Es sind jede Menge nicht lizenzierte Taxen unterwegs und die sind schwer von den offiziellen zu unterscheiden. Deswegen werden wir auf dich warten und zusammen ins Hotel fahren. Brenda wollte drei Zimmer reservieren, doch es waren nur noch zwei frei. In der Stadt ist irgendein Rockfestival und die besseren Hotels sind rappelvoll. Also müssen wir uns eben eines mit Brenda teilen.«

Die Flughafenansage forderte zum Einsteigen auf. »Oma, wir boarden gleich und ich will noch kurz Roman anrufen. Wir sehen uns dort, ja?«

»Guten Flug und bestell Roman schöne Grüße.«

»Euch ebenfalls guten Flug und danke, dass ihr auf mich warten wollt. Und wegen des Zimmers ... ich kann bei Brenda im Zimmer schlafen, falls es euch so lieber ist. Tschüss.«

Naomi legte auf und drückte die Kurzwahltaste, um Roman anzurufen.

Nach dem ersten Klingeln hörte sie ihn sagen: »Du sitzt noch nicht im Flugzeug?«

»Noch nicht. Aber gleich geht´s los.« Naomi reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. »Du fehlst mir.«

»Ist alles okay? Du hörst dich niedergeschlagen an.«

»Mir graut nur vor der Reise. Zwölf Stunden eingesperrt in dieser Blechdose. Und das vermutlich für gar nichts. Wer behauptet, fliegen sei ein tolles Erlebnis, lügt oder fliegt zum ersten Mal. Es ist viel langweiliger als Busfahren. Da sieht man wenigstens etwas, wenn man aus dem Fenster sieht.«

»Versuch einfach, sobald du in Madrid umgestiegen bist, zu schlafen.«

Naomi brummte.

»Du musst dir nur deine Vokabeln vornehmen und ich verspreche dir, dann fallen dir sofort die Augen zu.«

Sie hörte Roman lachen. »Ja, ja, mach dich nur lustig über mich. Ich muss Schluss machen. Ich liebe dich. Und küss Kai von mir, ja?«

»Versprochen. Ich liebe dich auch.«

Naomi reichte der Stewardess die Bordkarte und ihren Ausweis, ging durch den Zubringerschlauch und suchte in der Maschine nach ihrem Platz. Mal wieder ein Gangplatz. Wenigstens hatte sie für den Weiterflug einen Fensterplatz erhalten.

 

Zwei Stunden später bummelte Naomi durch die Geschäfte des Madrider Flughafens. In drei Stunden säße sie in der Maschine nach Mexiko. Nachdem sie ihre Sonnenbrille vergessen hatte, suchte sie sich ein günstiges Modell in einem Souvenirshop aus und erstand dazu noch drei deutsche Zeitschriften, bevor sie sich zu ihrem Abfluggate begab.

Dort rief sie erneut Roman an, um ausführlicher mit ihm zu sprechen und ihm zu erzählen, was Karsten bisher herausgefunden hatte. Zuvor hatte sie mit Karsten telefoniert, der leider nichts Neues über uneheliche Kinder vor Martíns Eheschließung in den Unterlagen entdeckt hatte. Es war einfach nichts in den Büchern zu finden. Der Bibliothekar bestätigte aber Karstens Verdacht, dass Martín in seinen jungen Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit einige Kinder gezeugt hatte, wie dies in den oberen Gesellschaftsschichten durchaus üblich gewesen war. Aus Liebschaften entstandener Nachwuchs wurde von den verheirateten Frauen gewöhnlich dem eigenen Ehemann untergeschoben. Der ungewollte Nachwuchs mit den Frauen des Dienstpersonals oder aus anderen Liebschaften wurde verleugnet oder mit Geldzahlungen abgeglichen. Der Bibliothekar versprach jedoch, weiter nach Unterlagen über Martín Cortés zu suchen. Vielleicht fänden sich ja doch noch Aufzeichnungen.

Die restliche Wartezeit verbrachte Naomi mit Lesen oder versunken in Grübeleien, was sie in Mexiko wohl erwartete. Es war zwar mühselig darüber nachzudenken, doch sie bemerkte, dass sie sich nicht auf die Artikel in der Zeitschrift konzentrieren konnte. Lustlos blätterte sie weiter, bis ihr Flug aufgerufen wurde.

Die Maschine war nur zur Hälfte ausgebucht, was Naomi zwei freie Sitze neben sich einbrachte. Vielleicht würde sie doch schlafen können; zumindest würde der Flug angenehmer verlaufen, als gedacht. Als die Maschine beschleunigte, sauste die Umgebung geradezu an ihr vorüber. Das Flugzeug hob ab und schwebte dem Himmel entgegen.

Nachdem sie die normale Flughöhe erreichten hatten, lockerte Naomi ihren Gurt, zog die Beine an und legte sie schräg über dem Nachbarsitz ab. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster, bis sie nur noch das offene Meer unter sich sah. Der Flug verging langsam und die Stunden krochen dahin. Einzig der Boardservice unterbrach die Langeweile für wenige Minuten. Nachdem sie das Pastagericht mit Tomatensoße und einen Salat verzehrt hatte, schob sie das Tablett auf die Ablage des unbesetzten Gangsitzes, lehnte sich an die Kabinenwand und stützte die Knie am Rücksitz vor ihr ab. Das Vokabelheft und die Grammatiktabelle auf dem Schoss lernte sie, bis ihr letztlich die Augen zufielen.

Naomi erwachte erneut, als ein Imbiss serviert wurde. Sie sah aus dem Fenster in die tiefschwarze Nacht. Der an der Kabinendecke angebrachte Bildschirm zeigte noch knapp zwei Stunden Flugzeit an.

Als die Flugzeit nur noch eine Stunde betrug, tauchten wie aus dem Nichts lang gezogene Lichterketten auf. Es schienen Orte zu sein, die an einen Hang gedrückt waren, zumindest erweckten die wie auf Perlenketten aneinandergereihten Lichter auf Naomi diesen Eindruck. Schon wenige Minuten später glitzerte unter ihr ein endloser Lichterteppich. Der Pilot erklärte in diesem Moment, dass sie mit dem Landeanflug auf Mexico City begännen. Naomi wusste zwar, dass diese Stadt gigantisch groß war, doch ein Lichtermeer von Horizont zu Horizont? Wie gerne hätte Naomi diesen Anflug bei Tageslicht erlebt. Eine Stadt dieser Größe konnte sich Naomi nur schwer vorstellen. Nun verstand sie, aus welchem Grund Brenda gemeint hatte, es sei zu gefährlich, alleine in ein Taxi in dieser riesigen Stadt zu steigen. Wer in dieser Stadt verloren ging, würde es vermutlich auch bleiben.

Nachdem das Flugzeug seine endgültige Parkposition eingenommen hatte, spürte Naomi ein nervöses Ziehen in der Magengegend. Selbst wenn sie nicht daran glaubte, dass diese Reise irgendwelche neuen Erkenntnisse brächte, spürte sie eine Aufregung, die sich fast mit ihrer Ankunft in Bangor vergleichen ließ. Es war ein Schritt ins Unbekannte; in eine fremde Welt. Die Situation hatte etwas Surreales. Eine Nonne würde sie zu einem Aztekenhäuptling bringen und nach Antworten suchen, die er ihr kaum geben konnte. Überhaupt brannte sie darauf zu erfahren, was sie letztlich hierher geführt hatte. Leandra hatte zwar versucht, ihr am Telefon alles zu erklären, doch diese Begegnung mit dem Häuptlingssohn und dem Jaguar im Dschungel verstand sie immer noch nicht vollständig.

Während Naomi am Gepäckband auf ihre Reisetasche wartete, nutzte sie die freien Minuten, um mit Roman zu sprechen. Obwohl es in Deutschland erst sieben Uhr morgens war, meldete er sich sofort. Sie erzählte ihm, dass sie tatsächlich einige Stunden geschlafen hätte und sie aufgrund der aufregenden Situation überhaupt nicht müde sei. Sie versprach, sobald sie Romina und Leandra getroffen hatte, eine SMS zu schicken, damit er in Ruhe weiterschlafen konnte. Die Textnachricht tippte sie gleich in ihr Handy, dann musste sie nur noch auf Absenden drücken. Später würde sie vermutlich nicht mehr die Gelegenheit haben, Nachrichten zu schreiben.

Vor der Ankunftshalle wuselten die Menschen umher, wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Naomi presste ihre Reisetasche an sich und suchte zwischen den dunkelhäutigen Mexikanern nach einer Nonne. Vergeblich. Auch Leandras heller Haarschopf stach nicht aus der Masse hervor. Das Stimmengewirr wurde immer wieder unterbrochen vom Geschrei der herumstehenden Taxifahrer.

Mit einer ruckartigen Bewegung fuhr sie herum, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Im selben Augenblick sah sie in Rominas Gesicht und Naomi entwich ein erleichterter Seufzer. »Und ich dachte, um diese Uhrzeit sei der Flughafen verwaist. Hier geht es schlimmer zu, als auf einem arabischen Markt.«

Romina lächelte sie an. »Mit so einem Getümmel habe ich auch nicht gerechnet. Ohne Brenda würden sie uns für die Taxifahrt wahrscheinlich das doppelte abknöpfen.«

»Wo sind Oma und Brenda überhaupt?«, fragte Naomi, nachdem sie beide nicht entdecken konnte.

»Die warten draußen bei den Taxen. Brenda verhandelt vermutlich immer noch den Fahrpreis. Für eine Nonne ist sie ziemlich streitsüchtig.« Romina zog sie mit sich durch die Ankunftshalle. Die Luft im Gebäude betrug durch die zu hoch eingeschaltete Klimaanlage vielleicht achtzehn Grad Celsius und Naomi fror in ihrem T-Shirt.

Als sich die Schiebetüren zur Straße hin öffneten, lief Naomi wie gegen eine Wand. Durch den abrupten Temperaturwechsel blieb ihr auf offener Straße regelrecht die Luft weg. Nach Auspuffgasen stinkende Luft schlug ihr entgegen, gepaart mit einer Geräuschkulisse, die Naomi in solcher Lautstärke noch nie erlebt hatte.

»Komm schon«, drängte Romina und bahnte ihnen einen Weg durch die Menschenmenge.

Naomi folgte ihr und lauschte dem Stimmengewirr, was sie an einen laut summenden Bienenstock erinnerte. Im Sekundentakt drückte irgendjemand auf die Autohupe. In zwanzig Metern Entfernung entdeckte sie Leandra, die an einem laubfroschgrünen VW-Käfer lehnte und in ihre Richtung sah. Naomi reckte den Arm in die Luft und winkte ihr.

Leandra lächelte und schüttelte den Kopf, als Naomi sie zur Begrüßung umarmte. »Brenda nennt uns verrückt, aber sieh dir nur an, was für ein Taxi sie für uns ausgesucht hat. Sie meinte, mit dem Käfer kommen wir besser durch das Verkehrschaos.«

Naomi spähte ins Innere. Auf der Rückbank saß Brenda. Naomi grüßte sie und wunderte sich darüber, dass Brenda Jeanshosen und eine Baumwollbluse trug und nicht ihre Nonnentracht. Das Auto besaß nur zwei Türen, doch das hinderte den Taxifahrer nicht, seine Dienste mit diesem Fahrzeug anzubieten. Um den Fahrgästen den Einstieg zu vereinfachen, hatte er kurzerhand den Beifahrersitz ausgebaut und an dessen Stelle eine gepolsterte Klappstuhlkonstruktion eingebaut, die weit weniger Platz einnahm, als der ursprüngliche Sitz.

»Weißt du jetzt, was ich meine? Verkehrssicherheit sieht anders aus.« Leandra kroch ins Wageninnere, um neben Brenda Platz zu nehmen. »Wer von euch beiden diesen Notsitz nimmt, überlasse ich euch. Meine alten Knochen leiden in diesem Gefährt ohnehin schon genug.«

Brenda zog eine Augenbraue nach oben. »Diese Käfer verfügen über die besten Federungen aller Fahrzeuge in ganz Mexiko. Deine Knochen werden die Fahrt besser überstehen, als in jedem anderen Wagen hier.«

Naomi bedeutete Romina, sich nach hinten zu setzen. Nachdem Leandra, Brenda und Romina auf der Rückbank saßen, reichte Naomi ihnen ihre Reisetasche, da im vorderen Bereich kein Stauraum war und sie sich sicher war, sich mit beiden Händen abstützen zu müssen.

Der Taxifahrer schloss die Beifahrertür und stieg ebenfalls ein. Naomi konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie auf dem mit Samt ausgefütterten Armaturenbrett die Figur einer halb nackten Hawaiianerin im Baströckchen entdeckte. Darunter prangte das aufgeklebte Bild eines blonden Pin-up-Girls sowie ein Bild der Muttergottes, an dessen oberen Ende mit einer Reißzwecke ein Rosenkranz befestigt war. Naomi sah zu Leandra und machte sie mit einem Nicken auf die ausgefallene Cockpitdekoration aufmerksam. »Die Wege des Herrn sind unergründlich, oder so ähnlich.«

Brenda lächelte. »Und hier mehr als woanders, soviel kann ich dir bestätigen.«

Leandra lachte, während Romina zuerst einen Blick auf die Dekoration warf und anschließend in das Gelächter einstimmte. »Na, so was habe ich noch nie gesehen!«

Der Taxifahrer lenkte seinen Wagen in wildem Zickzack durch die Straßen. Verkehrsregeln schien es in diesem Land nicht zu geben. Er presste sich in jede noch so kleine Lücke, um nur ein Stückchen weiter voranzukommen. Selbst vor einer roten Ampel machte er nicht halt. Er tastete sich in die Kreuzung vor, hupte und bretterte mit Vollgas darüber, bevor der Gegenverkehr ihm den Weg abschneiden konnte. Automatisch krallte sich Naomi an ihrem Sitz fest und beobachtete fasziniert ihre Umgebung. Die Straßen waren zugestopft, doch das schien den Fahrer nicht davon abzuhalten, sich zwischen den anderen Fahrzeugen hindurchzuschlängeln.

Die Hochhäuser nahmen zu und bunte Reklametafeln erhellten die Nacht. Ragten die Wolkenkratzer eben noch hoch neben ihnen auf, veränderte sich das Straßenbild komplett, als der Fahrer rechts abbog und ein großer Platz vor ihnen lag. Er kurvte beinahe komplett um ihn herum, bis er den Wagen stoppte.

Brenda reichte dem Taxifahrer einige Pesoscheine und machte Naomi ein Zeichen auszusteigen. Sie standen direkt vor einem Holiday Inn Hotel. Dieser Hauptplatz maß mehr als zehn Fußballfelder und wurde von alten spanischen Kolonialbauten eingesäumt. Etwas Mystisches ging von dieser kahlen Fläche aus, auch wenn Naomi nicht sagen konnte, aus welchem Grund. Die gepflegten Gebäude waren von gelben Strahlern beleuchtet und inmitten des Geländes prangte ein etwa fünfzig Meter hoher Mast, an dessen Ende die mexikanische Flagge im Wind flatterte. Sonst befand sich nichts auf dem zubetonierten Platz. Kein Baum, kein Strauch, nicht einmal Parkbänke säumten die am Rand entlangführenden Straßen. Trotzdem spürte sie eine Kraft, die von dieser Stelle ausging, als befände sie sich auf ihrer Lichtung im Wald.

Sie trat einen Schritt zurück, um Leandra, Romina und Brenda aussteigen zu lassen. Zu ihrer Linken befand sich eine monumentale Kathedrale, die den nördlichen Abschluss des Platzes bildete. Auf der gesamten Ostseite lag lang gestreckt der Nationalpalast.

»Beeindruckend, nicht?«, fragte Brenda. »Die Geschichte dazu wird euch interessieren.«

»Seid ihr müde? Ich überhaupt nicht.« Naomi sah zu Brenda. »Lasst uns doch, sobald wir das Gepäck los sind, noch eine Runde drehen. Vielleicht gibt es hier auch noch ein geöffnetes Lokal, wo wir etwas trinken können.«

Leandra nickte begeistert. »Für mich hört sich das nach einem guten Plan an. Brenda?«

»Von mir aus gerne. Ich bin so lange nicht mehr hier gewesen. Erst jetzt merke ich, wie sehr mir dieses Land ans Herz gewachsen ist.« Brenda bedankte sich beim Taxifahrer, der kurz darauf wieder aufs Gaspedal drückte und in der Dunkelheit zwischen den anderen gelben und grünen VW-Käfern in der Menge untertauchte.

Nach dem Hotel-Check-in stellten sie nur ihr Gepäck in den Zimmern ab und verließen es gleich danach wieder. Trotz der späten Stunde waren noch viele Menschen auf dem Zócalo, wie ihn Brenda nannte, unterwegs und sie erklärte, der Zócalo in Mexico City stelle den größten Hauptplatz des Landes dar.

Brendas Augen leuchteten, als sie die Straße überquerte und vor der Kathedrale stehen blieb. »Nachdem ihr vermutlich nichts über die Geschichte der Azteken kennt und wir uns morgen auf die Suche nach Ichtaca, dem Häuptlingssohn, machen, versuche ich, euch deren Geschichte zu erzählen. Zumindest den Anfang.« Brenda sah von einer zur anderen. Ihr Blick blieb auf Naomi heften. »Wie mir Leandra erzählt hat, hast du nicht viel über Martín Cortés herausgefunden. Ich denke, es wird dich interessieren zu erfahren, dass wir in diesem Moment auf dem von Cortés vernichteten Aztekenreich Tenochtitlán stehen. Diese Kathedrale hier ...« Brenda drehte sich zum Hauptportal der Kathedrale. »... wurde auf den Trümmern des wichtigsten Tempels der Azteken erbaut. Dort drüben ...« Sie zeigte nach Osten. »... baute Cortés auf den Trümmern des Herrscherpalasts von Montezuma II seine neue Residenz. Ganz Mexico City steht auf Ruinen. Aus diesem Grund sackt auch die Kathedrale ab. Die Azteken sprechen von einem Fluch der Götter. Und vielleicht ist es auch so.« Brenda schob ihre Hände in die Hosentaschen.

»Vielleicht sollte diese Kathedrale niemals dort gebaut werden. Die Spanier gingen ja nicht gerade zimperlich mit diesem Volk um«, meinte Romina.

Naomis Körper durchfloss eine Kraft, die sie sich nach dieser langen Reise nicht erklären konnte. Sie warf Romina einen Seitenblick zu, doch diese betrachtete das Eingangsportal der Kathedrale.

»Da magst du recht haben. Doch heute ist es unsere Pflicht, diese Kirche zu erhalten. Sie war das erste katholische Gotteshaus, das in ganz Amerika gebaut wurde. Der Beginn des christlichen Glaubens.«

Naomi dachte amüsiert an das Armaturenbrett des Taxifahrers, wo ihm das Pin-up-Girl neben einem Heiligenbild den Tag erhellte. »Hast du nicht zu Romina und Leandra gesagt, die Azteken würden heute noch nach ihren Bräuchen und Riten leben?«

Brenda nickte zustimmend. »Es muss ein großartiger Anblick gewesen sein, als die Spanier Tenochtitlán erreichten. Der aztekischen Legende nach entsandten die Götter die Azteken aus dem Norden, um ein neues Reich aufzubauen. Sie sollten sich dort niederlassen, wo ein Adler mit gespreizten Flügeln und einer Schlange im Schnabel auf einem Kaktus sitzt und ihnen den Ort weist, an dem sie sich ansiedeln sollten. Ausgerechnet in einer moorigen Seelandschaft mit kleinen Inseln stießen sie auf den von den Göttern entsandten Adler. Wenn man die Legende beiseitelässt und auf die Geschichte zurückgreift, waren die Azteken ein vertriebenes Volk, welches, egal wo sie sich niederließen, vertrieben wurden, bis sie eines Tages hierher kamen. Da die Inseln vom Wasser eingeschlossen waren, lagen sie geschützt von der Außenwelt. Die Azteken verbanden die einzelnen Inseln mit Flößen, besser gesagt mit Pontons, die im Boden verankert waren und ihnen so einen festen Untergrund lieferten. Und so wuchs die Gemeinschaft, bis sie sich ein Imperium aufgebaut hatten und andere Völker unterwarfen.«

»Mit gefällt die Göttergeschichte besser«, sagte Leandra.

Naomi betrachtete die Flagge. »Den Mexikanern offensichtlich auch.« In der Mitte der dreifarbigen Flagge prangte ein auf einem Kaktus thronender Adler mit einer Schlange im Schnabel.

»Die sollte nachts überhaupt nicht dort hängen«, erklärte Brenda. »Die Flagge wird jeden Morgen von Militärmitgliedern gehisst und jeden Abend wieder heruntergelassen. Seit Jahren ist es ein Zeichen des Protests junger Aztekenmänner gegen die Regierung, eine Landesfahne verbotenerweise nach Einbruch der Dunkelheit zu hissen.«

»Und warum tun sie das?«, fragte Naomi.

»Früher kam es weniger häufig vor. Doch seitdem man versucht, die Kathedrale zu retten, und bei den Arbeiten Reste eines weiteren Aztektentempels entdeckt hat, wollen die Azteken durch Hissen der Fahne zeigen, dass dieser Platz eigentlich ihnen gehört. Immer noch werden sie zurückgedrängt und diskriminiert. Aus diesem Grund kommen die jungen Männer auch täglich auf den Platz. Geschmückt und herausgeputzt in ihrer früheren Tracht tanzen sie auf dem Zócalo. Die meisten Besucher denken, es sei eine Veranstaltung für die Touristen, doch der eigentliche Grund ist, auf sich und ihre Kultur aufmerksam zu machen. Ichtaca ist meist auch dort anzutreffen.«

Leandra gähnte. »Wollt ihr wirklich noch was trinken gehen? Mir reicht es für heute. Ich muss ins Bett.«

»Ja, lasst uns gehen«, befürwortete Romina Leandras Vorschlag.

Brenda nickte zustimmend. »Morgen wartet ein langer Tag auf uns. Etwas Schlaf wird uns gut tun.«