Siebzehn

Pilar stiegen die Tränen in die Augen, als Sammy den gefesselten Roman aus dem Kofferraum zerrte. Ihn Sammy gegenüber so ausgeliefert zu sehen, ließ sie innerlich beben. In der vergangenen Nacht hatte sie verzweifelt versucht, Sammy von seinem Vorhaben abzubringen. Er hatte nur gelacht und sie beiseite gestoßen. Sammys Bruder Christopher gehorchte ihm wie ein kleines Hündchen. Von ihm hatte sie keine Unterstützung zu erwarten, sollte Sammy auf der Lichtung durchdrehen. Wenn er mit dieser Entführung Naomi in den Wald locken wollte, dann hätte es ausgereicht, wenn er Kai mitgenommen hätte. Doch Sammy wollte, dass Roman zusehen musste, wie Naomi starb. Naomi mochte an Stärke gewonnen haben, aber mit Sammy könnte sie es kaum aufnehmen.

Pilar verschwieg Sammy, dass Naomi sich gegen Romina durchzusetzen wusste und wie hart sie trainiert hatte, fast so, als habe sie gewusst, dass sie eines Tages gegen Sammy würde kämpfen müssen.

Immerhin würde Iker nichts geschehen. Sammy und Christopher hatten ihn in den zweiten Stock geschafft und ihn gefesselt und geknebelt in einen der hinteren Räume gesperrt. Pilar hoffte, dass er in diesem verschnürten Zustand die Verwandlung überstehen und sich durch die Fesseln keine Verletzungen zuziehen würde.

Christopher drückte ihr Kai in die Arme. Der Kleine war während der Autofahrt eingeschlafen. Roman wirkte durch die Betäubung immer noch wie betrunken. Die Arme auf den Rücken gefesselt, torkelte und stolperte er durch den Wald. Sammy schien seine Hilflosigkeit zu amüsieren, zumal er ihn widerstandslos immer wieder voranstoßen konnte. Roman stürzte mehrfach. Ein Mal fiel er mit dem Gesicht auf eine Wurzel und zog sich eine Platzwunde an der Stirn zu. Obwohl die Wunde tief war und Roman Schmerzen haben musste, gab er keinen Ton von sich, was Pilar erstaunte.

Romans Stärke beeindruckte Pilar. Sie liebte ihn und würde nicht zulassen, dass ihm etwas geschah.

Je näher sie der Lichtung kamen, desto weniger stieß Sammy Roman voran. Er wollte unnötigen Lärm vermeiden. Pilar war davon überzeugt, dass Naomi kommen würde, wenn sie auch wusste, dass sie alleine kaum eine Chance hatte. Generell war es ihr gleichgültig, ob Naomi in dieser Nacht ums Leben kam, auch wenn das nicht Pilars ursprünglichem Plan entsprach.

Und Sammy hatte recht. Im Anschluss könnte sie Roman erneut betäuben, ihm den Kuss des Vergessens geben, und all die Ereignisse wären aus seinem Gedächtnis gelöscht. Nach einigen Stunden würde sie ihn aus dem Wald retten und so sein Vertrauen gewinnen. Es musste nur so aussehen, als käme sie zufällig vorbei. Alles würde klappen, sollte Sammy ein ehrliches Spiel mit ihr spielen. Doch sie traute ihm nicht.

Auf der Lichtung zwang Sammy Roman, sich unter einen Baum zu setzen. Er warf ein Seil über einen Ast, verknotete diesen mit der Armfessel und zog Roman in eine stehende Position hoch. Seine Arme zeigten in einem Neunziggradwinkel nach hinten, sodass Roman nur gebeugt stehen konnte.

»Muss das sein? Du tust ihm weh«, protestierte Pilar.

»Halt dich aus meinen Angelegenheiten heraus. Wenn du nicht den Mund hältst, dann sorgt mein Bruder dafür, dass du diesen Kerl nie haben wirst, verstanden?« Sammy wandte sich ab. »Was findet ihr nur an ihm. Er ist ein Schwächling und sieht noch nicht mal gut aus.«

Er besitzt alle Eigenschaften, die man sich an einem Mann nur wünschen kann, dachte Pilar, verkniff sich jedoch den Kommentar, um zu vermeiden, Sammy noch mehr gegen sich aufzubringen.

»Los, geht euch umsehen. Ich will keine Überraschungen erleben.« Sammy zog seinen Bruder zu sich. »Du weißt, was du zu tun hast. Sollte Naomi aus irgendeinem Grund gegen mich gewinnen, dann tötest du ihn und nimmst das Kind mit. Bis sie mit Pilar fertig ist, bist du längst verschwunden. Du musst nur leise sein.« Christopher nickte.

Als Pilar die geflüsterten Worte hörte, wusste sie, dass Sammy Roman niemals am Leben lassen würde.

 

*

 

Naomi saß reglos auf ihrem Aussichtspunkt und musste sich beherrschen, kein Geräusch zu verursachen, als sie beobachtete, wie Sammy Roman am Baum hochzog, dass ihm fast die Schultergelenke auskugelten. Eine Blutspur lief ihm über die linke Gesichtshälfte.

Pilar trug Kai und legte ihn in einen Korb neben Roman.

Als Sammy den anderen Kerl zur Seite nahm, standen sie direkt unter ihr. Naomi hielt den Atem an. Sie verstand nicht alles, was gesprochen wurde, nur, dass dieser Typ Roman töten sollte, wenn sie Sammy im Kampf überlegen wäre. Irgendwoher kannte sie diesen Mann. Es dauerte einige Zeit, bis ihr einfiel, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Das war der Typ, den sie in London auf dem Bahnhof und später in der Anwaltskanzlei gesehen hatte. Bedeutete das, dass Thursfield Junior sich ebenfalls hier aufhielt? Dann wäre sie verloren. Alleine gegen vier Gegner; das würde sie nicht schaffen. Niemals.

An den knackenden Geräuschen erkannte sie, dass sich die beiden Männer entfernten. Seitlich unter sich entdeckte sie Pilar, die sich verstohlen Tränen aus dem Gesicht wischte. Warum weinte Pilar, wenn sie sie doch eiskalt verraten hatte? Pilars Reaktion gab ihr weitere Rätsel auf.

Pilar ging auf Roman zu. Was sie zu ihm sagte, konnte Naomi nicht verstehen. Die Entfernung war zu groß.

Die Dämmerung brach herein. Bald wäre die Sonne untergegangen. In knapp einer Stunde wäre alles vorbei.

Sammy winkte Pilar zu sich. Sie setzten sich unter die größte Eiche. Von dem anderen Kerl war nichts mehr zu sehen. Vermutlich versteckte er sich im Wald, um sie dann aus dem Hinterhalt anzugreifen.

Naomi grübelte darüber nach, warum Iker nicht ebenfalls hier war. Wo hatten sie ihn versteckt? Ob er überhaupt noch am Leben war?

Pilars Tränen ließen sie daran zweifeln, ob sie sie im Ernstfall tatsächlich angreifen würde, oder ob sie einfach nur Sammys Spielball war und er sie mit etwas unter Druck setzte, was ihr keine andere Wahl ließ, als so zu handeln, wie sie es gerade tat.

Während sich Sammy mit Pilar unterhielt, und diese immer mehr in sich zusammensank, zog sich Naomi vorsichtig aus. Die Hitzewallungen ließen sie bereits schwitzen. Ihre Turnschuhe steckte sie über kleine Äste und die Kleidung verbarg sie in den dicht mit Blättern bewachsenen Ästen.

Naomi betete, dass ihr Plan gelingen möge. Ein Angriff von hier oben würde Sammy zweifellos überraschen, doch sollte sie während der Verwandlung vom Baum stürzen, dann wäre sie verloren. Die Hitze brach in Wellen über sie herein. Naomi kletterte vorsichtig auf die Astgabel des unteren Astkranzes, kauerte sich auf die breiteste Stelle, und noch bevor sie einen letzten Blick auf die Lichtung werfen konnte, verlor sie das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, öffnete sie die Augen und wagte es nicht, sich zu bewegen. Erst als sie sich versichert hatte, dass sie noch auf der Astgabel lag, hob sie behutsam den Kopf, der bislang auf einem Ast geruht hatte. Ihre Vorderbeine hingen rechts und links herunter und ihre Hinterläufe waren durch ihr Körpergewicht an den Stamm geklemmt. Sie widerstand dem Drang, sich ausgiebig zu strecken, und erhob sich zögernd, bis sie mit allen vier Pfoten auf dem Ast stand. Dann erst streckte sie ihren Körper und dehnte die verspannten Muskeln.

Ein Blick auf die Lichtung genügte, um zu erkennen, dass weder Pilar noch Sammy sich dort aufhielten. Sie verbargen sich irgendwo zwischen den Bäumen. Naomi beschloss zu warten. Irgendwann würde Sammy nach ihr suchen und unweigerlich in ihre Nähe gelangen. Sie blickte kurz zu Roman und zwang sich, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Wenn sie Sammy besiegen wollte, musste sie sich konzentrieren. Sie schloss die Augen und atmete ruhig ein und aus, um die innere Anspannung unter Kontrolle zu bekommen. Es war, als bereite sie sich auf einen Wettkampf vor. Nur würde dieser Kampf nicht nach Punkten entschieden werden.

Ein leises Knacken erregte ihre Aufmerksamkeit. Irgendjemand schlich durch den Wald. Sie stellte die Ohren schräg, um besser filtern zu können, woher die Geräusche kamen. Reglos lauschte sie in die Nacht, bis sie Pilars Gedanken auffing.

»Sie ist nicht hier.« Ein Schatten tauchte unter ihr auf. An der Körpergröße erkannte sie, dass es sich um Pilar handeln musste.

Die Suche nach ihr hatte bereits begonnen.

Pilar trat aus dem Schatten. Der Vollmond beschien die Lichtung und bestätigte Naomis Verdacht. Sie duckte sich zusammen.

Nachdem sich Pilar auf die Hinterläufe setzte, keimte in Naomi die Hoffnung auf, dass Sammy sich ihr nähern würde. Hoch konzentriert starrte sie dorthin, wo Pilar immer noch saß.

Ihre Geduld wurde belohnt. Wenig später raschelte es im Gebüsch. Sammy ging auf Pilar zu, und Naomi erschrak über Sammys Größe. Sie hatte ihn viel kleiner in Erinnerung. Doch jetzt, als er neben Pilar stand, erkannte Naomi, dass er Rominas Größe besaß. Körperlich war sie ihm unterlegen. Sie musste das Überraschungsmoment nutzen und sofort angreifen.

Vier Meter trennten sie vom Waldboden und weitere zehn von Sammy. Ohne weiter zu zögern, sprang sie vom Baum und landete mit einem weiten Satz kurz vor der Lichtung. Ihr Körper schien zu wissen, was auf dem Spiel stand, denn der Sprung gelang perfekt. Ihre Pfoten knickten nicht ein und den überschüssigen Schwung legte sie direkt in die nächsten drei Sätze.

Sammy drehte nur leicht den Kopf und starrte Naomi an, bevor sie ihm an die Kehle sprang und sich daran festbiss. Durch den Schub riss Naomi Sammy von den Beinen, sie überschlugen sich und lagen ineinander verkeilt inmitten der Lichtung. Naomi ließ nicht los und schüttelte den Kopf, um Sammys Wunden zu verschlimmern. Sie hörte, wie sein Fleisch zerriss, und zerrte weiter an seiner Kehle, bis sie einen Fetzen aus ihr herausgerissen hatte. Blut lief ihm über den Hals und die Brust.

Naomi versuchte abermals einen Angriff, dem Sammy jedoch auswich. Sie duckte sich zusammen, doch als Sammy keinen Gegenangriff startete, streckte sie ihre Beine schnell durch, sprang neben ihn und schlug ihm mit ihrer Pranke ins Gesicht. Von der erneuten Attacke überrascht, wich Sammy zurück und fauchte. Naomi setzte ihm nach und rammte ihm ihren Kopf in den Leib, was ihn von den Beinen riss und ihr seinen empfindsamen Bauch offenlegte. Mit der rechten Pranke zog sie ihm darüber. Das Reißen des Fells und des Fleisches erzeugte ein grauenvolles, nie gehörtes Geräusch, welches Naomi innehalten ließ. Diesen Moment nutzte Sammy, um ihr seine Krallen in den Rücken zu treiben. Der brennende Schmerz lähmte sie, was Sammy angreifen ließ. Mit einem Satz begrub er sie unter seinem mächtigen Körper. So sehr sie sich auch wand, der Kraftaufwand war umsonst. Er hatte sie fixiert. Seine Schnauze näherte sich ihrem Gesicht. »Du bist stark geworden, aber nicht stark genug. Erst wollte ich, dass dein Schätzchen zusehen muss, wie ich dich töte, aber ich denke, es ist reizvoller, wenn du ihn sterben siehst, bevor ich dich töte.«

Beinahe hätte sie gewonnen. Sie hatte ihn überrascht und schwer verletzt, doch schien er die Schmerzen verdrängen zu können.

Pilar hatte sich dichter ins Gebüsch gedrückt. Fast so, als wolle sie mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Doch plötzlich kam Bewegung in sie. Naomi versuchte zu erkennen, was vor sich ging.

»Du hast es versprochen!«, dachte Pilar und rannte zu Roman. Neben ihm stand Christopher mit einem Messer in der Hand, das er ihm an die Kehle hielt.

»Lass Roman gehen. Dir geht es doch nur um mich!«, flehte Naomi.

»Warum sollte ich ...« Sammy hob leicht den Kopf, um zu sehen, was Pilar vorhatte. »Ich konnte ihn noch nie leiden.«

Pilar hechtete auf Sammys Bruder zu, der instinktiv das Messer hob, bevor ihn Pilar von den Füßen riss und unter sich begrub.

Sammy fauchte und vernachlässigte den Druck auf ihren Körper. Naomi bewegte sich nicht. Noch konnte sie ihn nicht von sich abschütteln. Sie benötigte etwas mehr Freiraum, um sich freikämpfen zu können.

Weder Pilar noch Christopher regten sich.

Sammy rief nach seinem Bruder.

»Er kann dich nicht hören. Schon vergessen?«, dachte Naomi.

Das Rascheln im Wald ließ Sammys Kopf herumfahren.

Naomi ergriff ihre Chance und drehte sich unter ihm herum, biss ihm in den linken Vorderlauf und riss ihm einen weiteren Fetzen aus dem Fleisch. Der Schmerz ließ ihn zurückzucken, was Naomi genügend Raum gab, unter ihm wegzurollen. Die Pfoten streckte sie von sich, um ihren Bauch zu schützen.

Kai schrie plötzlich aus vollem Hals. Sein Weinen schnitt Naomi ins Herz. Trotzdem konzentrierte sie sich auf Sammy.

Doch der griff nicht an.

Sammy rannte mit lahmendem Gang zu Roman. Naomi sprang auf die Beine und setzte ihm nach. Jemand machte sich an Romans Fesseln zu schaffen. Noch ehe Sammy ihn erreicht hatte, war Roman frei und schnappte sich den Korb, bevor er von zwei Händen hinter den Baum gezogen wurde.

Naomis Sprünge waren kraftvoller und weiter, als Sammys. Sie holte ihn ein, sprang ihn an, und beide rollten sich fauchend neben Pilars leblosen Körper, bis Naomi dem geschwächten Sammy erneut in den Hals biss. Sie zerrte so lange an seiner Kehle herum, bis Sammys Körper nach einer Minute reglos liegen blieb.

Roman trat hinter dem Baum hervor. Er hielt ein Messer in der Hand und ging auf Sammy zu. Noch bevor sie einschreiten konnte, stieß er es Sammy in den Leib. Ein letztes Zucken durchfuhr dessen Körper und er verkrampfte sich, bevor er sich mit einer sanften Bewegung entspannte.

Sammy war endlich tot.

Roman zog das Messer aus Sammys Leib, behielt es in der Hand und kniete neben Naomi nieder, die noch nicht glauben konnte, dass es endlich vorbei sein sollte. Roman und Kai war nichts geschehen.

Hinter dem Baum tauchte Karsten auf. Er stellte den Korb unter dem Baum ab und lächelte. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich erst am nächsten Morgen kommen würde, oder?«

Naomi hob müde den Kopf und sah Karsten an. Ihr Freund Karsten. Sie hatte gewusst, dass sie sich auf ihn immer verlassen konnte, und hatte aus eben diesem Grund gehofft, er käme nicht und brächte sich nicht selbst in Gefahr.

Roman strich Naomi über den Rücken. Seine blutige Hand glänzte schwarz im fahlen Licht des Vollmonds. »Deine Wunden sind verdammt tief. Dieses gottverfluchte Schwein.«

Auch wenn sie Schmerzen hatte, die Wunden würden heilen. Doch was sollten sie mit Sammy machen? Sie wusste nicht, wie viele Leben er noch hatte. Trotzdem fürchtete sie ihn nicht mehr. Sie hatte ihn besiegt.

Iker fiel ihr plötzlich ein. Pilar lag immer noch über Christopher, und beide regten sich nicht. Vielleicht war Pilar nur schwer verletzt. Sie musste sie fragen, was mit Iker geschehen war.

Naomi ging zu ihr hinüber. »Es ist vorbei. Sag mir, wo Iker ist. Du musst Sammy nicht mehr fürchten. Er ist besiegt.«

Pilar antwortete nicht.

Mit der Pfote stupste sie Pilar an die Brust. Ein zartes Geräusch entrang ihrer Kehle. Sie war noch am Leben.

Roman trat neben Naomi. »Sag es Naomi, Pilar, bitte«, sagte er. »Ich weiß, dass du das alles nicht wolltest.«

Er bückte sich neben sie, strich ihr über das Fell und versuchte, sie sanft umzudrehen. Sie rollte zur Seite. Aus ihrem Bauch quoll Blut. Viel Blut. Christopher musste das Messer bei ihrem Angriff tief in sie hineingestoßen haben. Roman drehte sich zu ihm um. Christophers Hemd war blutüberströmt. Seine linke Schulter sah ziemlich übel aus.

»Pilar«, dachte Naomi. »Wo ist er?«

Kaum wahrnehmbar hörte Naomi Pilars Stimme. »Im Haus, oben, ganz oben.« Dann verstummte die Stimme und ihr Körper streckte sich langsam ein letztes Mal.

Naomi bedauerte Pilars Tod und senkte den Kopf.

Plötzlich hörte sie Roman schreien. Karsten stürzte auf Christopher zu, der sich aufgebäumt hatte und Roman mit dem Messer in die Schulter gestochen hatte. Roman reagierte schnell. Er erhob sein Messer und stieß es Christopher ins Herz, noch bevor dieser ihn erneut attackieren konnte.

»Das war knapp!«, sagte Roman mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Bist du schlimm verletzt?«, fragte Karsten und beugte sich hinunter, um die Wunde besser sehen zu können.

Roman schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Naomi ist schlimmer verletzt.«

»Wir müssen Sammy vernichten. Jetzt ist er tot, aber wer kann wissen, wie viele Leben ihm noch bleiben.«

»Was schlägst du vor?«, fragte Karsten.

»Wir könnten ihn köpfen«, meinte Roman und sah zu Naomi.

Naomi konnte kaum glauben, was sich hier gerade abgespielt hatte. Sammy, sein Begleiter und Pilar waren tot, und sie überlegten, wie man Sammy auf Dauer umbringen konnte?

Karsten nickte. »Gute Idee. Einen neuen Kopf kann er sich kaum wachsen lassen.«

Roman stand auf. Mit gezücktem Messer schritt er auf Sammys toten Körper zu.

So lange Zeit hatte sich Naomi gewünscht, Sammy zu vernichten. Nun hatte sie ihn besiegt und ihr Hass auf ihn war plötzlich verschwunden. Er hatte verloren. Naomi trat schützend vor Sammys Körper.

»Was soll das bedeuten?«, fragte Roman und sah von Naomi zu Karsten. »Das kannst du nicht ernst meinen.«

Naomi legte sich zwischen Sammy und Roman. Sie hoffte, er würde ihre Reaktion richtig deuten.

»Offensichtlich doch«, meinte Karsten. »Wobei ich es nicht verstehen kann, nachdem was heute passiert ist. Dieses Schwein wollte dir Kai wegnehmen und dich und Roman töten.«

Karsten hatte recht. Trotzdem war es für sie etwas anderes, einen Gegner im Kampf zu schlagen. Es kam ihr falsch vor, Sammy einfach zu köpfen, jetzt, wo er schutzlos am Boden lag. In dieser Nacht waren aus Rache und Hass bereits zwei Menschen gestorben.

Roman trat zurück und schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich fähig wäre zu töten. Aber ich kann es nicht zulassen, dass du Sammy einfach laufen lässt.« Trotzdem legte er das Messer weg. Er ging zu Kai, nahm ihn aus dem Korb und lehnte sich an die Eiche. »Noch ist Zeit. Doch solltest du daran denken, was es für Kai bedeutet hätte, wenn Sammy ihn in seine Gewalt bekommen hätte.«

Karsten schwieg und setzte sich im Schneidersitz auf den Waldboden. Auch in seinem Gesicht standen Unglaube und Verunsicherung.

Naomi blieb ruhig neben Sammy liegen. Sie legte ihren Kopf auf die Vorderpfoten und dachte nach. Es musste eine andere Lösung geben, als Sammy zu töten. Sie wusste nur nicht, welche Auswirkungen es haben würde, ihn am Leben zu lassen. Darüber musste sie erst nachdenken.

Sammy könnte ihr auch in Menschengestalt gefährlich werden. Würde er einfach verschwinden, wenn sie ihm den Kuss des Vergessens gab? Würde er bei ihm überhaupt funktionieren? Bisher hatte sie nur davon gehört, dass er aus Liebe angewandt worden war. Konnte sie Sammy seinen Hass durch den Kuss vergessen lassen? Einfacher wäre es, ihn zu töten. Doch könnte sie es ertragen, einen wehrlosen Menschen zu töten? Könnte sie mit dieser Schuld leben? Vermutlich nicht. Immer würde sie darüber nachdenken, ob es vielleicht nicht doch einen anderen Ausweg gegeben hätte und sie den einfachsten Weg gegangen wäre. Roman und Karsten konnte sie keine Vorwürfe machen. Sie konnten nicht wissen, dass Naomi mit dieser Schuld vielleicht nicht fertig werden würde. Wie lange hatte sie sich nach diesem Moment gesehnt? Und nun, da sie die Möglichkeit hatte, Sammy endgültig auszulöschen, brachte sie es nicht über sich.

Weder Roman noch Karsten sprachen sie an. Sie saßen etwas abseits und flüsterten leise miteinander, doch Naomi hörte nicht hin. Zu sehr beschäftigte sie sich damit, welche Folgen ihre jetzige Entscheidung hätte.

Sie wollte keinen Mord auf dem Gewissen haben. Dessen war sie sich sicher. Doch konnte sie Sammy vergeben? Würde er sie vielleicht in Frieden lassen, wenn sie ihn jetzt verschonte? Ein kleiner Funken Hoffnung stieg in ihr auf.

Kurz bevor der Morgen graute, setzte sie sich auf. Sie hatte sich entschieden. Roman sprang auf die Beine. Naomi schmiegte sich an seine Beine, warf einen Blick in den Korb und ging zurück zu Sammy.

»Was hast du nun vor?«, flüsterte Roman. »Bitte, lass ihn nicht einfach laufen.«

Naomi blickte Roman lange an, bevor sie den Blick abwandte und sich neben Sammy setzte.

Sie starrte ihn an und formte die Worte im Geiste. »Sammy, trotz allem, was du mir und meiner Familie angetan hast, verzeihe ich dir. Du sollst leben, und du wirst mich und alles, was du über mich weißt vergessen, dafür werde ich sorgen.« Nachdem sie die Worte laut gedacht hatte, drehte sie sich um, ging zu Roman, legte sich zu seinen Füßen und hoffte, der Kuss des Vergessens würde auch bei Sammy wirken.

Plötzlich veränderte sich Sammys Körper. Seine Verletzungen schienen zu heilen. Naomi starrte ihn an und traute ihren Augen kaum. Sammys Fell glänzte silbern im Mondlicht. Angetrocknetes Blut und aufgerissenes Fleisch verschwanden. Seine Gestalt umgab ein gleißendes Licht.

»Was zum Teufel geht hier vor?«, raunte Karsten.

Naomi spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, als sich das silberne Licht verstärkte und immer heller leuchtete. Es umhüllte Sammys Körper, bis er selbst nicht mehr zu sehen war.

Als das Licht nachließ, lag Sammy vor ihnen; nackt und in Menschengestalt. Seine Wunden waren geheilt, und er schien zu schlafen.

Roman löste sich aus seiner Starre, ging auf Sammy zu und fühlte dessen Puls. »Er lebt.« Er sah zu Naomi. »Was auch immer hier abging ...« Mitten im Satz brach er ab und sah zu Karsten. »Hol das Seil. Nur für den Fall, dass er Schwierigkeiten macht.«

Naomi entfernte sich.

»Wo willst du hin?«, rief Roman.

Es war Zeit, und sie musste zurück auf den Baum. Mit ihren Verletzungen würde sie es in menschlicher Gestalt nie nochmals auf den Baum schaffen. Und sie wollte Sammy keinesfalls nackt gegenübertreten. Sie käme sich dadurch schutzlos vor.

Mit zwei Sätzen erklomm sie den Astkranz, legte sich nieder und wartete, bis die Dunkelheit sie einhüllte.

Als sie wieder zu sich kam, hörte sie Geschrei von der Lichtung. Sie fischte ihre Kleidung von den Ästen und warf sie, zusammen mit den Turnschuhen, den Baum hinunter. Anschließend sprang sie hinterher, schlüpfte in ihre Kleidung und eilte zurück auf die Lichtung.

Während Roman Sammy bewachte, musste Karsten nach seiner Bekleidung gesucht haben, denn er stand vor Sammy und warf ihm seine Jogginghose zu, in die dieser schnell hineinschlüpfte. In diesem Moment entdeckte er Naomi.

»Was hast du getan?«, brüllte er. »Ich fühle mich lausig, schwach und einfach nur Scheiße! Wo sind meine Verletzungen? Was zum Teufel hast du mit mir angestellt?«

Naomi näherte sich nur langsam. In ihrem Kopf arbeitete es unablässig. Was hatte sie getan? Nichts. Sie hatte ihm nur vergeben und war bereit ihn zu verschonen. Aus Sammys hassverzerrtem Gesicht las sie, dass sich in ihm etwas Grundlegendes verändert haben musste. Aus diesem Grund hatte er sich bereits in einen Menschen zurückverwandelt, bevor die Nacht vorüber gewesen war.

»Jetzt bin ich ein Mensch wie jeder andere. Ein Niemand. Ein Nichts. Warum konntest du mich nicht einfach umbringen?«

»Weil es falsch gewesen wäre.«

»Du hast mir alles genommen, was mir je etwas bedeutet hat.« Sammy fuchtelte mit den Händen umher, bevor er hintenüber kippte und mit fassungslosem Gesichtsausdruck sitzen blieb. »Das werde ich dir nie verzeihen.« Den letzten Satz sprach er leise mit hassverzerrter Stimme.

Sammy würde ihr nicht vergeben und sie in Frieden leben lassen. Lieber wäre er gestorben. Vielleicht konnte sie seinen Hass auf sie und ihre Familie durch den Kuss des Vergessens bannen. Es musste einfach gelingen. Wo auch immer dieses Licht hergekommen war, es hatte Sammy offenbar vom Fluch befreit.

Roman strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das warst du?«, fragte er nach.

»Wie?«, fasste Karsten nach.

»Keine Ahnung. Ich habe Sammy verziehen.« In Naomis Gedanken tauchten Noplazins Worte auf. Die Götter vergeben, wenn der Mensch vergibt. Konnte das eben geschehen sein? War Sammy vom Fluch befreit, weil sie ihm verziehen hatte? Doch warum war Sammy begnadigt worden und sie nicht? »Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber auf alle Fälle ist Sammy vom Fluch befreit.«

»Vom Fluch?«, fragte Roman nach.

»Es ist eine lange Geschichte. Ich werde sie euch später erzählen.« Naomi ging zwei Schritte auf Sammy zu, der weinend am Boden saß und sich offenbar seiner Verzweiflung hingab. »Lasst uns gehen. Wir müssen Iker befreien.« Danach wandte sie sich ab, beugte sich zu Kai hinunter und schloss ihn in die Arme.

Roman nickte zu Sammy hinüber. »Und er?«

»Fesselt ihn. Er kommt mit uns.«

Karsten zog die Stirn kraus. »Du kannst unmöglich fahren, und Roman ist ebenfalls verletzt. Wie sollen wir ihn sicher zu euch bringen?«

»Genauso, wie er mich hierher gebracht hat. Wir verschnüren ihn und packen ihn in den Kofferraum. Den Weg schaffe ich schon.« Roman starrte zu Sammy, der die Mundwinkel nach unten zog.