Sechs

Karsten saß bereits im Straßencafé vor einem Milchkaffee, das Gesicht der Sonne zugewandt und die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Naomi begrüßte ihn mit einem Küsschen auf die Wange, bevor sie eine verzweifelte Grimasse schnitt, die Hände zum Himmel reckte und sich auf einen freien Stuhl fallen ließ. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, Spanisch zu lernen.«

»Was denkst du, warum ich mich für das ERASMUS-Projekt angemeldet habe? Und du bist wenigstens im richtigen Land. Ich habe mich in Deutschland damit herumgeschlagen und in Barcelona kaum was verstanden, obwohl ich dachte, ich hätte es schon voll drauf!« Karsten schüttelte den Kopf. »Du hast gerade mal drei Vormittage hinter dir und willst gleich wieder alles perfekt beherrschen.« Er winkte dem Kellner. »Das kannst du bei Sprachen vergessen!«

Nachdem sich Naomi ein Wasser bestellt hatte, beugte sie sich zu Karsten hinüber und sah ihn eindringlich an. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Warum habe ich so etwas schon geahnt?«, erwiderte Karsten mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Sie hob die Schultern und legte den Kopf schief. »Weil ich dir nichts vormachen kann?«

»Also, was gibt´s?«

»Unter Dorotheas Bett stand eine Kiste mit Unterlagen, die ich durchgesehen habe. Darunter befanden sich Notizen, alte Fotos und vage Vermutungen über ihre Abstammung. Leider nichts Handfestes. Trotzdem glaubte Dorothea, dass ein Martín Cortés zu ihren Vorfahren gehörte. Ich habe den Namen im Internet gefunden.« Naomi legte eine kurze Pause ein. »Wenn ich die Jahreszahlen mit dem Geburtsjahr von Dorothea vergleiche, kommt von den beiden eigentlich keiner in Betracht, aber nachdem deren Vater uneheliche Kinder am laufenden Band zeugte, trieb es vielleicht einer seiner Söhne vor der Hochzeit nicht weniger bunt.«

»Von wem sprichst du?« Karsten sah sie mit in Falten gelegter Stirn an.

»Du wirst mich für verrückt erklären«, flüsterte Naomi. »Aber ich spreche von Hernán Cortés` Söhnen. Wobei mein Verdacht auf den Erstgeborenen fällt, weil der andere weder der Vater noch der Großvater von Dorothea sein kann. Das ist zeitlich unmöglich.«

»Du meinst den Eroberer Hernán Cortés?«

»Kennst du sonst noch einen?« Ein Kribbeln breitete sich in Naomis Magen aus. »Was weißt du über ihn?«

»Nicht viel. Einer der Professoren hat ihn in einer Vorlesung erwähnt. Zum Semesterende müssen wir eine Klausur in Landeskunde und spanischer Geschichte schreiben. Ich habe kaum zugehört, weil ich ein aktuelles Thema ausgewählt habe, bei dem ich nicht so viel recherchieren muss.« Karsten lehnte sich zurück. »Im Grunde weiß ich gar nichts über ihn.«

»Man müsste in den Stadtarchiven nachsehen. Eventuell fände man auch Informationen auf spanischsprachigen Seiten im Internet.« Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Um ihre zitternden Hände zu beruhigen, schob Naomi sie unter ihre Schenkel und setzte sich darauf, bevor sie sich erneut zu Karsten beugte, der sie unter hochgezogenen Augenbrauen musterte.

»Warum sagst du nicht, dass du mit man mich meinst?« Karsten kratzte sich am Kinn. »Tut mir leid. Aber ich habe schon mit meiner Klausurarbeit angefangen ...«

»Ich würde dir helfen«, wagte sie einen Vorstoß.

»Und wie stellst du dir das vor?« Karsten schüttelte den Kopf. »Naomi. Ich hab dich wirklich gern und du kannst fast alles von mir verlangen, aber wenn ich diese Klausur versaue, kann ich das restliche Studium vergessen. Mein Spanisch ist noch nicht so gut, dass ich es mir erlauben kann, ohne mit der Wimper zu zucken ein Thema zu verwerfen. Vergiss es.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, dass du sie nicht versaust.« Naomi zog ihre rechte Hand hervor, griff nach Karstens, drückte sie und sah ihn flehend an. »Ich bin davon überzeugt, dass Romina und Iker gerne deine Klausur durcharbeiten und verbessern werden.«

Ihr Freund starrte auf den Tisch. Naomi sah ihm an, wie er mit sich rang. Bisher hatte er ihr noch nie eine Bitte abgeschlagen, doch dieses Mal ging es nicht nur um einen kleinen Gefallen; es ging um Karstens Studium, und was sie von ihm verlangte, war weit mehr als ihr zustand.

»Vergiss es. Es war nicht fair von mir, dich darum zu bitten. Tut mir leid, dass ich überhaupt davon angefangen habe. Ich wollte dich eigentlich nur um Hilfe bei der Internetrecherche bitten, oder höchstens darum, mit mir in das Stadtarchiv in Barcelona oder wohin auch immer zu gehen, um dort nach Hinweisen über Martín Cortés` Leben zu suchen.« Naomi räusperte sich. »Willst du deiner egoistischen Freundin dabei helfen?«

Karsten bat den Kellner mit einem Handzeichen um die Rechnung. Ohne sie anzusehen, kramte er einen Fünfeuroschein hervor, legte ihn auf den Tisch und stand auf. »Komm.«

Unsicher erhob sie sich. »Sei nicht sauer, okay?«

Der Kellner räumte den Tisch ab und bedankte sich für das Trinkgeld.

»Ich bin nicht sauer. Und jetzt komm endlich.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie aus dem Straßencafé.

»Wohin willst du?«

»Nach Hause. Es wartet jede Menge Arbeit auf uns, und du wirst mir dabei helfen, wie du es versprochen hast.«

Naomi fiel Karsten um den Hals und küsste ihn auf die Wange. »Das vergesse ich dir nie! Du wirst sehen, es wird die beste Arbeit, die du jemals geschrieben hast!«

»Daran zweifle ich gewaltig.« Karsten löste sich aus der Umarmung und schob sie von sich. »Außer, du erlaubst mir, über euch zu schreiben. Die Vollmondsache kann ich ja weglassen.«

Naomi schwieg und blickte betreten auf ihre Schuhe.

»Schau nicht so belämmert. Das war ein Scherz. Mir ist bewusst, dass ich keine Verbindung zu euch erwähnen kann, ohne euch in Gefahr zu bringen.« Karsten hob ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. »Lass uns an die Arbeit gehen.«

 

*

 

Naomi betrat zum ersten Mal Karstens neue Wohnung. Sie befand sich in einer kleinen Seitenstraße, die von der Rambla abging und war in unmittelbarer Nähe zur Uni. Von seinem alten Studio lag sie kaum zwei Straßen entfernt.

Eine kuschelige Wohnung mit einem französischen Balkon, auf dem selbst der kleine Wäscheständer keinen Platz fand, der aus diesem Grund mitten im Wohnzimmer stand und den halben Raum einnahm. Auf den Sesseln stapelte sich die Wäsche und der Tisch verschwand unter leeren Tellern, Chipstüten und Zeitschriften. Eine typische Studentenbude. Unordentlich, klein, gemütlich und zweckmäßig.

Die zum Wohnzimmer angrenzende Küche befand sich in keinem besseren Zustand. Mangels einer Spülmaschine verstopften Tellerstapel die Spüle, und nur neben der Kaffeemaschine war genügend Platz, um eine Tasse abstellen zu können.

Naomi lachte. »Wenn Alice noch ein einziges Mal behauptet, ich sei schlampig, dann erinnere ich sie an diesen Anblick.«

»Wir hatten in letzter Zeit beide keine freie Minute, um aufzuräumen«, nahm Karsten seine Freundin in Schutz. »Seit wann stört dich denn so was?«

»Keine Bange. Das tut es gar nicht.« Naomi schnappte sich den Kleiderstapel von einem der Sessel und legte ihn auf einen Läufer, damit sie sich setzen konnte. »Ich erinnere mich nur sehr gut daran, wie Alice über mich hergefallen ist, als ich wegen Roman durchhing und es bei mir so aussah. Da hättest du sie hören sollen!«

Karsten schaltete den Laptop ein. »Alice wird nie ein Hausweibchen werden. Sie meint zwar, sie sei ordentlich, aber viel besser sieht es hier selten aus. Am Wochenende wird immer halbwegs sauber gemacht, damit wir unter der Woche wieder Platz haben, um unseren Kram irgendwo abzustellen.«

»Darum beneide ich euch. Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt.« Mit einem Seufzer ließ sie sich in den Sessel sinken.

»Schon klar. Es muss schrecklich sein, in einer großen Wohnung in einem Superhaus zu wohnen, und das auch noch kostenlos. Da hat Madame schon Grund zur Klage.«

»Du weißt doch, was ich meine.« Sie griff nach der Chipstüte und steckte sich eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund. »Spätestens jetzt müsste ich mir anhören, wie ungesund das Zeug für mich ist. Trotzdem schmeckt es lecker.« Ihre Worte bekräftigend, schob sie eine weitere Handvoll hinterher. »Lass uns anfangen, ja? Mein schlechtes Gewissen, weil sich Roman so viel um Kai kümmern muss, wird immer größer. Was hältst du davon, wenn ihr eine Kneipentour veranstaltet? Alice hat sicherlich nichts dagegen.«

»Roman hat dir noch gar nichts gesagt?« Karsten grinste breit. »Wir sind für morgen Abend verabredet.«

»Morgen Abend seid ihr doch bei uns, um unsere Wohnung anzusehen.«

Karsten setzte sich auf die Sessellehne und drehte den Bildschirm so auf seinem Schoß, dass sie beide hineinsehen konnten. »Und? Das dauert ja keine zwei Stunden, oder? Alice und du, ihr hütet die Wohnung, und wir Männer gehen aus!«

Ein Abend alleine mit Alice war schon längst überfällig. Da Karsten und Roman diesen Plan ausgeheckt hatten, fiel auch das Kochen flach. Für Alice und sich würde sie eine Pizza liefern lassen, gemütlich eine Flasche Wein köpfen und dazu würden sie ausgiebig quatschen.

Zwei Stunden später hatten sie sich durch die im Internet verfügbaren Seiten gelesen, und das Ergebnis war ernüchternd. Auf mehr als die allgemeinen Informationen über die Eroberung der Azteken durch Hernán Cortés, dessen Lebenslauf und die bereits bekannten Familienverhältnisse waren sie nicht gestoßen. Über die Familienverhältnisse der beiden Martíns war ebenfalls kaum ein Hinweis zu finden.

Entmutigt ließ Naomi die Schultern hängen. »Etwas mehr Info hatte ich mir schon versprochen.«

»Es steht eben nicht alles im Internet«, sagte Karsten und klappte den Laptop zu. »Ich spreche mal mit meinem Professor. Vielleicht weiß er mehr. Irgendwo muss doch zu finden sein, ob dieser Martín tatsächlich in Mexiko hingerichtet wurde, oder ob er nach Spanien abgeschoben wurde. Beides zusammen kann ja nicht stimmen.«

»Stimmt. Trotzdem dachte ich, dass wir mehr über seine Kinder erfahren.« Naomi nagte auf ihrer Unterlippe. »Sollte dein Professor keine besseren Quellen für die Recherche empfehlen können, dann haken wir es ab, okay?«

»Du machst einen Rückzieher?« Karsten stand auf und holte eine Wasserflasche, setzte sie an die Lippen und trank einen langen Zug daraus, bevor er sie an Naomi weiterreichte. »Wo ist dein Dickkopf abgeblieben?«

Naomi nippte an der Flasche. »Es geht um dein Studium. Wenn dein Professor dir nicht sagen kann, wo wir suchen sollen, dann machst du mit deiner Semesterarbeit weiter, und ich ...«

»Du wirst mich trotzdem überreden weiterzuforschen!«

Naomi lächelte. »Aber nur, wenn du die Zeit erübrigen kannst.«

»Na, dann komme ich ja gut davon.« Karsten boxte sie an die Schulter. »Und ich dachte für einen Moment, ich müsste mir Sorgen um dich machen.«

Die Haustür schwang auf. Alice betrat das Wohnzimmer. »Sag, dass das nicht wahr ist!« Kopfschüttelnd ging sie zu Karsten, küsste ihn und stemmte die Hände in die Hüften, als sie vor Naomi stehen blieb. »Wenn ich gewusst hätte, dass du uns besuchst ...«

»... dann hättest du aufgeräumt. Schon klar.« Naomi stand auf, umarmte ihre Freundin und grinste. »Damit sind wir quitt. Kein Wort mehr darüber. Ich muss außerdem los. Wir sehen uns morgen?«

»Klar. Übrigens ... hast du noch Kontakt zu Sammy?« Alice setzte sich auf Karstens Schoß.

Naomi stockte der Atem.

»Nein«, flüsterte sie. »Warum fragst du?«

»Entweder ich habe eben Sammys Doppelgänger gesehen, oder er ist hier in Barcelona, was aber eigentlich keinen Sinn macht, wenn ihr nicht mehr in Kontakt steht. Das wäre ein zu großer Zufall, nicht?«

»Du hast nicht mit ihm gesprochen?«

»Spinnst du?« Alice schüttelte energisch den Kopf. »Das hätte mir noch gefehlt. Ich habe mich schließlich heimlich verdrückt, weil er mich nicht in Frieden ließ. Da werde ich ihn wohl kaum freiwillig anquatschen, damit er weiß, dass ich hier bin, oder?«

Naomi nickte und fing Karstens erschrockenen Blick auf. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen.

Sammy hielt sich also in Barcelona auf.

Panik breitete sich in ihrem Körper aus. Im Grunde hatte sie gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde. Sammy würde nicht eher ruhen, bis er sie zerstört hätte; sie und ihre Familie.

»Ich muss los.« Naomi schnappte nach ihrer Handtasche, drückte Alice und Karsten ein Küsschen auf die Wange und stürmte zur Wohnung hinaus.

Während sie die Wohnungstür aufriss, hörte sie Alice rufen, ob sie nicht noch eine halbe Stunde bleiben könnte. Kommentarlos knallte sie die Tür ins Schloss.

Naomi lehnte sich an der Wand im Treppenhaus an, um Halt zu finden. Ihr Herz schlug, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich, und das Rauschen in ihren Ohren verstärkte ihr Schwindelgefühl.

Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy.

Unter keinen Umständen konnte sie jetzt alleine auf die Straße. Einer direkten Begegnung fühlte sie sich nicht gewachsen. Noch nicht.

 

*

 

Romina hupte vor Karstens Wohnung. Naomi öffnete die Haustür, spähte die Straße entlang und erst, als sie sich sicher sein konnte, dass Sammy sich nicht zufällig in dieser Gasse befand, drückte sie sich durch den Türspalt und hastete auf die Beifahrertür zu.

»Warum muss immer alles auf einmal kommen?«, fragte Romina und seufzte, als sie anfuhr und mit rasantem Tempo auf die Hafenstraße zusteuerte. »Wann hat Alice ihn gesehen?«

»Heute. Was wollen wir jetzt unternehmen?«

»Erst holen wir Leandra am Flughafen ab und dann muss ich Jason anrufen. Er klang ziemlich aufgeregt. Katie wird mit der ganzen Situation nicht fertig. Wenn alles schief läuft, muss ich nach Texas fliegen.«

Naomi schlug sich die Hand vor den Mund. Das letzte Telefonat mit ihrer Großmutter lag fast eine Woche zurück, und die Zeit war so schnell verflogen, dass sie deren Anreise einfach vergessen hatte. Die ungewohnte Umgebung, die Streitereien mit Pilar, die Kiste mit den Dokumenten von Dorothea, all das hatte ihre komplette Aufmerksamkeit beansprucht und darüber hatte sie Leandras Ankunft verschwitzt.

»Oma darf nichts von Sammy erfahren. Sonst dreht sie durch.«

Romina lachte. »Das glaubst auch nur du. Meine Tochter hält das schon aus. Du siehst mir viel eher aus, als stündest du kurz vor einem Kollaps. Ich hatte dir doch gesagt, dass meine Quellen davon berichteten, Sammy könnte sich in Barcelona aufhalten. Für mich ist das nichts Neues. Also konzentriere dich wieder auf das Wesentliche.«

Das Wesentliche? Was meinte sie damit? Romina hatte zwar am Flughafen erwähnt, Sammy könnte sich in der Stadt befinden, aber so recht geglaubt hatte Naomi das nicht. Ihr Angstgefühl hatte sie bisher einfach verdrängt. »Auf was soll ich mich denn konzentrieren?«

»Auf deine Familie, dein Studium, deine Nachforschungen ... was weiß ich? Das Problem mit Sammy löst sich irgendwann von selbst. Und solange du vorsichtig bleibst, kann überhaupt nichts geschehen. Irgendwann wird er einen Fehler begehen, und diesen wird er nicht überleben. Diesmal nicht.«

»Du kennst ihn nicht. Sammy verhält sich nicht normal. Er ist heimtückisch. Und er ist auch nicht ohne Unterstützung hier, darauf kannst du wetten.«

»Es gibt nur noch Thursfield. Alle anderen sind tot. Pilar lebt bei uns. Was soll er also ausrichten? Mitten in der Großstadt wird er nichts unternehmen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass er unseren Aufenthaltsort nicht herausfindet.« Romina bog auf den Parkplatz für Kurzparker ein und stellte den Wagen in die zweite Reihe. »Du wartest hier und ich hole Leandra ab. Mir bleibt keine Zeit mehr für Parkplatzsuche. Sollte ich jemanden blockieren, fahr zur Seite und stell dich genau wieder hier her. Ich habe keine Lust den halben Parkplatz nach dir abzusuchen. Sammy wird zwar nicht hier sein, trotzdem ist es keine gute Idee, sich zu lange auf dem Flughafengelände aufzuhalten. Leandra hätte sich besser ein Taxi genommen.«

Naomi grübelte über Rominas Worte nach. Ging von Sammy tatsächlich keine unmittelbare Gefahr aus? Ihr Gefühl sagte ihr etwas anderes. Eventuell versuchte Romina nur sie zu beruhigen. Doch die Art, wie Romina mit der Situation umging, bewirkte bei Naomi eher das Gegenteil.

Konnte man sich an Gefahrensituationen letztlich gewöhnen? War es das? Romina lebte seit Jahrzehnten mit der Angst entdeckt, getötet oder verraten zu werden. War das der Grund? Oder lag es vielmehr daran, dass sie sich überschätzte? Im Wald war es Naomi mehrfach gelungen, Romina zu besiegen. Auch wenn sie noch einige Leben zur Verfügung hatte, bevor sie endgültig starb, gab ihr das nicht das Recht, ihre Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Und wenn sie Romina manchmal überwältigen konnte, könnte Sammy das nicht auch schaffen? Er war aggressiver, jünger und kräftiger. Sein Hass verlieh ihm noch zusätzliche Kräfte.

Außerdem trieb sie die Sorge um Roman und Kai um. Der Gedanke, einen der beiden zu verlieren, jagte ihr eine höllische Angst ein. Ihren Frieden fände sie erst, wenn sie Sammy getötet hätte, dies war die einzige Möglichkeit sicherzugehen, dass er nie wieder eine Gefahr für ihre Familie darstellen würde.

Als die hintere Wagentür geöffnet wurde, zuckte Naomi unwillkürlich zusammen.

»Du hast mich wohl komplett vergessen.« Leandra warf ihre Reisetasche auf die Rückbank und öffnete die Beifahrertür. »Worüber grübelst du denn nach?«

Naomi stieg aus dem Wagen, fiel ihrer Großmutter in die Arme und begann zu schluchzen. »Ich bin ja so froh, dass du endlich da bist!«

»Und weil du mich so vermisst hast, seid ihr zu spät gekommen, und du ziehst ein Gesicht, als würde jeden Moment die Welt untergehen.« Leandras Augen blitzten vergnügt, als sie Naomi neckte, um sie aufzumuntern. »Hey, was ist denn passiert?«

Romina nickte beiden zu. »Lasst uns fahren. Euch bleibt der ganze Abend, um darüber zu reden, okay? Ich muss mich dringend um Katie und Jason kümmern. Weiß der Teufel, was bei den beiden los ist.«

»Und wir kochen uns eine Tasse Kaffee, und du erzählst mir, was los ist, ja?«, sagte Leandra und küsste Naomi auf die Stirn.

Naomi überließ ihrer Großmutter den Beifahrersitz und schob die Reisetasche beiseite, um auf der Rückbank Platz zu nehmen. »Ach Oma, ich freue mich so, dass du hier bist! Ich brauche dringend deinen Rat.« Sie fing Rominas Blick im Rückspiegel auf. Vermutlich hatte sie ihre Urgroßmutter damit gekränkt, aber es entsprach der Wahrheit. So gerne sie Romina mochte, Leandra kannte sie besser. Sich mit ihr zu unterhalten, war schon immer ein Weg gewesen, ihre Gedanken zu ordnen. Außerdem verteidigte Romina Pilar, was dazu führte, dass Naomi über dieses Thema nicht mit ihr sprechen wollte.

Auf der Rückfahrt zur Villa schwieg Naomi und hörte Leandras Erzählungen zu, um zu erfahren, was sich während der letzten Tage zu Hause in Deutschland abgespielt hatte.

Naomis Mutter Luna gewöhnte sich nur langsam an den Gedanken, dass Naomi nicht mehr im Haus lebte. Es kam ihr oftmals zu ruhig vor und sie klagte darüber. Um wieder mehr Leben ins Haus zu bringen, hatte Leandra ihre Tochter mit einem Welpen überrascht, der ihr jetzt Gesellschaft leistete. Eine Bildanzeige des örtlichen Tierheims hatte Leandra auf die Idee gebracht. »Weißt du, erst hat sie getobt, als ich mit dem kleinen Mischling ankam, weil er zu viel Dreck ins Haus tragen, oder auf ihre Teppiche pinkeln könnte, aber nach zwei Tagen lag der süße Kerl schon neben ihr auf dem Sofa, und sie sprach mit ihm über das Fernsehprogramm.«

»Mama hat sich immer gegen Haustiere gewehrt, weil sie angeblich eine Allergie hätte, aber sobald sie einen Hund oder eine Katze entdeckte, lockte sie sie zu sich, um ihnen das Fell zu kraulen. Das machte sie immer, wenn sie glaubte, keiner würde zusehen.« Naomi erinnerte sich gut daran.

Zu gerne hätte sie als kleines Mädchen ein Kätzchen besessen. Und ihre Mutter hatte diese Allergie vorgeschoben, um das Thema zu beenden. Doch eines Tages war Naomi dahintergekommen und hatte sich Leandra anvertraut und sich bei ihr ausgeweint, wie gemein sie das von ihrer Mutter fände. Ihre Großmutter hatte ihr damals erklärt, was hinter dieser Ausrede steckte. Nach dem Tod von Lunas Ehemann waren Naomi und der alte Scippy, der Hund ihres Mannes, alles, was ihr geblieben war und sie tröstete. Als Scippy dann starb, schwor sie sich, kein Lebewesen mehr in ihr Leben zu lassen, weil sie einen weiteren Verlust nicht ertragen könnte.

Aus diesem Grund erfand sie diese Notlüge und behielt sie bei, bis Leandra sie vor fünf Tagen mit dem kleinen Mischlingshund überrascht hatte. Luna hatte wieder wegen ihrer Allergie lamentiert, bis Leandra ihr auf den Kopf zugesagt hatte, sie solle mit den dummen Ausflüchten aufhören. Der kleine Kerl benötige dringend ein Zuhause, um nicht eingeschläfert zu werden, und sie würde das arme Wesen nicht zurückbringen. Luna müsste ihn nur betreuen, wenn sie selbst nicht da wäre. Seither kümmerte sich Luna liebevoll um den Welpen, und Leandra musste zusehen, wann sie ihm eine Leckerei zustecken konnte, ohne von ihrer Tochter deswegen gescholten zu werden.

Naomi lachte herzhaft. Sie konnte sich ihre Mutter lebhaft vorstellen, wie sie Leandra einen missbilligenden Blick deswegen zuwarf. »Oma, du bist raffiniert, aber das wusste ich vorher schon.«

 

Eine Stunde später saß Leandra in Naomis Wohnzimmer. Kai lag schlafend in Leandras Armen, während Naomi den Kaffee aufbrühte. Romina war in das geheime Zimmer unter der Treppe gegangen, wo sie in Ruhe mit Jason wegen Katies Sorgen telefonieren konnte. Nach einer kurzen Begrüßung hatte auch Roman sich entschuldigt und die Wohnung verlassen, um im Garten spanische Vokabeln zu lernen. Aus dem Küchenfenster sah Naomi, dass Roman mit geschlossenen Augen im Garten auf einer Decke döste, das Gesicht der Sonne zugewandt hatte und das Vokabelheft unbeachtet neben ihm lag. Er hatte sich nur zurückgezogen, um sie mit ihrer Leandra alleine zu lassen.

Naomi stellte die Kaffeetasse vor ihre Großmutter und ließ sich in den gegenüberliegenden Sessel fallen.

»Sag schon, was ist los?«, forderte Leandra sie auf.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll ...« Naomi zog die Beine an und legte sie im Schneidersitz übereinander. »Als wir hier ankamen, fühlte sich alles gut und richtig an, bis ich das erste Mal auf Pilar traf.« Ohne eine Pause einzulegen, erzählte Naomi von ihren Problemen mit Pilar, dem Kampf im Wald, wie Pilar versuchte, ihre Gedanken vor Iker zu verheimlichen, und dass sie hinter Roman her war. Sie sprang in ihrer Erzählung weiter zu der Hutschachtel, die sie unter Dorotheas Bett gefunden hatte und ihrem Versuch, die Unterlagen zu sortieren, um mehr über ihre Herkunft herauszufinden. Naomi endete, ohne dass ihre Großmutter etwas gesagt hatte, damit, dass Sammy tatsächlich in Barcelona aufgetaucht war und Naomi sich wünschte, er wäre tot und in irgendeinem Waldstück verscharrt.

»Das ist eine ganze Menge für eine Woche.« Leandra stand auf, ging in Kais Zimmer und legte das schlafende Baby zurück in seine Wiege, bevor sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Was willst du nun tun?«

Naomi starrte auf die Platte des Wohnzimmertischs. »Wäre Sammy nicht so plötzlich aufgetaucht ... mit Pilar werde ich fertig. Seit unserem Kampf geht sie mir aus dem Weg. Am liebsten würde ich weiterforschen, was es mit diesem Martín Cortés auf sich hat.«

Leandra nickte nachdenklich. »Und was erhoffst du dir davon?«

»Keine Ahnung.« Naomi dachte nach. »Vermutlich hoffe ich, dass wenn ich den Ersten aus unserem Clan ausfindig machen kann, also den, der sich als Erster verwandelt hat, dass ich dann einen Weg finden werde, die Verwandlung zu stoppen.«

»Und was, wenn du ihn findest und es sich nicht ändern lässt?«

»Darüber zerbreche ich mir den Kopf, wenn es so weit ist. Es würde mich schon glücklich machen, wenn ich Kai davor bewahren könnte.« Naomi zog die Beine vor ihre Brust und schlang die Arme darum.

»Selbst wenn das möglich wäre, würde es dir nichts nützen.«

»Doch. Die Blutlinie wäre unterbrochen, und damit wäre nach mir alles vorbei.«

Leandra schüttelte den Kopf. »Hörst du dir eigentlich zu? Mag sein, dass dann Kai davon befreit wäre. Trotzdem würde sich für dich nichts ändern. Und was ist, wenn Roman sich eigene Kinder wünscht?«

Darüber hatte Naomi auch schon nachgedacht. Roman würde irgendwann eigene Kinder haben wollen; nach ihrem Studium. Doch diese Entscheidung würde sie alleine treffen. Bislang gingen ihre Überlegungen kaum über einige Monate hinaus. Konnte sie von Roman verlangen, keine eigenen Kinder großzuziehen? Würde er es verstehen? Er musste einfach. Das Risiko, dass sie ihre Gene an das Kind weitergäbe, war zu groß. Ein Leben in ständiger Gefahr, vielleicht sogar ein Leben ohne Liebe. Niemals würde sie das bewusst ihrem Kind antun.

»Ach Oma, warum ist alles so verflucht kompliziert? Ich will gar nicht über andere Kinder nachdenken, solange Sammy noch lebt und hinter uns her ist. Ich wünschte, er wäre tot.«

»Was sagt Romina zu der ganzen Angelegenheit?«, hakte Leandra nach.

»Im Grunde gar nichts. Sie nimmt die Tage und die Ereignisse, wie sie kommen. Erst dann überlegt sie sich eine Lösung. So kurzfristig zu planen, das schaffe ich nicht. Unmöglich.«

Mit einem Satz sprang Naomi auf die Beine. »Ich hole mir ein Glas Wein. Soll ich dir eines mitbringen?«

Leandra nickte bestätigend.

Mit zwei Gläsern Rotwein kehrte Naomi ins Wohnzimmer zurück. »Was würdest du an meiner Stelle tun?« Sie stellte die Weingläser auf den Couchtisch.

»Ich weiß es nicht, Kind.« Leandra drehte das Glas in Händen. »Wirklich nicht. Wenn du deine Vorfahren suchen willst, helfe ich dir gerne. Es interessiert mich ja selbst brennend. Jedenfalls solltest du deinen Spanischunterricht fortsetzen und lernen, damit du bald mit deinem Studium beginnen kannst. Nach deiner Ausbildung könntet ihr wegziehen. Irgendwohin, wo ihr in Sicherheit seid.«

»Und was ist mit Sammy? Er wird uns finden.«

Ihre Großmutter schwieg, und in ihren Augen schimmerten Tränen.

Im selben Moment bereute Naomi, ihre Sorgen bei Leandra abgeladen zu haben. Wenn sie sich selbst nicht zu helfen wusste, wie sollte es ihre Großmutter tun? Noch bevor sie aufstehen konnte, um Leandra zu sagen, sie würde alles in den Griff bekommen, flog die Tür zum Wohnzimmer auf.

Romina stürmte herein, blickte sich Hilfe suchend um, bevor sie kurzerhand nach Leandras Weinglas griff und es in einem Zug leerte.

»Was ist denn passiert?«, rief Naomi aus.

»Katie hatte einen Nervenzusammenbruch.« Romina tigerte ruhelos im Raum auf und ab. »Eigentlich ist es noch schlimmer. Sie versuchte, sich umzubringen!«

Naomi sprang auf die Beine, während Leandra die Schultern hängen ließ und zwischen den Sofapolstern zu verschwinden schien.

»Ich dachte, sie seien gläubige Katholiken!«, rief Naomi.

Romina sah sie überrascht an. »Sie sind Christen und keine Katholiken.«

»Naja, auch da wird Selbstmord zu den Todsünden zählen«, erwiderte Naomi. »Aber warum hat sie das getan?«

»Jason hielt sie davon ab, mit Brenda über die Verwandlung zu sprechen. Katie fühlt sich wie der leibhaftige Teufel, seitdem sie weiß, was sie ist.«

»Brenda. Das ist doch die Nonne, oder?«, hakte Leandra nach.

»Ja. Und Jason ist klar, dass Brenda es nicht verstehen würde. Er versuchte Katie davon zu überzeugen, dass sie kein Teufel oder Dämon sei ... sie hat trotzdem Schlaftabletten genommen.«

»Und jetzt ist alles aufgeflogen?« Naomi trank einen Schluck Wein. »Weiß diese Nonne jetzt über uns Bescheid?«

»Nein. Jason kam nach Hause, fand seine Schwester rechtzeitig und brachte sie in die Klinik. Dort überzeugte er Katie davon, ihre Verzweiflung auf Liebeskummer zu schieben. Zumindest so lange, bis ich dort ankomme.« Romina rannte immer noch wie ein aufgescheuchtes Huhn auf und ab und raufte sich die Haare. »Wenigstens waren ihre Eltern verreist und Brenda glaubte die Geschichte mit dem Liebeskummer, weil sie seit einigen Monaten kaum noch zu Katie durchdrang, obwohl sie vorher ein inniges Verhältnis gehabt hatten. Es wäre ein schrecklicher Fehler, wenn Brenda oder die Eltern etwas davon erfahren würden.«

»Wird Katie dichthalten?«, wollte Naomi wissen.

Romina schüttelte den Kopf. »Jason sagte, er sei nicht in der Lage, sie lange davon abzuhalten, mit Brenda zu sprechen.«

Leandra erhob sich schwerfällig. »Wie wird eine Nonne darauf reagieren? Sie wird veranlassen, dass Katie in eine Klinik eingewiesen wird. Und wenn sie sich dort verwandelt, ...«

Naomi wollte sich nicht vorstellen, was eine Verwandlung an einem solchen Ort für Katie bedeuten würde. Das würde am Ende nicht nur sie zerstören, sondern letztlich den ganzen Clan gefährden.

»Wann fliegst du?«, fragte Naomi.

»Sobald ich dich überzeugt habe, dass du mitkommst! Ich kann nicht alle drei gleichzeitig beaufsichtigen.« Romina sah sie flehend an.

»Das Kind bleibt hier«, mischte sich Leandra ein. »Ich gehe mit dir. Brenda müsste in meinem Alter sein und damit habe ich bessere Chancen, mit ihr zu sprechen, als ihr beide zusammen. Du bist zwar älter und erfahrener, aber mit deinem Aussehen wirkst du trotzdem wie ein junges Mädchen. Und stell dir vor, du tauchst mit Naomi auf. Eure Ähnlichkeit wird für viel zu viel Aufsehen sorgen. Das dürfen wir nicht riskieren.«

Romina schlug sich vor den Mund. »Verdammt! Du hast recht. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.« Sie trat vor Ärger mit dem Fuß gegen den Sessel. »Doch wie zum Teufel sollen wir nur so schnell dein Visum für die USA bekommen? Manchmal bekommt man es sofort erteilt, aber manchmal dauert die Bearbeitung zweiundsiebzig Stunden. So lange kann ich nicht warten.«

»Brauchen wir nicht«, widersprach Leandra mit einem breiten Grinsen. »Ich habe einen neuen Reisepass und ein gültiges ESTA-Zertifikat.«

Romina riss die Augen auf. »Was sagst du da?«

»Naja, nachdem sich Naomi während ihres Aufenthalts in Maine so merkwürdig benommen hat und mich nie zurückgerufen hat, habe ich mir dieses neue Dokument besorgt; und es ist immer noch ein Jahr gültig.«

Naomi traute ihren Ohren kaum. Ihre Großmutter hatte damals offenbar kurz davor gestanden, ein Flugzeug nach Bangor zu besteigen.

Mit ausgestreckten Armen eilte Romina auf ihre Tochter zu, riss sie an ihre Brust und lachte. »Perfekt. Einfach perfekt. Ich kümmere mich sofort um einen Flug nach San Antonio!« Damit wirbelte sie aus der Tür hinaus und ließ Naomi und Leandra atemlos zurück.

»Verstehst du jetzt, was ich meine? Romina verhält sich immer so. Sie treibt mich in den Wahnsinn. Sobald es ein Problem gibt, schimpft und tobt sie, doch keine fünf Minuten später löst sich alles in Luft auf, weil die Lösung schon vor ihr auf dem Tisch liegt. Ich habe keine Ahnung, wie sie das anstellt.« Naomi sank zurück in die Kissen.

»Etwas Glück gehört eben auch dazu. Hätte ich nicht das Visum bereits im Pass, hätten wir nach einer anderen Lösung suchen müssen.« Leandra setzte sich zu Naomi. »Das bedeutet wohl, ich packe um und nicht aus. Und soll ich dir was sagen: Mir graut vor dem langen Flug.«

»Wenn ich ehrlich bin, wäre ich gerne mitgeflogen, um weitere Clanmitglieder zu treffen. Auch wenn ich Roman und Kai ungern alleine gelassen hätte ...«

Leandra drückte ihr die Schulter. »Du wirst sie mit Sicherheit bald kennenlernen. Alles zu seiner Zeit.«

Naomi nickte zaghaft. Missmutig gestand sie sich ein, dass sie nur deswegen bereitwillig geflogen wäre, um Sammy und Pilar zu entkommen, denn es war bedeutend einfacher, die Probleme anderer Leute anzugehen, als sich um ihre eigenen zu kümmern, die sich wie ein Berg vor ihr auftürmten.