Zwei

Kai gluckste vor Vergnügen, als Naomi ihn auf ihrem Arm hielt und am Bauch kitzelte. Sie trat mit ihm zum Fenster und sah hinaus. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Ihre Mutter würde vermutlich wieder einen Kommentar loslassen, weil sie so lange geschlafen hatten. Aber es war Samstag und Roman sollte wenigstens an den Wochenenden ausschlafen. An diesen Tagen genoss es Naomi, ruhig neben ihm zu liegen und seine Nähe zu spüren.

Vor einer halben Stunde hatte sie Kai zu sich ins Bett geholt und ihn sich auf den Bauch gelegt. Sein Brabbeln musste Roman geweckt haben.

»Na, du Schlafmütze, endlich bist du auch aufgewacht«, sagte Naomi und küsste ihn. »Pass du auf den Racker auf.« Sie legte Kai auf Romans Brust und verschwand im Badezimmer.

Wenig später stand Naomi am Fenster und wartete ungeduldig, bis Roman endlich aus dem Bad käme, um gemeinsam ihrer Familie von ihrem geplanten Umzug nach Barcelona zu berichten. Im ersten Moment würde Leandra ein enttäuschtes Gesicht ziehen, weil sie es nicht vor Naomis Mutter erführe, aber im Grunde würde sie die Entscheidung befürworten und sich freuen.

Naomi hatte die halbe Nacht wach gelegen, um sich Argumente und Ausreden auszudenken und im Geiste das Gespräch mit ihrer Mutter durchzuspielen. Dieses Mal fühlte sie sich bereit, sich ohne Leandras Unterstützung ihrer Mutter zu stellen.

Sie nickte mehrfach und flüsterte Kai leise vor, was sie sagen wollte, als Roman plötzlich hinter ihr auftauchte.

»Selbstgespräche? Das kenne ich ja noch gar nicht von dir.«

»Ich hoffe nur, für Luna klingt alles plausibel. Sie wird mich mit Fragen löchern.«

Er trat auf sie zu und streckte die Hände aus. »Gib ihn mir, dann kannst du nachher in der Luft herumfuchteln, wie du es immer machst, wenn du versuchst, jemanden von etwas zu überzeugen.«

»Sehr witzig. Mach dich nur lustig über mich.« Mit dem Ellbogen knuffte sie ihn in die Seite, bevor sie ihm Kai in die Arme drückte.

»Da ich jetzt die Hände voll habe, ist es heute dein Job, mir das Frühstück herzurichten.« Er hob Kai hoch in die Luft, und der Junge quietschte leise, bevor er zu glucksen begann.

»Sehr schlau ausgedacht«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Also los, bringen wir es hinter uns!«

Naomi polterte die Treppenstufen hinab. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase.

In der Küche traf sie auf Leandra. »Ist Mama gar nicht da?«

»Dir auch einen Guten Morgen«, flachste Leandra. »Ihr habt euch also entschieden? Ich sehe es dir doch an der Nasenspitze an. Also, schieß los?«

Naomi ging zur Kaffeemaschine, holte aus dem Schrank darüber zwei Kaffeetassen heraus und schenkte ein.

»Wir wollen euch zusammen mitteilen, was wir beschlossen haben.« Roman beugte sich zu Leandra und küsste sie auf die Wange. »Buenos días.« Er grinste verschmitzt und setzte sich Leandra gegenüber.

»Verräter«, schimpfte Naomi, während sie ihm zwei Löffel Zucker in die Tasse gab.

Leandra hob schmunzelnd die Augenbrauen und nickte Naomi zu. »Dann benötigen wir einen Plan.«

»Kaum bin ich mal draußen, verpasse ich alles! Was wolltet ihr uns sagen? Und wozu braucht ihr einen Plan?« Luna stand im Türrahmen, die Hände in die Seiten gestemmt und sah von Roman zu Naomi. »Oh. Sagt nur, ihr wollt heiraten? Das wurde auch Zeit!«

Naomi suchte Romans Blick. Er sah zu Boden und rang sichtlich um seine Fassung.

»Mama, das haben wir doch besprochen. Warum fängst du immer wieder davon an?«

»Worum geht es dann?« Luna blickte irritiert von Naomi zu Roman, um ihren Blick anschließend zu Leandra zu lenken. »Du bist schon wieder informiert, stimmt´s?«

»Nein, dieses Mal nicht. Aber ich habe einen leisen Verdacht.«

»Setz dich doch einfach hin, Mama. Ich mache für uns kurz Frühstück und dann besprechen wir alles.« Naomi trank einen Schluck Kaffee und wünschte, das Gespräch wäre schon vorüber. Sie öffnete den Brotkasten, legte die Brötchen in einen Korb, während ihre Mutter aus dem Kühlschrank Butter, Marmelade und Wurst holte. Nachdem Naomi Teller und Besteck auf den Tisch gestellt hatte, blieb ihr nichts weiter zu tun, als sich zu setzen.

»Soll ich?«, fragte Roman.

»Nein. Ich mach schon.« Sie griff nach einem Brötchen, schnitt es auf und belegte es mit Schinken. Weil sie nicht wusste, wie sie beginnen sollte, platzte sie ohne Umwege mit der Nachricht heraus. »Wir ziehen nach Barcelona.«

»Was? Warum?« Luna sah sie aus aufgerissenen Augen an. »Was soll an Barcelona besser sein, als an Hamburg? Wir wollten doch gemeinsam eine Lösung finden.«

»Mama! Roman bekommt hier an der Universität keine Arbeit. Das haben wir mehrfach versucht. Aber durch seine Beziehungen aus dem letzten Jahr kann er im kommenden Semester die Dozentenstelle an der Uni in Barcelona antreten, die er eigentlich hätte antreten sollen, bevor wir hierher gezogen sind.« Naomi biss in ihr Brötchen und suchte nach weiteren Argumenten. »Und das ist nur ein Punkt. Karsten hat mir einige Unterlagen geschickt. Es besteht die Möglichkeit, günstig in einer Privatunterkunft zu wohnen. Ebenfalls ist er sich sicher, dass ich nach einem Intensivkurs und zusätzlichem Privatunterricht in Spanisch in einem halben Jahr das Studium aufnehmen könnte. Die Unterkunft, die Karsten uns gesucht hat, passt perfekt. Die Eigentümerin würde sogar auf das Baby aufpassen, oder einen Babysitter für uns besorgen. Außerdem gibt es dort freie Krippenplätze, wo Kai hingehen kann, sobald er alt genug dafür ist. Hamburg ist viel teurer, und freie Plätze gibt es dort überhaupt nicht. In Hamburg kümmert man sich am besten schon um eine Tagesstätte, wenn man nur mit dem Gedanken spielt, in ein paar Jahren schwanger zu werden.«

Mit jedem gesprochenen Wort sackte Luna mehr in sich zusammen. »Ihr wärt aber meilenweit weg.« Ihre Stimme klang brüchig.

Naomi legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »So weit weg ist Barcelona gar nicht. Es liegt vor der Haustür. Stell dir vor, wir gingen nach Amerika, um bei Romans Eltern zu wohnen. Auch darüber haben wir nachgedacht.«

»Das ist nicht euer Ernst?« Luna schnappte nach Luft. Nach einer kurzen Pause seufzte sie. »Was hältst du davon?«, wandte sich Luna an ihre Mutter und jammerte: »Ich hasse es, zu verreisen.«

»Das Reisen übernehme ich für dich. Die Stadt gefällt mir. Es erinnert mich irgendwie an unsere Zeit in London.« Leandra grinste schief, als Naomi ihr einen warnenden Blick zuwarf. »Also, für mich hört sich das sehr vernünftig an. Ab und zu wirst du es auch über dich bringen, in ein Flugzeug zu steigen. Immerhin liegt Barcelona gerade mal zwei Flugstunden entfernt. Und das Kind braucht eine Ausbildung.«

Naomi verzog das Gesicht. Vermutlich konnte sie vierzig Jahre alt werden, ihre Großmutter würde sie immer noch das Kind nennen.

»Habt ihr euch das auch wirklich gut überlegt?«, versuchte Luna noch ein wenig halbherzig sie davon abzubringen.

Roman nickte. »Es tut mir leid, Luna, aber wir müssen an unsere und an Kais Zukunft denken. Ich bin euch aufrichtig dankbar, wie ihr mich in eure Familie aufgenommen habt, aber ewig kann das so nicht weitergehen.«

Leandra nickte zustimmend. »Ich verstehe euch gut. Habt ihr schon ein Abreisedatum geplant?«

»Noch nicht. Aber so bald alles geregelt ist, geht´s los.«

Naomi hielt immer noch die Hand ihrer Mutter. »Mama. Wir sind doch nicht aus der Welt. Du kannst uns jederzeit besuchen.«

»Ich hoffe, die Einladung gilt auch für mich. Denn ihr werdet mich öfter am Hals haben, als euch lieb sein wird«, mischte sich Leandra ein.

Auf Lunas Gesicht erschienen rote Flecken. »Schön, dann wirst du regelmäßig zu den beiden rüberfliegen. Ihr wisst alle, dass ich mich in großen Städten unwohl fühle. Und dann noch in einem Hotel wohnen ...« Luna schüttelte den Kopf und drückte Naomis Hand. »Und ihr versprecht mir, oft hierher zu kommen.«

»Versprochen«, sagte Roman und zupfte von Kais Hemdchen angetrocknete Milchreste weg.

 

*

 

Leandra öffnete die Schlafzimmertür und spähte hinein. »Bist du noch wach?«

»Ja«, brummte Naomi und legte die Zeitschrift beiseite. »Komm rein.«

Ihre Großmutter schlich zur Wiege, schaukelte sie kurz an und beobachtete den schlafenden Kai. »Der Zwerg wird mir fehlen. So ein süßer Fratz.«

»Oma, du kommst doch sowieso in einer Woche nachgereist, oder etwa nicht?« Naomi zog die Beine an, setzte sich in den Schneidersitz und lehnte sich ans Kopfende. »Aber deswegen schleichst du dich nicht in mein Zimmer.«

Leandra setzte sich auf die Bettkante. »Wirst du zurechtkommen?«

»Wir bekommen die oberen Räume, die Dorothea bewohnt hat. Ich kannte ja nur ihr Schlafzimmer. Dass sich dahinter eine ganze Wohnung befindet ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Romina hat mich am Telefon sogar ausgelacht, als ich ihr sagte, ein eigenes Reich sei unsere Bedingung, bevor wir kämen.«

»Meine Mutter ist schließlich nicht weltfremd. Außerdem legte Dorothea genauso wert auf ihre Privatsphäre, wie meine Mutter. Auch wenn sie später gut befreundet waren, so waren sie am Anfang doch Fremde füreinander. Und jeder verbirgt Geheimnisse oder hat Macken, die man nicht mit anderen teilen mag.«

»Welche verbirgst du?«, fragte Naomi.

»Ich?« Leandra grinste. »Bei mir handelt es sich um die berühmte Ausnahme. Ich verberge nichts. Zumindest nicht vor dir. Im Gegensatz zu meiner armen Tochter. Sie weiß im Grunde nicht viel von mir. Und so wird es wohl bleiben. Leider.«

»Ach Oma. Hoffentlich streite ich nicht ständig mit Romina. Immerhin kennen wir uns kaum, und jetzt? Jetzt sollen wir sogar zusammenwohnen!« Naomi zupfte an der Bettdecke herum. »Was soll ich tun, wenn es schief geht?«

»Das wird es nicht. Mit etwas Mühe und Verständnis klappt das schon. Höre dir Rominas Meinung an. Sie verfügt über Erfahrung und weiß, wovon sie spricht. Also denke erst nach, bevor du ihr widersprichst.« Leandra ließ sich auf die Matratze zurücksinken und stöhnte auf. »Was rede ich hier eigentlich für einen Blödsinn! Du und nachdenken ... ein Widerspruch in sich. Aber tu mir den Gefallen ... versuche es wenigstens.«

»Oma. Eben wollte ich dir eine Rückenmassage anbieten.« Naomi beugte sich vor und sah ihrer Großmutter ins Gesicht. »Aber jetzt?«

»Seit wann hörst du mir überhaupt zu?« Leandra drehte sich auf den Bauch. »Und jetzt massiere bitte meine alten Knochen, damit ich auch wirklich in einer Woche nachkommen kann!«