Achtzehn

Naomi drückte auf die Fernbedienung, die das automatische Rolltor in Bewegung setzte. »Hoffentlich ist mit Iker alles in Ordnung.«

Kaum stoppte der Wagen, öffnete Naomi die Autotür und stürmte mit Kai im Arm ins Haus. Sie rannte nach oben, legte den schreienden Kai in die Wiege und erklomm die Stufen, die ins zweite Obergeschoss führten. »Iker?«

»Hier drinnen!«, rief Iker und klopfte von innen gegen die Tür.

Der Schlüssel steckte von außen. Naomi drehte ihn im Schloss und stieß die Tür auf. Iker breitete die Arme aus, um sie zu umarmen, ohne Rücksicht darauf, dass er splitternackt war. Als er sie an sich drückte, zuckte Naomi vor Schmerzen zusammen. Ihr Rücken stand in Flammen. Sofort ließ Iker sie los und ging einen Schritt zurück. »Du bist verletzt? Was ist passiert? Als ich zu mir kam, lag ich nicht auf meinem Sofa, sondern wie ein Paket verschnürt hier oben.«

Naomi entdeckte Ikers blaue Handgelenke. Die Fessel musste ihm während der Verwandlung mächtig zugesetzt haben, bevor sie letztlich zerriss. Auch seine Kleidung lag zerfetzt auf dem Fußboden.

»Ich sollte mir besser etwas anziehen und deine Verletzung ansehen. Und du erzählst mir, was hier vor sich ging.« Iker drückte sich an ihr vorbei und lief die Treppenstufen hinunter.

Naomi holte Kai aus der Wiege, da dieser immer noch lautstark weinte, und eilte nach unten.

Aus der Küche hörte sie Stimmen. Karsten band gerade Sammys Knöchel an den Beinen des Küchenstuhls fest. Er kontrollierte, ob die Socke noch sicher genug in seinem Mund steckte und nickte. »So, um den kümmern wir uns später. Ich weiß nicht, was du mit ihm vorhast, aber erst müssen wir eure Verletzungen versorgen.«

Roman sah seine Schulter an. »Nachdem ich sie bewegen kann und die Wunde zu bluten aufgehört hat, wird die schon wieder.«

»Trotzdem. Iker ist okay, wie ich gesehen habe. Außer, dass ihm wohl sein nackter Hintern etwas peinlich war, als er eben vorbei geflitzt ist, scheint ihm nichts passiert zu sein. Wo habt ihr Verbandszeug und Desinfektionsmittel?«

»Oben, im Badezimmer«, antwortete Naomi.

»Dann kommt mal mit.«

Iker betrat die Küche und nahm Naomi den kreischenden Kai ab. Doch anstatt sich wie gewöhnlich sofort zu beruhigen, kreischte er lautstark weiter. »Was ist denn mit Kai los?«, fragte Iker und zog die Augenbrauen hoch. »Und warum sitzt in meiner Küche ein gefesselter Mann?«

»Das ist Sammy.« Naomi betrachtete Iker und Kai. Ihr Baby schrie sich die Lunge aus dem Leib.

Sie wagte es kaum, den Gedanken zu Ende zu denken. Doch nachdem Kai nicht aufhörte zu brüllen, lächelte sie plötzlich. Das unsichtbare Band, das Kai und Iker verbunden hatte, schien durchtrennt zu sein. Naomi war plötzlich überzeugt davon, dass sich Kai niemals verwandeln würde. Die Götter hatten nicht nur Sammy vom Fluch befreit. Auch ihr Sohn Kai schien erlöst zu sein.

»Den Rest erzähle ich euch oben.« Naomi lächelte trotz ihrer Schmerzen und verließ, begleitet von Kais Geschrei, die Küche.

 

Iker betupfte Naomis Rücken mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Wattebausch.

Romans Stichwunde schien nicht tief zu sein. Karsten reinigte sie, bevor Iker ihm Klammerpflaster anlegte und die Schulter anschließend verband.

»Das müsste halten. Aber sollte das nicht besser ein Arzt versorgen?«, fragte Karsten.

»Er kann damit nicht ins Krankenhaus. Was denkst du, was die alles von ihm wissen wollen? Die Verletzung ist nicht so schwer, als dass wir es riskieren sollten.«

Roman nickte bestätigend und setzte sich zu Naomi auf die Bettkante. »Wie geht es dir?«

»Die Schmerztabletten helfen langsam. Wie tief sind die Kratzer eigentlich?«, fragte Naomi.

»Du hast fünf tiefe Schnitte im Rücken. Hätte Sammy dich voll erwischt, hätte er dir vermutlich sogar die Rippen gebrochen. Es wird einige Zeit dauern, bis die Wunden ganz verheilt sind. An den tiefen Stellen bringe ich die Klammerpflaster an, damit die Wundränder zusammenbleiben. Morgen muss ich das Ganze wiederholen. Sie werden bei der Verwandlung abplatzen.«

»Du hast das schon öfter gemacht, oder?«, meinte Roman.

Iker bejahte und sah zu Roman. »Romina kam früher oft verletzt nach Hause. Ich habe also eine gewisse Übung darin. Und sobald ich Naomi fertig verarztet habe, sehe ich mir deine Stirn an. Die Platzwunde sollte geklammert werden.«

Nachdem Iker die Wunden versorgt hatte, seufzte er. »Jetzt will ich aber endlich wissen, was geschehen ist. Und Naomi, lass bitte nichts aus.«

Naomi blieb auf dem Bauch liegen, stützte sich auf die Ellbogen und begann zu erzählen. Erst berichtete sie, was sie zusammen mit Karsten in den Archiven von Sevilla entdeckt hatte. Dann erzählte sie von Mexiko und was sie durch den Aztekenhäuptling Nopaltzin in Erfahrung bringen konnte.

Als sie die Zeremonie beschrieb, und wie sich die damaligen Bilder vor ihrem inneren Auge manifestiert hatten, saßen Iker, Roman und Karsten mit offenem Mund vor ihr auf dem Fußboden und starrten sie an, als sei sie verrückt geworden.

Karstens Augen leuchteten. »Wow, die Beschreibung der Stadt könnte ich für meine Semesterarbeit hernehmen«, meinte er pragmatisch.

»Und du hast sogar verstanden, was dort gesprochen wurde?«, fragte Roman. »Das ist unglaublich!«

Iker nickte zustimmend.

Naomi gähnte verstohlen, als sie mit ihrer Erklärung endete, dass der Fluch mit dem Ende der fünften Sonne vorbei sein könnte. »Außerdem bin ich überzeugt, dass Kai sich nicht verwandeln wird. Die Götter müssen meinen Nachfahren vergeben haben, als ich Sammy verziehen habe. Ich habe lange gebraucht, um mir darüber klar zu werden, ob ich Sammy tatsächlich verzeihen könnte, oder ob es nicht doch besser wäre, ihn zu töten.« Naomi legte eine kleine Pause ein. »Aber nachdem ich Sammy besiegt hatte, waren mein Hass und meine Angst einfach verschwunden. Ich fühlte mich nur traurig, weil wieder zwei Menschen wegen Sammys Irrsinn ums Leben gekommen waren. Wenn ich daran denke, wie Pilar ihr Leben aufs Spiel setzte, um Roman zu beschützen, beweist das deutlich, dass sie unter Sammys Einfluss stand. Das musste endlich aufhören. Hass erzeugt weiteren Hass und Gewalt. So ein Leben will ich nicht führen. Aus diesem Grund konnte ich nicht zulassen, dass du Sammys restliche Leben endgültig auslöschst. Was passiert, wenn er doch noch jemanden hat, der ihm nahesteht und der ihn rächen will? So wird es nie enden.« Naomi sah zu Roman. »Ich hätte mir immer vorgeworfen, dass ich einen anderen Weg hätte finden müssen. Es dauerte einige Stunden, bis ich mit mir im Reinen war und meine Gefühle sortiert hatte. Jetzt bin ich aber davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.«

»Deswegen hat sich Kai nicht von mir beruhigen lassen, obwohl ich ihn auf dem Arm hielt. Meine Gedanken dringen nicht mehr zu ihm durch.« Iker kratzte sich am Kinn. »So etwas hätte ich niemals für möglich gehalten.«

»Ich auch nicht«, stimmte ihm Naomi zu.

Roman sah Naomi in die Augen. »Dann ist Kai nun ein ganz gewöhnliches Baby?«

»Ja, ich denke schon.« Naomi lächelte. »Sonst hätte Iker Kai beruhigen können. Seitdem wir hier sind, kam es nicht ein einziges Mal vor, dass Kai in Ikers Armen weitergeweint hätte. Es muss so sein. Und meine Nachkommen werden ganz normale Menschen sein.«

Für einen Moment schwiegen alle. Jeder schien über das Gehörte nachzudenken.

»Und im Dezember könnte es endgültig vorbei sein?«, fragte Roman. »Das wäre großartig!«

»Jetzt wo Sammy uns nicht mehr schaden kann, ist es mir gleichgültig, ob es vorüber sein wird oder nicht.« Naomi bemerkte den fassungslosen Ausdruck auf Romans Gesicht. »Weißt du, keiner kann sagen, was mit Romina passiert, wenn der Fluch von uns genommen wird. Es könnte ihren Tod bedeuten, und ich möchte sie nicht verlieren.«

Iker nickte bedächtig.

»Sammy wird uns nicht in Ruhe lassen«, wandte Roman ein. »Er hasst dich jetzt nur noch mehr, nachdem du ihn zu einem normalen Menschen gemacht hast. Du hast ihn doch auf der Lichtung gehört.«

»Das wird nicht lange so bleiben«, widersprach Naomi.

Roman runzelte die Stirn.

»Sobald er schläft, werde ich ihm den Kuss des Vergessens geben. Damit findet hoffentlich alles ein Ende. Wir müssen uns nur genau überlegen, was wir anschließend mit ihm anstellen.« Naomi sah von einem zum anderen. »Wir können ihn schlecht einfach auf die Straße setzen.«

»An den Kuss habe ich überhaupt nicht mehr gedacht«, sagte Roman.

Naomi lächelte. »Ich habe mir genau überlegt, was ich tun könnte. Ich hatte zwar meine Zweifel, ob der Kuss auch funktionieren würde, als Sammy noch ein Seelenbegleiter gewesen ist. Dann hätten wir eben nach einer anderen Lösung suchen müssen. Doch jetzt, wo er ein Mensch ist ...«

»Sollte es funktionieren ...« beendete Iker den Satz. »Romina hat den Kuss schon mehreren Menschen gegeben, um die Erinnerung an sie auszulöschen.«

»Es klappt also auch bei Menschen, die man nicht liebt?«, fragte Naomi nach.

Iker nickte. »Vielleicht sollte ich mal nach dem Paket in der Küche sehen.«

»Karsten, würdest du das übernehmen?« Naomi sah Iker an. »Du bist der Einzige, den Sammy nur ein einziges Mal gesehen hat. Dabei sollten wir es auch belassen, bis wir einen genauen Plan zurechtgelegt haben.«

Karsten nickte. »Ich bin gleich wieder da.«

Eine überwältigende Müdigkeit überfiel Naomi.

Iker stand vom Fußboden auf. »Wirst du heute Abend in den Wald gehen?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, erwiderte Naomi.

»Mir wäre es lieber, wenn du diese Nacht auf dem Grundstück bleiben würdest. Es ist schwer, aber es wäre sicherer für dich. Selbst Romina ging nicht in den Wald, wenn sie schwer verletzt war. Normalerweise bleibe ich im Haus, aber wenn du möchtest, würde ich mit dir in den Garten gehen. Außerdem sollten wir überprüfen, dass Sammy sich tatsächlich nicht mehr verwandelt. Nur weil er sich letzte Nacht frühzeitig zurückverwandelt hat, bedeutet es nicht, dass er sich diese Nacht nicht doch verwandeln könnte.«

Karsten öffnete die Tür. »Sammy ist okay. Als ich ihm den Knebel aus dem Mund genommen habe, damit er etwas trinken kann, bettelte er mich an, ihn loszumachen. Und als ich daraufhin nichts sagte und ihm das Wurstbrot vor die Nase hielt, begann er mir zu drohen. Der Knebel ist wieder fest im Mund und das Wurstbrot habe ich in den Kühlschrank gepackt.« Karsten sah sich in der Runde um. »Ich sollte los. Alice erwartet mich in einer Stunde am Flughafen, und ich muss mir noch eine Geschichte ausdenken, die sie mir abkauft.«

»Was hast du eigentlich genau zu ihr gesagt, als du aus Sevilla abgereist bist?«, wollte Naomi wissen.

Karsten grinste. »Beziehungsprobleme. Ich konnte sie davon überzeugen, dass Roman zurück in die Staaten will und du nicht weißt, wie du ihn von seinem Entschluss abbringen sollst, nachdem bei euch die Fetzen geflogen sind.«

»Und das hat sie dir abgenommen?«, fragte Roman.

Karsten grinste. »Klar, warum auch nicht?«

Vorsichtig rollte sich Naomi zur Seite, um aufstehen zu können. »Lass mich wissen, wie unser Streit ausgegangen ist, ja? Nicht, dass ich was Falsches sage.« Sie küsste Karsten auf die Wange, sah ihm tief in die Augen und sagte: »Danke. Für alles.« Er lächelte sie an und nickte.

»Ich bring dich runter«, meinte Roman. »Und du solltest schlafen«, fügte er mit einem Blick auf Naomi hinzu.

Iker ging mit Karsten und Roman zur Tür. »Naomi.« Er drehte sich zu ihr um. »Bleib heute Nacht bitte hier. Wenn wir uns nur bei den Büschen im hinteren Garten aufhalten, bemerkt uns niemand. Du solltest dich möglichst wenig bewegen, damit kein Dreck in deine Wunden kommt.«

»In Ordnung«, erwiderte sie gähnend. Sie fühlte sich viel zu müde, um darüber zu diskutieren, und ihr fehlte ohnehin die Kraft, die Fahrt in den Wald alleine zu unternehmen.

Außerdem hatte Iker recht. Nur weil Sammy spürte, dass er sich nie wieder verwandeln würde und Naomi ebenfalls davon überzeugt war, dass es stimmte, so war es trotzdem sicherer, in seiner Nähe zu bleiben.

Mit einem Seufzer rollte sie sich auf dem Bett zusammen und schlief augenblicklich ein.

 

Den restlichen Tag verschlief Naomi. Sie wachte erst auf, als Roman sie weckte. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte sie an. »Besser?«

Sie nickte.

»Du solltest noch etwas essen, bevor ...« Die letzten Worte ließ er in der Luft hängen.

Naomi wusste, was er hatte sagen wollen. »Ich werde hierbleiben. So ist es sicherer für alle. Wenn Iker es schafft, sich hier zu verwandeln, dann sollte mir das auch gelingen. Es ist ja nur dieses eine Mal.«

Erleichterung breitete sich auf Romans Gesicht aus. »Iker und ich haben einen Plan gefasst. Wir haben Sammy bereits ein Schlafmittel verpasst.«

»Und er hat es freiwillig genommen?«, fragte Naomi erstaunt.

»Naja, so ganz freiwillig war es nicht. Erst hat er sich geweigert, die Tabletten zu nehmen, aber als ich ihm sagte, ich würde nachhelfen, hat er sie dann doch geschluckt. Außerdem ist Sammy davon überzeugt, dass wir ihn irgendwann laufen lassen.«

»Woher weißt du das?« Naomi setzte sich auf. »Kann Iker noch in seinen Gedanken lesen?«

»Nein. Nicht einen Gedanken. Iker blieb im Flur stehen und hat es versucht. Nichts. Dabei konnte ich regelrecht sehen, wie es in Sammys Hirn gearbeitet hat. Ich bin überzeugt davon, dass er sich schon überlegt, wie er es uns heimzahlen kann.« Roman legte seinen Kopf in Naomis Schoß und sah zu ihr hoch.

»Und was ist der Plan?«, fragte Naomi.

»Du erinnerst dich daran, wie es mir nach dem Kuss des Vergessens ging?«, fragte Roman.

Naomi zog die Augenbrauen zusammen.

»Ich erwachte doch in Bertrams Haus und wusste nicht, warum oder wie lange ich mich schon dort aufhielt. An dich habe ich mich überhaupt nicht mehr erinnert. Sammy wird es ähnlich ergehen, nachdem du ihn geküsst hast. Morgen früh wirst du ihn küssen, und anschließend gehen wir in unsere Wohnung. Iker wird abwarten, bis Sammy aufwacht und überprüfen, ob er sich an etwas erinnern kann. Wenn er, wie erwartet, keine Ahnung hat, ruft Iker die Polizei. Iker wird behaupten, Sammy sei vor seinem Haus zusammengebrochen und hätte wirres Zeug geredet. Damit sind wir ihn los, und die Behörden werden ihn in die Staaten zurückschicken.«

»Wo ist Sammy jetzt?«

»Wir haben ihn in Ikers Bett gelegt und mit den Handgelenken ans Kopfende gefesselt. Man wird vermutlich die Abdrücke erkennen, aber das wird die Polizei nur noch mehr dazu verleiten zu glauben, Sammy sei etwas Schreckliches widerfahren. Etwas, das die Amnesie ausgelöst hat.« Roman setzte sich auf. »Was hältst du davon?«

So könnte es tatsächlich klappen. Sammy würde endlich aus ihrem Leben verschwinden, und sie hätte nichts weiter zu tun, als ihn zu küssen. Der Plan schien perfekt.

 

Naomi streifte im Garten auf und ab, bis Iker sie bat, damit aufzuhören, weil es ihn nervös machte. Obwohl Roman auf den schlafenden Sammy achtete, fürchtete sie doch immer noch, irgendetwas könnte ihren Plan durchkreuzen. Die aufsteigende Hitze nahm noch nie gespürte Heftigkeit an, was ihre innere Unruhe noch steigerte. Es war, als verwandle sie sich zum ersten Mal. Alles in ihr drängte danach, das Grundstück zu verlassen und in den Wald zu gehen. Doch der Wald lag weit vor der Stadt, und sie musste diese Verwandlung hier, fern einer sicheren Waldlichtung, durchstehen. Wie Iker das all die Jahre ausgehalten hatte, blieb Naomi ein Rätsel. Selbst wenn er behauptete, es würde mir der Zeit leichter, war eine Verwandlung abseits der Lichtung beinahe schmerzhaft. Nicht nur die Hitze, das Aufgewühltsein, oder das Gefühl, als würde jeden Moment etwas Schreckliches über sie hereinbrechen, setzten ihr zu, auch ihr Herz pumpte ihr Blut doppelt so schnell durch die Venen, dass es in ihren Ohren rauschte.

Sie legte ihre Kleidung ab und ging nackt zwischen den Bäumen im Garten auf und ab. »Das halte ich nicht aus. Wenn es nicht bald so weit ist, garantiere ich nicht dafür, dass ich nicht doch auf die Straße hinauslaufe.«

Iker hielt sie am Arm fest. »Setz dich hin. Versuche dich zu beruhigen. Es dauert nicht mehr lange. Ich spüre es.«

Als er Naomi unter einer Aleppokiefer zu Boden drückte, ließ sie ihn gewähren, wenn auch alles in ihr danach drängte, sich zu bewegen. Unvermittelt verlor sie das Bewusstsein.

Iker lag direkt neben ihr, als sie zu sich kam. »Bleib liegen. Du musst dich erst orientieren. Und halte dich um Himmels willen von den Rasenflächen fern. Das Grundstück ist zwar so gut wie uneinsehbar, aber wir können nichts riskieren.«

Erst jetzt realisierte Naomi, dass sie sich im eigenen Garten befand. Doch die Erde unter ihr fühlte sich nicht vertraut und sicher an. Naomi fühlte sich unsicher und verwirrt. Nichts strahlte den Frieden aus, den sie von den Lichtungen her kannte. Sie kam sich in ihrem Körper eingesperrt vor. Die Leichtigkeit fehlte. »Fühlst du dich auch fremd in deinem eigenen Körper?«

»Nicht mehr. Inzwischen gehe ich ungern auf die Lichtung. Am Anfang hat es mir gefehlt, heute ist eher das Gegenteil der Fall. Ich bin lieber hier, für mich. In diesen Nächten denke ich über alles nach, was mich beschäftigt. Es ist wie ein monatlicher Kurztrip, den ich mir gönne, um meine Gedanken zu sortieren.« Iker blieb ruhig liegen und legte den Kopf auf seine Vorderpfoten. »Leg dich zu mir, schließe deine Augen und versuch es selbst. Du solltest wegen deiner Wunden nicht herumlaufen.«

Naomi zwang sich, ruhig liegen zu bleiben. Die Minuten wurden zu Stunden, bis sie es nicht mehr aushielt, aufstand und zwischen den Sträuchern auf und ab ging. Wenig später langweilte sie auch das.

In dieser Nacht lernte sie, die Nächte auf den Lichtungen zu schätzen. Es gab Schlimmeres, als sich in einen Panther zu verwandeln. Wenn sie jede Vollmondnacht eingesperrt verbringen müsste, würde sie ihren Verstand verlieren. Nun konnte sie nachvollziehen, warum Romina nur bei Iker blieb, wenn sie verletzt war. Es war schwer auszuhalten.

Sie beobachtete Iker. Es ging nicht in ihren Kopf, wie Iker unbeweglich mit geschlossenen Augen unter der Kiefer liegen und ruhig dabei wirken konnte.

»Naomi, leg dich hin. Konzentriere dich auf dein Inneres. Es wird dir helfen, die Nacht schneller hinter dich zu bringen.« Iker sagte dies, ohne auch nur aufzusehen.

Aufgrund Ikers Erfahrung, und der Tatsache, wie entspannt er unter der Kiefer lag, versuchte Naomi, seinen Ratschlag zu beherzigen. Sie legte sich neben ihn. Doch anstatt sich zu entspannen, kreisten ihre Gedanken die restliche Nacht um Romina. Wie sehr beneidete sie ihre Urgroßmutter darum, die Nacht auf der heiligen Stätte in Mexiko verbringen zu können, die ihr schon in menschlicher Gestalt eine unbeschreibliche Kraft verliehen hatte.

Erleichtert bemerkte Naomi, wie die Morgendämmerung heraufzog. Diese endlos scheinende Nacht hätte sie endlich bald hinter sich gebracht. Sie kauerte sich zusammen und hoffte, die restliche Zeit möge rasch vorübergehen. Bald hüllte sie die erlösende Dunkelheit ein.

Iker stand bereits im Bademantel vor ihr. Sie schlüpfte in ihren, schnürte den Gürtel zu und sah Iker an. »Dann ist jetzt wohl Sammy dran.«

»Zuerst lege ich dir wieder die Klammerpflaster an, erst dann ist Sammy dran. Nach der Menge Schlafmittel wird er noch einige Stunden schlafen.« Iker wandte sich ab. »Lass uns ins Haus gehen.«

In Ikers Zimmer saß Roman. Kai schlief auf dem Sofa. »Und, wie war´s?«

Naomi lehnte sich an seine Brust. »Mit einem Wort: fürchterlich.«

»Hat er sich schon bewegt?«, fragte Iker.

Roman schüttelte den Kopf. »Soll ich euch Frühstück machen?«

»Ich habe keinen Appetit. Aber eine Tasse Kaffee wäre perfekt.« Nach einem Kuss drehte sich Naomi um und ging nach oben.

Iker folgte ihr.

Als sie nach zehn Minuten die Treppe hinunterging, schwebte Kaffeeduft in der Luft. Naomi ging in die Küche, schenkte sich und Iker eine Tasse ein und pustete in ihre hinein.

Während sie an der Tasse nippte, konzentrierte sie sich auf ihre Gefühle, die sie in diesen Kuss legen musste, damit Sammy auch tatsächlich die Erinnerung an sie verlor. Sie trank noch einen großen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging in Ikers Schlafzimmer, wo Sammy immer noch gefesselt auf dem Bett lag. Sein Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Zügen. Er schien noch tief zu schlafen.

Iker war in der Küche zurückgeblieben.

»Würdest du bitte hinausgehen? Und nimm Kai mit, ja?«, bat sie Roman.

Ohne etwas zu sagen, holte er Kai vom Sofa und ging in die Küche.

Naomi blieb noch einen Moment im Türrahmen stehen, bevor sie tief durchatmete, auf Sammy zuging, ihn mit geschlossenen Augen auf den Mund küsste und intensiv dachte: Du wirst dich an nichts erinnern, was mit mir, meiner Familie und der Verwandlung zu tun hat. Und du wirst uns nicht erkennen. Es war ein langer Kuss. Vier Mal wiederholte sie diese Worte im Geiste. Sie wollte sichergehen, dass ihre Gedanken während des Kusses intensiv und eindringlich in sein Bewusstsein gelangten.

Als sich ihre Lippen trennten, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete Sammy. Für einen kurzen Moment glaubte sie, er habe sich bewegt. Leise schlich sie aus dem Zimmer in die Küche.

»Iker. Binde ihn los. Sammy darf nicht gefesselt aufwachen. Er wird bald zu sich kommen.« Sie goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein, lehnte sich an die Küchentheke und sah Iker hinterher.

»Glaubst du, es hat funktioniert?«, fragte Roman.

Naomi zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe es.«

Schweigend warteten sie in der Küche. Roman ließ sie kaum aus den Augen. Sie spürte, wie er jede ihrer Bewegungen beobachtete. Naomi ging zu Roman und nahm ihm Kai ab. Kais Gewicht ließen ihre geklammerten Rückenverletzungen schmerzen. Trotzdem genoss sie den Körperkontakt. Beinahe hätte sie ihn verloren. Die Anspannung der letzten Stunden fiel von ihr ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Roman stand vom Küchenstuhl auf, zog sie an sich und strich ihr übers Haar. Still lehnten sie sich aneinander. Es waren keine Worte notwendig, um zu wissen, was im anderen vorging.

»Er bewegt sich«, sagte Iker.

Roman zog Kai an sich. »Bleib du hier. Ich möchte Kai nicht alleine im ersten Stock lassen. Sobald du weißt, dass alles in Ordnung ist, kommst du nach.« Nach einem innigen Kuss eilte Roman die Treppenstufen nach oben. Auf der Treppe wandte er sich nochmals um. »Bei mir hat es funktioniert, also ...«

Naomi nickte unsicher. Auch wenn der Kuss Romans Gedächtnis auszulöschen vermocht hatte, bedeutete das nicht, dass es bei Sammy zwangsläufig auch funktionieren musste. Aber sie hoffte es, zumal sie nicht wusste, was sonst mit Sammy geschehen sollte.

»Ich warte neben seinem Bett. Bleib hier stehen. Durch die offenstehende Tür wirst du seine Reaktion hören. Sollte ich deine Hilfe brauchen, rufe ich dich.« Iker wandte sich ab und ließ sie im Gang zurück.

Naomi setzte sich auf die erste Treppenstufe und lauschte, wie Iker Sammy auf Englisch ansprach und versuchte, ihn aufzuwecken.

»Na, das wurde auch Zeit«, sagte Iker.

»Was ist passiert?«, hörte sie leise Sammys Stimme.

Naomi hörte die Bettdecke rascheln. Offenbar hatte sich Sammy aufgesetzt.

»Sag du es mir«, forderte Iker ihn auf.

Eine Weile sprach niemand.

»Verdammt. Ich habe keine Ahnung!«

»Wie heißt du?«, fragte Iker. »Kannst du mir das sagen? Und was machst du in Barcelona?«

»In Barcelona?«, rief Sammy.

Vermutlich nickte Iker, denn Naomi hörte ihn nichts sagen.

»Ich habe keinen Schimmer.«

Wie gerne hätte Naomi Sammys Gesichtsausdruck gesehen, um einschätzen zu können, ob er ernsthaft nichts wusste, oder ob er nicht nur ein cleveres Spiel spielte.

»Wie komme ich hierher?«, wollte Sammy wissen.

»Ich holte mir die Morgenzeitung, und am Briefkasten bist du mir direkt vor die Füße gefallen. Erst wollte ich einen Arzt rufen, aber dein Puls ging normal und auch sonst scheint dir außer den Abschürfungen an den Handgelenken nichts zu fehlen. Also, wie heißt du und woher kommst du?«

»Samuel McConnor. Aus Seattle. Was ich in Barcelona mache ...?«

»Du weiß also nicht, wie du hierher gekommen bist, oder was mit dir geschehen ist? Wohnst du in einem Hotel hier in der Stadt?«

Eine kurze Pause trat ein.

»Du erinnerst dich an nichts?« Ikers besorgte Stimme klang glaubwürdig. Naomi konnte kaum fassen, wie gut er seine Rolle spielte.

»Nein. An überhaupt nichts«, flüsterte Sammy. »Welchen Tag haben wir?«

»Sonntag, den 18. Juli«, antwortete Iker.

»Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist die Silvesterfeier mit meinen Kumpels in Seattle Neunzehnhundertachtundneunzig. Aber was war bloß im letzten halben Jahr?« Sammys Stimme klang verzweifelt.

»Es ist besser, wenn ich die Polizei anrufe und einen Arzt.« Naomi hörte, wie er die Tasten des Telefons drückte. »Dir fehlt nicht nur ein halbes Jahr, sondern dir fehlt die Erinnerung an fast fünfzehn Jahre. Irgendetwas muss dir zugestoßen sein, was diese Gedächtnislücke ausgelöst hat. Vermutlich sucht man schon seit Jahren nach dir.«

Diese Nachricht hatte Sammy offenbar die Worte geraubt. Nach wenigen Sekunden hörte Naomi, wie Iker die Polizei anrief und auf Spanisch einige Erklärungen ablieferte.

Während Iker sprach, schlich sie die Treppenstufen hoch und betrat ihr Apartment, wo sie sich mit Roman und Kai die nächsten Stunden verstecken würde.

Naomi erzählte Roman jedes Wort und endete damit, dass Sammy sich an nichts mehr erinnern konnte. »Niemals hätte ich gedacht, dass der Kuss Sammys gesamtes Erinnerungsvermögen auslöschen könnte. Vermutlich hat er sich in jener Silvesternacht zum ersten Mal verwandelt. Darum fehlt ihm jegliche Erinnerung an die folgende Zeit. Was auch in den vergangenen Jahren passiert sein mochte, alles steht irgendwie im Zusammenhang mit unserem Leben als Seelenbegleiter.«

»Naomi, das ist seine gerechte Strafe für alles, was er angerichtet hat. Vielleicht kann er jetzt neu anfangen. Wir werden jetzt auf alle Fälle endlich ohne Angst aus dem Haus gehen können.« Roman rutschte dichter an Naomi heran, die an der Wand gelehnt auf dem Fußboden saß. »Und weißt du was? Sobald du fit genug bist, gehen wir groß Essen, bummeln dann durch den Stadtpark und holen uns ein Eis in der Fußgängerzone.« Roman lächelte. »Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir endlich sorglos durch die Stadt spazieren können.«

»Ob ich dich für eine Joggingtour am Meer begeistern kann?«, fragte Naomi und sah sich schon an den Segelbooten entlang laufen, die Seeluft tief in ihre Lungen saugen und das Rauschen der Wellen, die an den Strand schwappten, genießen.