Zwölf

Am nächsten Morgen fühlte sich Naomi wie gerädert. Letzte Nacht hatte sich Brenda im Badezimmer bettfertig gemacht, und nachdem sie selbst das Bad verlassen hatte, lag Brenda bereits im Bett und schnarchte wie ein Holzfäller. Naomi hatte gehofft, noch mehr über Brendas Zeit als Missionarin zu erfahren. Das Zusammentreffen im Dschungel mit dem Häuptlingssohn, dessen exotischen Namen sie bereits wieder vergessen hatte und von der Begegnung mit dem Jaguar hätte sie gerne aus erster Hand erzählt bekommen. Ihre Gedanken kreisten um die Vergangenheit der Azteken und was sie in den nächsten beiden Tagen noch erfahren würde. Vorausgesetzt, Brenda fände diesen Häuptlingssohn auf dem Platz. Vielleicht ergab sich später am Tag noch die Gelegenheit, sie danach zu fragen.

Als Naomi mit Brenda den Speisesaal betrat, saßen Romina und Leandra schon beim Frühstück. Romina erhob sich und schenkte beiden eine Tasse Kaffee ein.

Naomi setzte sich und griff nach einem Brötchen. Der Geruch von Rühreiern hing verführerisch in der Luft.

Brenda ging zur Getränketheke, holte sich ein Glas Saft und setzte sich an den Tisch. »Ich gehe gleich los. Nicht, dass ich Ichtaca um ein paar Minuten verpasse. Bei der Tänzergruppe weiß man nie, wann sie auftaucht.« Mit einem Zug trank sie den Orangensaft leer und erhob sich.

»Kann ich mitkommen?«, fragte Naomi, die ohne eine Antwort abzuwarten aufstand und gleichzeitig in das trockene Brötchen biss.

»Nimm das Brötchen mit, und falls du es belegen willst ... so viel Zeit haben wir dann doch.«

Naomi riss mit den Fingern das Brötchen auseinander, legte je eine Scheibe Schinken und Käse darauf, griff nach Rominas Saftglas und trank es aus. »Danke für den Saft. Wir müssen los.« Mit einem breiten Grinsen quittierte sie Rominas überraschten Gesichtsausdruck.

»Wenn ihr ihn gefunden habt, dann sagt Bescheid«, sagte Leandra und zeigte auf ihr Telefon. »Wir finden euch dann schon.«

Naomi nickte und folgte Brenda aus dem Speisesaal.

Brenda blieb vor dem Fußgängerüberweg stehen. Eine Blechlawine aus dahinkriechenden Fahrzeugen schob sich an ihnen vorbei. Obwohl die Fußgängerampel auf Grün schaltete, hielt niemand sein Fahrzeug an, bis der Verkehr automatisch wegen des hohen Aufkommens zum Stillstand kam. Brenda schlängelte sich durch die Fahrzeuge. Naomi betrachtete fasziniert die vielen VW-Käfer. Bei jedem zweiten Auto handelte es sich um einen grünen oder gelben Käfer. In Deutschland war es eine nostalgische Ausnahme, noch so ein altes Modell auf der Straße fahren zu sehen. Doch hier schien beinahe jeder einen zu besitzen.

Kaum betrat Naomi den Zocaló, spürte sie wieder diese Kraft in sich aufsteigen. Ihre bleierne Müdigkeit wich einer unbändigen Vitalität.

Auf dem Platz tummelten sich Straßenverkäufer, die auf wackeligen Ständen Obst und Säfte anboten, andere wiederum verkauften abgepackte Tüten mit Erdnüssen oder Backwaren. Menschentrauben wurden von den U-Bahn-Stationen ausgespuckt oder vom Erdboden verschlungen, sobald sie die unterirdischen Bahnhöfe aufsuchten.

Brenda sah sich suchend um.

Naomi beobachtete die fremden Menschen und aufgrund der vielen ungewohnten Eindrücke vergaß sie sogar ihr belegtes Brötchen. Vor der Kathedrale standen Männer mit Schildern in der Hand. Die Aufschrift verstand Naomi nicht. »Was steht auf den Schildern?«, wandte sie sich an Brenda.

»Das sind Männer auf Arbeitssuche. Sie bieten ihre Dienste als Klempner, Automechaniker oder für sonstige Tätigkeiten an. Wer einen Job zu vergeben hat, kommt hierher und verhandelt den Preis. Leider gibt es nicht genug Arbeit für alle. Manche werden noch heute Abend hier stehen und auf einen Auftrag hoffen.« Brenda blieb stehen und hielt weiter Ausschau nach der Gruppe. »Sie sind nicht da. Leider.«

»Es ist doch noch früh. Sie werden schon kommen.« Naomi bestaunte die handgeflochtenen Körbe einiger Indiofrauen, die ihre Waren auf einer Wolldecke ausgebreitet anboten und neben ihren Produkten auf der Decke saßen.

Nur einen Meter weiter zog ein junger Mann einen Blechvogel auf, der sich unter lautem Geknatter in den Himmel schraubte, nur um kurz darauf nach einem Sturzflug auf der Wolldecke eines anderen Verkäufers, der Kugelschreiber und Feuerzeuge anbot, zu zerschellen, was Auftakt zu einem Schimpfkonzert war.

Etwas abseits stand eine Gruppe von Menschen mit Gasmasken und Schildern. Als Naomi fragte, was sie damit ausdrücken wollten, erklärte ihr Brenda, sie demonstrierten gegen die hohe Luftverschmutzung in der Stadt. Zwar gäbe es eine Regelung, nach der die Fahrzeuge, deren Nummernschilder mit einer geraden Ziffer endeten, an einem Tag fahren dürften, die mit der ungeraden Ziffer am darauf folgenden Tag, doch wer es sich leisten konnte, schaffte sich einfach einen Zweitwagen an, um immer ein fahrberechtigtes Fahrzeug zur Verfügung zu haben.

Das Geschrei der Straßenhändler, der Arbeitssuchenden und der Demonstranten, gepaart mit dem Hupen der Busse und Autos endete in einem wilden Crescendo, das begleitet wurde von einem Geruchsmix aus Maistortillas, Weihrauch, süßem Parfum und den allgegenwärtigen Abgasen.

Hier leben zu müssen wäre Naomis Albtraum. Als sie sich gestern Abend die Nase geputzt hatte, war ihr Taschentuch schwarz gewesen. Die Auspuffgase und der Straßendreck mussten sich direkt in ihrer Nase festgesetzt haben.

Brenda zog Naomi von den Demonstranten weg und eilte nach Westen auf die Einkaufsarkaden zu. Sie schien jemanden entdeckt zu haben, der ihr weiterhelfen konnte.

Naomi bemerkte eine Folklore-Gruppe. Die jungen Männer trugen kunstvoll geschmückte Lederbrustschilde, einen mit Federn bestickten Lederschurz und eine beeindruckende, ein Meter in die Höhe ragende Federkrone, deren blau, rosa, grün und schwarz-weiß gestreifte Federn symmetrisch an einem mit Symbolen verzierten Helm befestigt waren. Um die Hand- und Fußgelenke waren schmuckverzierte Lederriemen geschlungen.

Naomi näherte sich langsam. Die Erscheinung dieser hochgewachsenen Männer erschreckte sie. Die Mexikaner, die sie bisher hier gesehen hatte, waren eher von kleiner Statur, mit kurzem Hals und krummen Beinen. Zumindest hatte Naomi diese bisher so wahrgenommen. Die Aztekenmänner maßen über einen Meter achtzig und strahlten eine ungeheuere Selbstsicherheit aus, was sich nicht nur in ihrer aufrechten Haltung widerspiegelte, sondern auch in ihrem Gesichtsausdruck.

Während Brenda mit großen Schritten auf die Gruppe zuging, verlangsamte Naomi ihren Schritt, um jedes Detail in sich aufzusaugen. Den Helm des einen Indio zierte eine aufgemalte Schlange, den Helm des anderen ein Adlergesicht. Als sie erkannte, welches Symbol auf dem nächsten Helm angebracht war, schlug sie sich die Hand vor den Mund.

Ein Jaguarkopf.

Naomi verharrte auf der Stelle und betrachtete den Helm, während Brenda den Indio ansprach. Als Brenda in ihre Richtung zeigte, spürte Naomi förmlich, wie ein Ruck durch die Gruppe ging.

Unverwandt starrten sie Naomi an.

Verlegen wandte sie den Blick ab.

Brenda winkte sie zu sich, doch Naomi zog es vor, an Ort und Stelle zu bleiben. Es nutzte ihr nur wenig. Die Gruppe war offenbar neugierig geworden und folgte Brenda, die sich auf dem Weg zu ihr befand.

Naomi atmete tief durch und überwand sich aufzusehen. Wovor fürchtete sie sich? Es gab keinen Grund, trotzdem weckte der Anblick dieser Männer ein merkwürdiges Gefühl in ihr.

Brenda blieb neben ihr stehen. »Das sind die Krieger, die normalerweise mit Ichtaca auf den Zócalo kommen. Ichtaca ist bei den Schreibern. Ich werde ihn dort suchen.«

Brenda stellte Naomi in einer Sprache vor, die sie vorher noch nie gehört hatte. Die Männer starrten sie immer noch fasziniert an. »Sie sprechen kein Spanisch, zumindest nicht so gut, dass ich sie verstehen könnte. Außerdem ziehen sie es vor, Náhuatl zu sprechen.« Brenda seufzte. »Langsam fange ich an zu glauben, an eurer verrückten Geschichte könnte etwas Wahres sein. Ich hatte bisher meine Zweifel, aber die Krieger erkannten dich auf den ersten Blick als Seelenbegleiterin. Sie sagten, du seist die Erste, die sie zu Gesicht bekommen haben. Obwohl Ichtaca damals auch in mir eine Seelenbegleiterin sah, scheint dich eine besondere Aura zu umgeben.«

»Was wissen sie über mich?«, fragte Naomi.

»Selbst wenn ich sie danach frage, sie würden mir niemals antworten. Es steht ihnen nicht zu.« Brenda sagte etwas auf Náhuatl und wandte sich wieder an Naomi. »Und wir gehen jetzt zu den Schreibern.«

Unfähig zu denken, folgte Naomi Brenda über den Zócalo, weiter über die Kreuzung bis hin zu einem anderen Platz, der Plaza Santo Domingo. Die Plaza trug denselben Namen, wie die dort stehende Kirche. Daneben saßen Frauen und Männer an kleinen Tischen, vor sich eine mechanische Schreibmaschine. Vor den Tischen befand sich jeweils ein Stuhl, und eine Menschenschlange wartete darauf, an die Reihe zu kommen.

»Ichtaca kann weder Lesen noch Schreiben, und sobald er oder Nopaltzin Post erhält, geht Ichtaca hierher, lässt sich den Inhalt vorlesen und das Antwortschreiben verfassen. Die Schreiber lesen die Briefe nicht nur vor, sie geben auch Ratschläge und tippen anschließend die Antworten für ihre Kunden.« Brenda suchte unter den Wartenden nach dem Azteken.

Naomi betrachtete die langen Schlangen. Geduldig standen die Leute in der Reihe, um zu erfahren, was in den Dokumenten stand. Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Wie viel einfacher könnte das Leben dieser Menschen verlaufen, wenn sie wenigstens eine schulische Grundausbildung absolvieren könnten? Es würde unendlich viel erleichtern. »Tut die Regierung denn gar nichts gegen diese Zustände?«

»Die Politiker tun ihr Möglichstes.« Brenda schnaubte. »Du würdest dich wundern, wie viele Analphabeten es in den USA gibt. Und sei dir sicher, in Deutschland wirst du auch genügend Menschen finden, wenn du die Augen offenhältst. Viele sind es jahrelang gewohnt, dieses Unwissen vor ihren Mitmenschen zu verbergen. Sie funktionieren einfach.«

Darüber hatte Naomi noch nie nachgedacht. Konnte das tatsächlich wahr sein? Sie konnte es sich nicht vorstellen.

»Dort drüben. Komm mit.« Brenda ging an sieben Tischen vorbei und stellte sich unauffällig an die Seite. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ichtaca hat sich kaum verändert. Er wirkt nur wenig älter, als damals ... nicht zu fassen.«

Naomi betrachtete den Mann, der auf dem Stuhl vor dem Schreiber saß und sich mit ihm unterhielt, während dieser seine Finger über die mechanische Schreibmaschine fliegen ließ. Da sie nur seinen Rücken sehen konnte, erkannte sie lediglich einen kräftigen und muskulösen Körperbau. Die glatten, schwarzen Haare trug er offen, und sie reichten ihm bis zur Taille.

Naomi lächelte über ihre eigene Einfältigkeit, als sie erkannte, dass Ichtaca mit Jeanshosen und grauem T-Shirt bekleidet war. Natürlich trugen er und seine Freunde ihre Tracht nur auf dem Zócalo. Brenda hatte ihr schließlich erklärt, sie würden dies tun, um auf sich und ihr Volk aufmerksam zu machen. Vermutlich stellte es auch eine Möglichkeit dar, etwas Geld zu verdienen, das ihnen die Touristen für ihre Darbietung zahlten.

Nach zwanzig Minuten erhob sich Ichtaca von seinem Platz. Mit einem Briefumschlag in Händen trat er zurück und gab den Stuhl für den nächsten Kunden frei.

Naomi blieb die Spucke weg, als sie in Ichtacas Gesicht blickte. Noch nie hatte sie einen solch attraktiven Mann gesehen. Ebenmäßige Gesichtszüge, eine kräftige, sanft gebogene Nase, ein markantes Kinn, volle Lippen und Augen, die glänzten, wie ein Diamant im Mondlicht. Naomi sah die bewundernden Blicke der umstehenden Passanten, die Ichtaca nicht zu bemerken schien. Sein kräftiger Körperbau und die stolze Haltung unterstrichen seine Schönheit.

Brenda musste gesehen haben, wie Naomi Ichtaca anstarrte. »Ein fantastisch aussehender Mann, nicht wahr?«

Als Naomi sie verwundert anblickte, setzte Brenda hinterher: »Ich bin zwar Ordensschwester, aber ich habe trotzdem Augen im Kopf.« Brenda folgte Ichtaca die Straße entlang.

Nachdem sich die Menschenmenge etwas lichtete, rief sie: »Panolti Ichtaca!«

Ichtaca drehte sich um und blieb wie angewurzelt stehen. Einen Moment lang betrachtete er Brenda, bis er sie offensichtlich erkannte. Mit strahlendem Lächeln trat er auf Brenda zu, begrüßte sie und ließ Naomi nicht einen Moment aus den Augen.

Die Unterhaltung verlief in der Aztekensprache Náhuatl und Naomi wand sich unter Ichtacas durchdringendem Blick.

»Könntest du fairerweise übersetzen?«, fragte Naomi nach einigen Minuten, nachdem Brenda keinerlei Anstalten machte, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.

»Ich erkläre dir alles später.« Brenda wandte sich wieder Ichtaca zu und unterhielt sich mit ihm, ohne Naomi zu beachten.

Da Naomi Ichtacas Blicke nicht deuten konnte und es ihr unangenehm war, angestarrt zu werden, suchte sie nach einem Weg, seinen aufmerksamen Augen zu entkommen. Auf der Plaza Santo Domingo hatte sie eine Parkbank gesehen. Dort könnte sie sich hinsetzen und warten, oder sie könnte auch zurück ins Hotel gehen. Sie scharrte mit der Fußspitze über den Asphalt und überlegte, ob sie die beiden tatsächlich alleine lassen sollte. Etwas in ihr sperrte sich dagegen. Wenn sie auch kein Wort verstand, so wäre es dennoch besser, hierzubleiben und zu beobachten, wie das Gespräch weiter verlief. Die Sprache hörte sich leicht kehlig an, besaß jedoch eine angenehme Klangfarbe.

Brenda nickte mehrfach, während Ichtaca auf sie einredete. Ihr Gesichtsausdruck wirkte gequält, als habe sie etwas erfahren, was ihr zusetzte. Nach etwa fünfzehn Minuten wandte sich Brenda an Naomi. »Heute Mittag fahren wir zu Nopaltzin. Ein Freund von Ichtaca wird uns hinbringen. Er selbst fährt voraus, um noch vorher mit seinem Vater sprechen zu können.«

Naomis Gedanken rasten. Sie würde tatsächlich noch an diesem Tag den Aztekenhäuptling treffen? Er musste etwas über sie wissen. Sonst hätte die Gruppe auf dem Zócalo nicht so merkwürdig reagiert. Ihre Kultur war Naomi fremd und im Grunde fürchtete sie sich davor, was sie erfahren würde. Doch spürte sie auch, dass sie endlich der richtigen Spur folgte, und dass diese Reise tatsächlich ihre Letzte auf der Suche nach dem Ursprung sein könnte.

Ichtaca reichte Brenda den Umschlag, nickte kurz und warf einen letzten Blick auf Naomi, bevor er sich umdrehte und die Straße hinuntereilte.

»Und?«, fragte Naomi.

»Ich versprach, den Brief für ihn aufzugeben«, sagte Brenda.

»Der Brief interessiert mich nicht. Worüber habt ihr gesprochen?«

»Komm.« Brenda setzte sich in Bewegung. »Lass uns ins Hotel zurückgehen. Romina und Leandra warten. Dort suchen wir uns eine ruhige Ecke und ich erzähle euch alles.«

Zehn Minuten später saßen Naomi, Leandra und Romina auf Leandras Doppelbett. Brenda trank aus einer Wasserflasche, setzte sie ab und zog sich einen Stuhl heran. »Wir haben Ichtaca bei den Schreibern gefunden. Er hat mich sofort wiedererkannt, auch ohne meine Ordenstracht. Er sagte, ein Blick auf Naomi hätte ihm genügt, um den Grund meines Besuchs zu wissen. Sein Vater hat immer zu ihm gesagt, ich würde eines Tages zurückkommen ... und das nicht alleine. Er fragte mich auch, ob Naomi zu meiner Familie gehört und ich habe zu ihm gesagt, dass es wohl eine Verbindung zwischen uns gibt.« Brenda holte tief Luft. »Daraufhin habe ich ihm von Katie und Jason erzählt, und auch was Romina gesagt hat. Dass wir alle von einer Blutlinie abstammen sollen. Ichtaca hat bestätigend genickt und gemeint, das sei unverkennbar der Fall. Da sein Vater Nopaltzin schon viele Jahre auf meine Rückkehr gewartet hat, fährt Ichtaca direkt zu ihm und kündigt meinen Besuch an.«

»Aber wir können doch mitkommen, oder etwa nicht?«, fragte Naomi dazwischen.

»Nopaltzin erwartet das sogar. Er wusste wohl, dass ich ihn nicht wegen mir persönlich aufsuchen würde. Wobei er in den letzten Jahren zu zweifeln begann, ob er mein Kommen überhaupt noch erleben würde. Ichtaca hat zu mir gesagt, dass sich sein Vater große Mühe gegeben hat, die englische Sprache zu erlernen. Wir haben vor fünfzehn Jahren viel voneinander gelernt. Offensichtlich ist er nicht mehr so starrsinnig wie damals. Er weigerte sich damals standhaft, von mir Lesen und Schreiben zu lernen. Vermutlich war es ihm peinlich, Unterricht von einer Frau zu erhalten.« Brenda sah auf die Uhr. »In einer Stunde holt uns jemand ab. Ihr solltet eure Sachen zusammenpacken, denn wir kommen nicht mehr ins Hotel zurück.«

Naomi nickte und erhob sich. »Dann sollten wir besser damit anfangen.« Zusammen mit Brenda betrat sie ihr gemeinsames Zimmer. »Freitagmittag geht mein Flug. Das ist ein Tag, den ich dort verbringen kann. Wird die Zeit ausreichen, um alles zu erfahren?«

»Das wird sie.« Brenda seufzte und ließ sich aufs Bett sinken. »Es fällt mir unendlich schwer zu begreifen, was hier vor sich geht. Es widerspricht all dem, an was ich glaube. Trotzdem muss ich gestehen, dass es bei allem Irrsinn doch einen Sinn ergibt, wenn sich das auch verrückt anhört.«

»Ich weiß, was du meinst, Brenda. Mir fällt es selbst schwer und es wirft mein ganzes Leben durcheinander. Ich war geschockt, als ich plötzlich feststellen musste, dass ich in einen Panther verwandelt in einem Wald lag. Und irgendwie verstehe ich immer noch nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich fühlte mich so hilflos. Ohne deine Unterstützung wird Katie es nicht schaffen, damit zurechtzukommen.«

»Inzwischen weiß ich das. Die letzten Zweifel an eurer Geschichte hat das Gespräch mit Ichtaca ausgeräumt. Er verlangte keine Erklärungen, er verstand mich auch so.« Brenda wandte sich ab, ging ins Bad und holte ihren Kulturbeutel. »Im Grunde habe ich es schon gestern Nacht geglaubt, als ich dich das erste Mal sah. Diese unglaubliche Ähnlichkeit mit Romina, wie ihr drei miteinander umgeht. So verrückt kann überhaupt niemand sein.« Brenda schloss ihre Reisetasche und sah zu Naomi. »Ich warte unten auf euch.«

Naomi stopfte ihre Sachen in die Tasche, schloss sie und griff nach ihrem Handy.

»Es ist zwar erst vier Uhr morgens, aber ich freue mich trotzdem, deine Stimme zu hören.«

»Roman, hör mir genau zu. Hier ist alles in Ordnung. Brenda hat den Häuptlingssohn gefunden und wir fahren jetzt zu diesem Nopaltzin. Ich habe keine Ahnung, wohin es geht, noch ob ich dort Netz haben werde. Wenn ich mich also vor Freitagmittag nicht melde, liegt es am Empfang. Wir sind dort in Sicherheit, also mach dir keine Sorgen um mich und sag auch Iker Bescheid, ja?« Naomi wusste nicht, ob sie dort in Sicherheit wären, aber sie wollte Roman für den Fall beruhigen, dass sie sich nicht melden konnte. »Schatz, ich muss los. Schlaf weiter, ja? Ich liebe dich.«

Sie hörte, wie Roman den Telefonhörer küsste und flüsterte, dass er sie liebte, vermisste und sie nie wieder alleine fort lassen würde. Naomi legte auf. Nach dieser Tour gäbe es keine Reisen mehr ohne Roman, davon war sie überzeugt.

In der Hotellobby warteten bereits alle Drei auf Naomi. Brenda hatte zwischenzeitlich an der Rezeption ihre Abreise angekündigt und den Brief dort zum Versand abgegeben.