Fünf

In der zweiten Vollmondnacht verhielt sich Pilar zurückhaltend und ging Naomi aus dem Weg. Selbst für die Zweikämpfe mit Romina interessierte sie sich nicht. Die ganze Nacht lag sie nur am Rande der Lichtung zusammengekauert im Schatten der Büsche und gab vor, sich unwohl zu fühlen.

Romina ließ sie gewähren, wenn sie Pilar auch neckte, auf diese Weise nie eine gute Kämpferin zu werden. Pilars Verhaltensweise blieb Naomi ein Rätsel, und sie glaubte Pilar ihr angebliches Unwohlsein nicht, zumal weder sie selbst noch sonst jemand aus dem Clan jemals in verwandelter Gestalt über körperliche Schwächen geklagt hatte.

Romina behauptete sogar, das Gegenteil sei der Fall. Selbst wenn sich Romina in der Vergangenheit mit einer Grippe herumgeschlagen hatte, war von den Symptomen während der Nacht nichts mehr zu spüren, und sie fühlte sich stark und gesund. Kopf- oder Gliederschmerzen existierten nicht. Ihre physischen Beschwerden verschwanden vollständig, und sogar nach der Mondphase blieb meist nicht einmal ein Schnupfen übrig, der ihr später in menschlicher Gestalt hätte zusetzen können.

Naomi kam Pilars Passivität sehr entgegen. Sollte sie ihr ruhig ausweichen, damit konnte sie prima leben, und die Zweikämpfe, die sie mit Romina ausfocht, gestalteten sich mit jedem Angriff, den Naomi startete, heftiger, bis Romina letztlich eine Pause vorschlug.

Inmitten der Lichtung lagen sie sich gegenüber. »Warum trainierst du so verbissen?«, wollte Romina wissen. »Du gönnst dir keine Ruhephasen.«

»Tu ich das?« Naomi leckte sich über die linke Vorderpfote. »Vorher hast du dich über Pilars Faulheit beschwert. Außerdem dachte ich, hart zu trainieren wäre in diesen Stunden unser Ziel.«

»Du bewegst dich inzwischen flinker und wendiger, als alle anderen Clanmitglieder, die ich kenne.« Romina legte ihren Kopf auf dem Waldboden ab. »Früher, als wir noch reisten und uns mit fremden Mitgliedern getroffen haben, redeten wir auch viel; über unsere Familien, unsere Herkunft, unsere Pläne. Auch tauschten wir Informationen zu möglichen Feinden aus. Die damaligen Treffen verliefen ruhiger. Das vermisse ich.«

Naomi richtete sich auf und setzte sich auf die Hinterpfoten. »Du hast damals deine Familie verlassen, weil du Angst um sie hattest. Ich habe nicht vor, denselben Fehler zu begehen. Als ich mich zum ersten Mal verwandelte, war ich alleine, nur auf mich gestellt, ohne deine Unterstützung. Es fehlte nicht viel, und ich wäre dabei umgekommen, weil ich nicht in der Lage war, mich zur Wehr zu setzen. Das wird mir nie wieder passieren.«

»Bei deiner ersten Verwandlung lief alles schief. Kai hätte dort sein müssen. Das war seine Aufgabe.« Romina hob den Kopf und ihre gelben Augen funkelten im Mondlicht. »Du wirst nicht mehr alleine bei einer Verwandlung sein. Dafür werde ich sorgen.«

»Eben nicht. Du wirst dich nicht immer in meiner Nähe aufhalten können, um mich zu beschützen. Mein Ziel ist es, mich und meine Familie selbst schützen zu können.« Mit ihrer Pfote stieß sie Romina an. »Also, lass uns weitermachen. Ich werde mich ausruhen, sobald ich dich drei Mal nacheinander aufs Kreuz gelegt habe. Versprochen!«

In dieser Nacht dämmerte es bereits, als Naomi sich erschöpft zur Seite fallen ließ. Die Luft strich mit einer milden Brise über ihr verschwitztes Fell. Naomi hörte, wie der nächtliche Wald gemächlich erwachte. Die ersten Singvögel trällerten ihr Lied am Morgen.

Jede einzelne Sehne in ihrem Körper schmerzte vor Überanstrengung, aber sie hatte es fertiggebracht. Im Ernstfall hätte sie Romina drei Mal hintereinander die Kehle aufschlitzen können.

Doch anstatt stolz auf sie zu sein, reagierte Romina nach Naomis dritter erfolgreichen Attacke stinksauer und verkroch sich ans andere Ende der Lichtung. Wenn Naomi es recht bedachte, konnte sie die heftige Reaktion ihrer Urgroßmutter nachvollziehen. Bisher war sie als Siegerin aus den Zweikämpfen hervorgegangen und plötzlich war sie die Besiegte. Das kratzte am Selbstbewusstsein. Naomis Ego hätte es einen gewaltigen Riss verpasst. In diesem Punkt verhielten sie sich ähnlich. Sie dachte an einen verlorenen Wettkampf zurück, wo ein rangniederer Karategegner gegen sie gewonnen hatte. Ihr angeschlagenes Ego hatte sie über Monate hinweg doppelt so hart trainieren lassen, als normalerweise üblich. Erst als sie gegen einen ranghöheren Gegner gesiegt hatte, schaffte sie es, über die damalige Niederlage hinwegzukommen.

Dieser Ehrgeiz lag offensichtlich in der Familie.

Der Himmel über den Baumspitzen färbte sich purpurn. Naomi rollte sich auf den Rücken und blickte in das immer heller werdende Sternenzelt. Den Vollmond vermochte sie nicht mehr über sich auszumachen.

Zeit, sich an ihren Platz unter den jungen Aleppokiefern zu legen, um dort im Schutz der Büsche den Morgen zu erwarten.

 

Nachdem Romina den Wagen in der Einfahrt abgestellt hatte, sprang Pilar aus dem Fahrzeug. »Ich geh schlafen. Bis Morgen!«

»Du kommst auch nicht zum Abendessen?«, fragte Iker, der an der Haustür stand und Pilar, die kopfschüttelnd verneinte, mit verwirrtem Gesichtsausdruck hinterhersah.

»Weißt du, was mit ihr los ist?«, wollte Romina wissen.

Naomi küsste Roman zur Begrüßung und sah Iker an. Roman blickte von Iker zu Romina, dann zu Naomi. »Sie war gestern Nachmittag schon so merkwürdig, als sie von ihrem Vater zurückkehrte. Ist was passiert?«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Naomi, obwohl sie sehr wohl wusste, warum Pilar ihr aus dem Weg ging und sich Roman gegenüber abweisender verhielt. »Iker?«

»Keine Ahnung«, meinte Iker und zuckte hilflos mit den Schultern. »Entweder sie denkt gar nichts, oder sie hat einen Weg gefunden, ihre Gedanken zu blockieren.«

Romina stemmte die Arme in die Seite. »Wie kann sie gar nichts denken? Das geht nicht. Jeder denkt!«

»Im Moment dachte sie nur ans Schlafen. Trotzdem ist es seltsam. Sie wiederholte diesen Gedanken mehrfach ...«

»... und trickst dich damit aus«, erklärte Naomi. »Raffiniert.« Und wenn sie ihre Gedanken bewusst unterdrückt, dann heckt sie etwas aus, dachte Naomi.

»Wie kommst du darauf?«, hakte Iker nach.

»Ich sollte es wie Pilar halten und nur Blödsinn in deiner Gegenwart denken.«

»Lasst uns nachher darüber reden, okay? Naomi hat mich heute Nacht fix und alle gemacht. Ich spüre jeden gottverdammten Knochen im Leib.« Sie drückte sich an Iker vorbei, stoppte kurz vor Naomi und lächelte, bevor sie ihr auf die Schulter klopfte. »Tolle Leistung! Aber das nächste Mal bekommst du es doppelt zurück.«

»Klar, Uroma«, scherzte sie. Sofort war von der leichten Spannung zwischen ihnen nichts mehr zu spüren, was Naomi erleichterte. Romina war also doch stolz auf sie und trug ihr die Niederlage nicht weiter nach.

 

*

 

Pilar schloss ihre Zimmertür und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. In ihrem Kopf tobte ein Sturm, der am Vortag wie ein Tornado über sie hinweggefegt war; mit dem gewaltigen Unterschied, dass ein Tornado irgendwann weiterzog und man sich im Anschluss um das angerichtete Chaos kümmern konnte. Der Sturm in ihrem Kopf verzog sich aber nicht, im Gegenteil, er wütete immer heftiger.

Die Folgen, die diese Nachricht von Sammy heraufbeschwor, vermochte sie beim besten Willen nicht abzuschätzen. Der Anruf ihres Vaters am Vortag hatte sie überrascht, und seine Aufregung hatte sich sofort durch das Telefon auf sie übertragen. Unmittelbar nach dem Telefonat war sie zu ihrem Vater gerast. Etwas musste geschehen sein. In ihrer Eile hatte sie sogar vergessen, den Zündschlüssel abzuziehen und das, obwohl sie sehr wohl wusste, wie viele Fahrzeuge in Barcelona gestohlen wurden. Ihr Vater hatte sie bereits im Eingangsbereich erwartet. Dort hielt er ihr die Karte vor die Nase und fragte, in welchen Schwierigkeiten sie stecke. Ihr Gehirn weigerte sich die harmlosen Worte aufzunehmen, die ihre Augen lasen: Mit herzlichen Grüßen, Sammy!

Als sie fragte, wo die Karte gelegen habe, wich alle Farbe aus dem Gesicht ihres Vaters. Er zog sie mit sich die Stufen nach oben und öffnete die Zimmertür zu seinem Schlafzimmer. Mit angewidertem Gesichtsausdruck deutete er auf sein Bett. Darauf lag ein zerfledderter, toter Vogel. Ohne diese Mitteilung hätte man annehmen können, eine Katze hätte ihn ins Haus geschleift. Aber mit dieser Karte stand außer Frage, dass Sammy in ihr Elternhaus eingebrochen war und diese Nachricht als Warnung hinterlassen hatte.

Ihrem Vater gegenüber beteuerte sie, sie habe keine Schwierigkeiten. Aber er sei in den vergangenen Jahren öfter Opfer seiner Studenten geworden. Ob in Toilettenpapier eingewickelte Bäume im Garten, Hundekacke auf dem Fußabstreifer oder faulige Eier, die im Vorbeifahren an die Fenster geworfen wurden. Es gab immer jemanden, der mit seinen Noten nicht einverstanden war und seine Energie auf solche Aktionen verschwendete.

Als Pilar ihrem Vater versichert hatte, dass sie keinen Sammy kenne und ihn gefragt hatte, aus welchem Grund er glaube, dieser tote Vogel hätte etwas mit ihr zu tun, hatte er nur den Kopf geschüttelt und hilflos mit den Schultern gezuckt. Die letzten Streiche seiner Studenten lagen schon länger zurück, aber letztlich ließ er sich überzeugen, dass nur, weil er ruhiger geworden war, das nicht unbedingt für seine Studenten gelten müsse.

Pilar hatte eine Kehrichtschaufel geholt, den toten Vogel vom Bett entfernt und ihn in der Mülltonne beerdigt. Die Karte wollte sie zuerst dazuwerfen, doch sie besann sich und steckte sie in ihre Hosentasche. Das Bett würde die Haushaltshilfe neu beziehen.

Während sie noch auf eine Tasse Kaffee geblieben war, brannte die Karte an ihrem Hintern wie Feuer. Sammy war zurück; und er war ihr näher, als es ihr lieb sein konnte.

Die ganze Nacht hatte sie im Stillen darüber nachgegrübelt, wie sie Sammy loswerden konnte. Eventuell wäre es gar nicht so verkehrt, mit ihm zu sprechen. Kai wollte sie sowieso verschwinden lassen und im Grunde hatte sie bereits entschieden, Sammy über seine Vaterschaft zu informieren. Zwar hatte sie noch gezögert, weil sie ihm keinesfalls begegnen wollte, doch eigentlich wäre es einfach. Sie lieferte ihm Kai aus, dafür sollte er ihre Familie in Ruhe lassen. Wenn Kai verschwunden wäre, würde Roman endlich für sie frei sein; ohne Verpflichtung Naomi gegenüber.

Ein einziger Anruf und alles wäre vorbei. Sammy würde mit seinem Sohn untertauchen, und wenn sie es so einfädeln könnte, dass Naomi Roman die Schuld für Kais Verschwinden gab, dann hatte sie freie Fahrt. Vielleicht lieferte Sammy ja doch die Lösung all ihrer Probleme.

 

*

 

Naomi träumte von Pilar. Als sie aufwachte, sah sie noch deutlich Pilars toten Körper in Panthergestalt vor Augen. Der Schweiß klebte auf ihrer Haut, und ihr Haar war ebenfalls feucht, als sie es sich aus der Stirn strich.

Nach einigen Minuten normalisierte sich ihr Herzschlag, doch ein Frösteln blieb.

Roman lag neben ihr und schlief. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es ein Uhr morgens war. Die Kämpfe in der vergangenen Nacht hatten offenbar nicht nur Romina erledigt, sondern auch ihr Körper hatte eine Erholungspause eingefordert.

Sie hatte vierzehn Stunden geschlafen, und trotzdem kam es ihr vor, als hätte sie Watte in ihrem Kopf, was ein klares Denken verhinderte.

Die Bilder der toten Pilar jagten durch ihre Gedanken. Tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass es sich nicht nur um einen Traum handelte. Das Herzrasen und wie ihr gesamter Körper reagierte, alles lief genauso ab, wie damals, als sie von Roman auf der Lichtung geträumt hatte. Genauso beängstigend, genauso real. Wenn sie sich doch nur an mehr Details aus dem Traum erinnern könnte ...

Im Dunkeln tastete sie nach ihrem Morgenmantel und schlich in die Küche hinunter, um sich eine Tasse Tee zuzubereiten. Nachdem sie nicht zu Abend gegessen hatte, knurrte ihr zu allem Überfluss auch noch der Magen. Sie setzte Wasser auf und ging zum Spülbecken, um sich das verschwitzte Gesicht zu waschen.

Ihre Gedanken kreisten um Pilar. Das Gefühl drohenden Unheils ließ sie nicht los. Vielleicht lag es aber auch nur daran, wie Pilar versuchte, Iker aus ihren Gedanken auszuschließen.

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Naomi brühte den Tee auf und sah in den Kühlschrank. Reste des Abendessens standen in Frischhalteboxen darin. Etwas Warmes bekäme sie nicht hinunter. Ohne in die Boxen zu sehen, griff sie nach dem Käse und bereitete sich ein Käsebrot zu.

»Kannst du nicht schlafen?«

Naomi fuhr herum, und das Käsebrot, das sie in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden.

»Oh. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe nur Geräusche gehört und wollte nachsehen.« Iker kratzte sich verschlafen am Kopf, bevor er sich bückte und das Brot aufhob. »Ich mach dir ein Neues, okay?«

Schweigend sah Naomi ihm zu, wie er zwei Scheiben Brot neu belegte. Er reichte ihr eine Scheibe, bevor er in die andere hineinbiss. »Also? Was ist los? Du bist doch nicht nur wegen eines nächtlichen Imbisses heruntergekommen.«

»Nicht nur.« Naomi nippte am Tee. »Ich wollte Roman nicht wecken. Außerdem habe ich schlecht geträumt.«

»Pilar?«, fragte Iker nach.

Naomi aß hastig, um nicht vom Traum erzählen zu müssen.

»In letzter Zeit bereitet sie mir auch Kopfzerbrechen. Es ist für mich zwar okay, dass sie versucht, ihre Gedanken vor mir zu verbergen. Das ist es nicht. Aber sie versteckt sich förmlich, seitdem du hier bist. Gab´s was zwischen euch?«

»Vorgestern im Wald musste ich ihr eine Lektion erteilen, nachdem sie mich attackiert hatte. Deswegen geht sie mir aus dem Weg; und auch Roman. Ich habe ihr gedroht, aber nur, weil sie mich angegriffen hatte.« Mit einer trotzigen Bewegung schnürte sie ihren Bademantel enger zusammen. »Mein ursprünglicher Plan war, mit ihr zu reden, aber sie griff mich grundlos an. So etwas lasse ich mir nicht gefallen. Es ist ihre Schuld.«

»Naomi, es geht nicht um Schuldzuweisungen. Ich versuche nur herauszufinden, was in Pilar vorgeht.« Iker gähnte.

»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Hauptsache sie lässt uns in Ruhe.« Naomi stapfte aus der Küche. »Gute Nacht, Iker. Vielleicht wäre es am besten, ihr würdet sie vor die Tür setzen.« Ohne sich umzudrehen oder eine Antwort abzuwarten, ging sie nach oben.

Ihre heftigen Worte lagen ihr schwer im Magen. Sie konnte sich ihre Zickigkeit nur damit erklären, dass Pilars Anwesenheit an ihren Nerven zerrte. Die Art, wie sie alle still beobachtete; der Angriff im Wald; das Verbergen ihrer Gedanken vor Iker; dieser merkwürdige Traum, und vermutlich plagte sie bis zu einem gewissen Grad doch die Eifersucht. Sicher, es wäre ihr lieber, wenn Pilar verschwände, aber wo sollte sie hingehen? Allein war dieses Leben kaum vorstellbar, und Pilar konnte sich ebenso wenig aussuchen, in wen sie sich verliebte, wie sie selbst.

Iker würde eine Lösung einfallen. Er kannte Pilar besser als jeder andere hier im Haus.

Naomi kuschelte sich in die Federn, schob behutsam ihre kalten Füße zu Roman hinüber und schloss die Augen, bis ihr siedend heiß einfiel, dass am kommenden Vormittag der Spanischunterricht auf dem Plan stand. Sie hatte weder gelernt noch das Unterrichtsbuch auch nur zur Hand genommen. Die Spanischstunden hatte sie schlicht wegen ihres Ärgers mit Pilar vergessen. Sie versprach sich selbst, sich künftig mehr Mühe zu geben. Das war sie nicht nur sich, sondern auch Romina schuldig.