Dreizehn

Vor dem Hotel stand ein hochgewachsener junger Azteke. Naomi wunderte sich, wie schnell sie es schaffte, ihn zwischen den restlichen mexikanischen Einwohnern zu erkennen. Auch er hatte edle Gesichtszüge, wenn sie auch nicht so ebenmäßig schienen, wie die von Ichtaca. Er stellte sich als Matlal vor und ging voraus über den Zócalo zum U-Bahn-Eingang.

Brenda kaufte fünf Tickets für eine Fahrt durch die untertunnelte Stadt. Als die Linie 2 hielt, stiegen sie in die überfüllte U-Bahn und schaukelten bis zur nächsten Station. Dort wechselten sie in die Linie 1, die sie nach Südwesten brachte. Brenda hatte sie darauf hingewiesen, sich nicht miteinander zu unterhalten, sondern sich auf das eigene Gepäck zu konzentrieren. Diebstähle in der Metro passierten im Sekundentakt und sie sollten die Fingerfertigkeit der Diebe nicht unterschätzen. Naomi stellte ihre Reisetasche zwischen die Beine, hakte eine Trageschlaufe um ihren Knöchel und trug den Rucksack vor die Brust geschnallt. Nach vierzig Minuten in dieser stickigen und heißen Röhre stiegen sie an der Endstation Observatorio aus. In diesem Moment wusste Naomi, dass sie sich niemals mit U-Bahn-Fahrten in einer Großstadt anfreunden würde. Wie Frankfurter Würstchen in einem Glas aneinandergepresst, rieb man sich an seinem Nachbarn und kam sich dabei näher, als man einem Fremden kommen wollte. In dieser überfüllten Kabine könnte man problemlos ohnmächtig werden, ohne umzufallen.

Erleichtert stieg Naomi aus. »Bin ich froh, wieder draußen zu sein.«

Leandra nickte zustimmend und atmete kräftig ein und aus. »Kurzzeitig blieb mir wirklich die Luft weg.«

Brenda grinste. »Statt euch zu beklagen, solltet ihr besser kontrollieren, ob ihr eure Sachen noch habt.«

Leandra schlug sich auf die Brust. »Meine Brusttasche ist da. Mehr benötige ich auch nicht.«

Naomi öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks und griff in die Seitenlasche, wo sie Geld und Papiere verstaut hatte und nickte im selben Moment, als Romina sagte: »Meine Reisetaschenlampe hat den Besitzer gewechselt, aber sonst ist alles da.«

»Wenn´s weiter nichts ist, dann können wir los«, sagte Brenda.

Matlal hielt auf der Straße zwei Taxen an. Es handelte sich um ein gelbes und ein grünes VW-Käfer-Taxi. Naomi, Romina und Leandra stiegen in das grüne Taxi. Der Beifahrersitz fehlte dieses Mal komplett, was den Einstieg zur Rückbank erheblich erleichterte. Brenda saß mit Matlal im gelben Käfer und fuhr voraus.

Naomi beobachtete verwundert, wie es ihr Fahrer schaffte, das andere Taxi nicht aus den Augen zu verlieren. Jedes vierte Fahrzeug auf der Straße war ein gelber VW-Käfer. Die Fahrt führte nach Westen, das Verkehrschaos lichtete sich und die Umgebung veränderte sich deutlich. Auf Naomi wirkte das flache Land unberührt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Es war geradezu eine Erholung nach der hektischen und lauten Stadt. Die Luft roch anders; frischer und sauberer.

Die Straße schlängelte sich durch die dicht bewachsene Gegend. Zwischen Eichen und Birken reckten sich Palmen in den azurblauen Himmel. Naomi entdeckte am Wegesrand Bananenstauden mit großen, dunkelgrünen Blättern, an deren Stamm entweder eine Fruchtdolde zum Himmel wuchs oder eine auberginenfarbene Blüte hing, deren Form Naomi an eine faustgroße Kaffeebohne erinnerte. Fasziniert von den unterschiedlichen Pflanzen ließ Naomi die Umgebung an sich vorüberziehen, bis vor ihnen grünbewachsene Berge auftauchten.

Nach einer weiteren Stunde wurde die Straße schmaler und sie erreichten am Fuße eines Bergmassivs einen Ort. Die eingeschossigen Häuser waren kunterbunt angestrichen, wirkten klein und hatten vorwiegend ein betoniertes Flachdach, auf dem eine Fernsehantenne und ein Wassertank standen. Der bunte Anstrich zeigte sich oftmals nur auf der Frontseite des Hauses; auf den anderen Seiten sah man den blanken Beton. Die Fenster waren vergittert und meist sicherte ein Stacheldraht auf der Mauer das Grundstück. Über den Straßen hingen dicke Stromkabel freischwingend von Haus zu Haus, teilweise mit Papierfahnen geschmückt; vermutlich die Reste eines Straßenfests oder Umzugs.

Die Häuser wichen Hütten, die Straßenbefestigung schien nur noch aus Löchern zu bestehen, und Naomi beobachtete aus dem Fenster, wie herumtobende, halb nackte Kinder abwechselnd in ein mit Wasser gefülltes Regenfass sprangen.

Leandra zeigte auf die Kinder. »Die haben ihren Spaß, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es gesund ist, in diesem Wasser zu baden.«

»Sie haben nichts anderes, wie man sieht.« Romina schlang die Arme um sich. »Wenn uns der Taxifahrer hier aussetzt, dann läuft hier jeder um sein eigenes Leben.«

Naomi lachte. »Ich wusste gar nicht, dass du so ängstlich bist.«

»Nur in Gegenden, in denen ich mich nicht auskenne«, erwiderte Romina.

Naomi zeigte auf eine Gruppe Männer, die am Straßenrand auf einer Mauer saß und sich angeregt unterhielt. »Angsthase. Sieh dir die Menschen hier an. Sie machen keinen Angst einflößenden Eindruck, wie sie so gemütlich herumsitzen und plaudern.«

Der Fahrer folgte dem führenden Taxi und bog wieder auf eine Bundesstraße ein, die weiter durch eine bergige Landschaft Richtung Süden führte. Die Strecke bestand aus einer gut ausgebauten und mautpflichtigen Schnellstraße.

Naomi betrachtete die angestaubten Sträucher am Wegesrand, bis sich nach dreißig Minuten die Landschaft veränderte. Einzelne Waldstücke säumten den Weg; Wohngebiete tauchten nur noch vereinzelt auf.

Zwanzig Minuten später verließen die Fahrzeuge die befestigte Straße und der Weg führte über Schotterpisten hinein in dicht bewaldete Berge. Sporadisch tauchten schlichte, bunt gestrichene Häuser auf, die sich an den Hang schmiegten.

»Ob Brenda hier in der Gegend als Missionsschwester gearbeitet hat?«, fragte Naomi.

»Vermutlich nicht. Sonst bräuchte sie keinen Führer, um hierherzufinden«, erwiderte Leandra.

»Nach fünfzehn Jahren ist es vermutlich nicht so einfach, den Weg wiederzufinden«, meinte Romina.

Der Taxifahrer vor ihnen stoppte, nachdem sie in eine so schmale Gasse eingebogen waren, dass ein Öffnen der Tür unmöglich schien. Beide Fahrzeuge mussten zurücksetzen, bis ausreichend Platz zum Aussteigen vorhanden war.

Matlal und Brenda stiegen aus und Brenda kam zum Wagen. »Von hier aus geht´s zu Fuß weiter.«

»Irgendwie habe ich befürchtet, dass sie das sagen würde«, meinte Leandra. »Hoffentlich schaffe ich das.«

»Oma, das packst du doch mit links. Drück einfach Matlal deine Reisetasche in die Hand. Er sieht aus, als ob er uns alle auf einmal tragen könnte.« Naomi klopfte Leandra aufmunternd auf die Schulter, stieg aus dem Wagen und ging zu Matlal. Brenda bezahlte die Fahrer, die sich mit einem kräftigen Hupen von ihnen verabschiedeten und auf den Rückweg begaben.

»Wie weit müssen wir denn gehen?«, fragte Naomi.

Brenda besprach sich mit Matlal und übersetzte: »Es sind nur dreihundert Meter diese Straße hinunter. Man hätte auch über eine große Schleife direkt zum Haus fahren können. Matlal wollte aber die überflüssigen Taxikosten sparen und dachte außerdem, wir würden mit den Fahrzeugen durch diese enge Straße passen.«

Links und rechts der schmalen Straße verbargen sich die Wohnhäuser hinter hohen Mauern. Hochgewachsene Bäume beschatteten die Gasse. Naomi breitete die Arme aus und konnte beinahe zu beiden Seiten die Mauersteine berühren, was ihr ein Lachen entlockte. Es mit einem Auto durch diese Gasse zu versuchen, barg definitiv das Risiko, darin stecken zu bleiben.

Leandra seufzte. »Die paar Meter schaffe ich dann doch noch.« Sie schulterte ihre Reisetasche.

Matlal schüttelte den Kopf und griff nach Leandras Gepäckstück sowie der Reisetasche von Brenda.

Romina sah zu Naomi. »Du bist wenigstens so jung, wie du aussiehst. Ich habe in diesem Fall wohl Pech gehabt.«

»Tja, es hat eben alles seine Vor- und Nachteile«, sagte Leandra lächelnd.

Matlal schritt die teilasphaltierte Straße entlang. Brenda ging neben ihm her und unterhielt sich mit ihm auf Náhuatl.

Leandra hakte sich bei Naomi unter und beobachtete Romina, wie sie versuchte, durch ein Gartentor einen Blick auf ein Grundstück zu erhaschen.

Sie bogen zwei Mal nach rechts ab und betraten eine breitere Gasse. Vor einem rot gestrichenen Tor blieb Matlal stehen und schlug mit der Faust drei Mal kräftig gegen das Eisentor.

»Wir sind offensichtlich da«, erklärte Brenda. »Nopaltzin ist vor zehn Jahren hier hergezogen. Früher lebte er näher bei Mexico City.«

Naomi blickte durch das vergitterte Sichtfenster der Eisentür und sah ein weiß getünchtes Haus mit blau angestrichenen Fensterrahmen und einer roten Eingangstür, in die ein merkwürdiges Symbol eingelassen war. Auf dem Dach prangten eine Fernsehantenne sowie ein Wassertank, wie auf allen anderen Wohnhäusern in dieser Straße. Der Innenhof war ordentlich mit Kies aufgeschüttet und überall blühten Blumen zwischen den hochgewachsenen Buchen, Zypressen und Bananenstauden. Naomi wusste nicht, was sie erwartet hatte, als man ihr gesagt hatte, sie würden einen Aztekenhäuptling treffen, doch irgendwie hatte sie nicht damit gerechnet, dass er in einem Durchschnittshaus in einem Dorf leben würde.

Naomi trat einen Schritt zurück, als sie das Knirschen der Kieselsteine vernahm. Jemand näherte sich. Sie wollte nicht direkt vor dem Tor stehen, wenn es geöffnet wurde, und ging noch einen Schritt zurück. Romina stand neben ihr und Naomi bemerkte, wie sich Rominas Kieferknochen weiß auf ihrem Gesicht abzeichneten. Offensichtlich war Romina nervöser, als sie zugeben wollte, denn sonst hätte sie nicht die Zähne so fest zusammengebissen. Dadurch fühlte sich Naomi mit ihrem flauen Magen nicht so allein. Sogar ihre lebenserfahrene Urgroßmutter zeigte einen Anflug von Nervosität.

Das Tor schwang auf und vor ihnen stand Ichtaca. Mit einem Kopfnicken begrüßte er die Ankömmlinge, reichte Brenda kurz die Hand und verabschiedete Matlal, der offenbar gerne geblieben wäre, mit knappen Worten. Matlal zögerte, bevor er das Gepäck abstellte, sich tatsächlich abwandte und mit gesenktem Kopf die Straße hinunter schlenderte.

Ichtaca trat beiseite und bat sie mit einer einladenden Geste einzutreten. Leandra und Brenda hoben ihre Taschen auf und betraten den Innenhof.

Naomi hatte bemerkt, wie Ichtaca Romina anstarrte, bevor sein Blick zu Naomi schweifte. »Er hat dich erkannt«, mutmaßte Naomi. »Es ist unglaublich, nicht wahr? Romina, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte ...« Naomi folgte ihr auf das Grundstück. »Hast du heute etwas gespürt, während du auf diesem Zócalo warst?«

»Erst dachte ich, ich hätte es mir gestern eingebildet. Ich fühlte mich stark und ausgeschlafen, bis wir den Platz verlassen haben. Auf dem Gehweg fühlte ich mich plötzlich nur noch steinmüde.« Romina stockte kurz. »Als wir heute den Platz überquerten, um in die U-Bahn zu steigen, spürte ich diese Kraft erneut. Hast du das gemeint?«

Naomi nickte und folgte den anderen rechts ums Haus herum auf eine riesige hölzerne Veranda, auf der mehrere Schaukelstühle im Kreis angeordnet waren. Auf der Stirnseite saß in einem der Stühle ein alter Mann und wippte mehrfach kräftig vor und zurück, bevor er sich durch den Schwung auf die Beine schwang, um seine Gäste zu begrüßen.

»Die Götter sagten, du würdest eines Tages wiederkommen, Brenda«, begrüßte er sie in bestem Englisch. »Ich war mir nur nicht sicher, ob ich es noch erleben würde.« Brenda ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

Naomi betrachtete den alten Mann. Er sah aus, wie eine gealterte Version seines Sohnes. Groß und kräftig gebaut, wenn auch seine Körperhaltung sich mit den Jahren etwas nach vorn geneigt hatte; sein langes Haar war immer noch tiefschwarz und er trug es im Nacken zusammengebunden. Seine Bekleidung bestand aus einem weit geschnittenen Hemd über einer ausgewaschenen Jeans.

Mit wachem Blick begutachtete er zunächst Leandra, bevor er Romina und Naomi taxierte. »Ichtaca sagte die Wahrheit, als er mir versicherte, du würdest interessante Gäste mitbringen«, sagte er zu Brenda. »Setzt euch. Ichtaca sorgt dafür, dass ihr etwas zu trinken bekommt.« Nopaltzin nahm wieder im Schaukelstuhl Platz. »Brenda, wie ist es dir die letzten Jahre ergangen?«, fragte Nopaltzin, wobei sein Blick zwischen Naomi und Romina hin- und herwanderte. »Mich erstaunt, dass du nicht in deiner Ordenstracht vor mir sitzt.«

Brenda entwich ein kehliges Geräusch. »Das liegt daran, dass ich dieses Mal nicht aus Glaubensgründen hier bin, sondern wegen meiner Familie.«

»Als ob es da einen Unterschied gäbe.« Nopaltzin wippte gemächlich vor und zurück.

Naomi verfolgte den Schlagabtausch mit Bewunderung. Die beiden mussten sich vor Jahren heftige Dispute geliefert haben. Brenda hatte von Respekt gegenüber den jeweiligen Religionen und Glaubensrichtungen erzählt, und dass sie damals eine Sinnkrise durchlebt hatte, die sie durch ausgiebiges Beten hinter sich gelassen hatte. Trotzdem war sie nun ohne ihre Tracht gekommen, was bedeutete, dass Brenda mehr ahnen musste, als Naomi bisher angenommen hatte. Im Gegensatz zu ihr war es Nopaltzin sofort aufgefallen.

»Wie kommt es, dass du so gut Englisch sprichst? Hast du endlich Lesen und Schreiben gelernt?« Brendas Augen blitzen auf, als sie diese Frage stellte.

Nopaltzin zeigte auf die Dachantenne. »Amerikanisches Fernsehen. Ich wusste, dass du eines Tages kommen würdest ... Ichtaca sagte mir, dein Náhutal sei immer noch gut. Doch darauf konnte ich mich nicht verlassen, also habe ich versucht das Englisch, das du mir beigebracht hast, zu erhalten.«

»Was Ihnen ausgezeichnet gelungen ist«, mischte sich Romina ein. »Wie können Sie uns weiterhelfen?«

Der alte Mann lachte trocken. »Tut mir leid. Helfen kann ich nicht, das müsst ihr schon selbst tun.«

Romina rutschte auf die Kante ihres Schaukelstuhls, stützte die Ellbogen auf die Knie und sah Nopaltzin in die Augen. »Sie wissen, was wir sind und Sie erkennen uns, kaum dass wir Ihnen gegenüberstehen. Also müssen Sie mehr über uns wissen.«

Die tiefen Falten auf seiner Stirn wurden zu dicken Wulsten, als er sie runzelte. »Ich weiß, was ihr seid und wie ihr dazu geworden seid. Aber helfen kann ich euch nicht.«

Ein junges aztekisches Mädchen, gekleidet in einen bunten weit schwingenden Rock und eine weiße Rüschenbluse, brachte auf einem Holztablett drei Flaschen Wasser und sechs Gläser. Sie stellte alles auf dem Tisch ab, bevor sie sich die Besucher ansah. Kaum streiften ihre Augen Naomi, blickte sie zu Boden und eilte zurück ins Haus.

»Selbst das Mädchen hat mich erkannt, und sie fürchtet sich vor mir, obwohl ich niemandem etwas antun würde«, flüsterte Naomi.

Naomi fing Nopaltzins Blick auf. Seine dunklen Augen blitzen wach und intelligent. »Das war nicht immer so.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Romina nach.

»Ihr habt Verderben über unser Volk gebracht.«

Naomi schüttelte unwirsch den Kopf. »Niemand von uns war jemals in Mexiko. Wie sollten wir die Verantwortung für Dinge in einem Land tragen, das wir niemals betreten haben?«

Leandra knetete ihre Hände. Ein Zeichen dafür, dass sie nervös war. Naomi lächelte ihr unsicher zu, denn Nopaltzins vage Andeutungen verwirrten sie.

»Ich habe in eurem Land niemandem etwas getan. Ich war hier, um zu helfen. Vor allem, um deinem Volk zu helfen, das zunehmend verarmt, von euren heiligen Stätten zurückgetrieben wird und ohne Zukunft aufwächst. Ich wollte euch den christlichen Glauben näher bringen und euren Kindern Lesen und Schreiben beibringen, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Trotzdem scheinen meine Nichte und mein Neffe von diesem, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, betroffen zu sein.«

»Ich kann nichts für euer Schicksal, und ihr könnt nichts für meines. Die Karten wurden von den Göttern schon viel früher gemischt und verteilt, und wir alle müssen damit leben.«

Naomi sammelte ihren ganzen Mut und stellte die Frage, die ihr schon seitdem sie Dorotheas Unterlagen gefunden hatte, auf der Seele brannte. »Hängt das irgendwie mit Martín Cortés zusammen?«

Nopaltzins Augen blitzten auf, und er hörte auf, in seinem Schaukelstuhl vor und zurück zu wippen. »Du bist weit gekommen und trotzdem noch nicht weit genug.«

Diese Andeutungen zerrten an Naomis Nerven. War ein einfaches Ja oder Nein zu viel verlangt? Der Mann sprach in Rätseln. Wenn Martín Cortés nicht der Anfang war und Nopaltzin es genau wusste, warum sagte er es ihr nicht einfach? Naomi goss sich ein Glas Wasser ein und trank es auf einen Zug aus. »Nopaltzin, wie viel weiter zurück muss ich gehen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Ich will doch nur wissen, woher ich komme, warum ich so bin, wie ich bin und was ich dagegen unternehmen kann.«

»Du willst also nur die drei elementarsten Dinge der Welt wissen ... danach forscht die ganze Menschheit seit Jahrtausenden. Nur die Götter kennen die Antwort darauf.«

Naomi versuchte, sich auf die Denkweise des Häuptlings einzulassen. »Sprechen die Götter mit Ihnen?«

»Gelegentlich.«

Naomi senkte den Kopf und starrte auf ihre Füße. Von ihm würden sie nicht viel erfahren. Zumindest schien er nicht mit ihnen reden zu wollen.

»Nopaltzin, wir kennen uns schon sehr lange. Du sagst, du hast darauf gewartet, dass ich wiederkomme, um Antworten auf Fragen zu finden, die ich mir bisher selbst nicht gestellt habe. Also ... hier bin ich und nun sag, was du zu sagen hast.« In Brendas Stimme schwang ein ungeduldiger und wütender Ton mit. »Naomi muss morgen Mittag wieder in Mexico City sein, um ihr Flugzeug zu erreichen. Sie kann nicht länger bleiben.« Zu Naomis Überraschung setzte Brenda leise hinterher: »Ihre Familie schwebt in großer Gefahr und sie muss zu ihr zurück, um sie zu schützen. Das musst du verstehen.« Romina musste Brenda mehr erzählt haben, als sie geahnt hatte, sonst könnte sie nichts von der Bedrohung wissen, die von Sammy ausging.

Nopaltzin schwang sich aus dem Schaukelstuhl, griff nach der Tischplatte und zog sich daran hoch. »Dann sollten wir sofort damit anfangen«, sagte er, ließ sie ohne weiteren Kommentar sitzen und verschwand im Haus.

Ichtaca hatte bisher noch keinen Ton gesagt.

»Ichtaca, verstehst du die englische Sprache?«, fragte Naomi.

Er drehte ihr den Kopf zu, schwieg aber weiterhin.

Brenda wiederholte die Frage auf Náhuatl, woraufhin Ichtaca verneinte. »Was wolltest du ihn fragen?«

»Was sein Vater jetzt vorhat, nachdem er uns einfach hier zurücklässt«, antwortete Naomi. Sie stand auf, ging auf der Holzveranda auf und ab und starrte in den Garten, als ob sie dort die Antworten auf ihre Fragen fände. Eine pink leuchtende Bougainvillea bedeckte die linke Seite der Gartenmauer, darunter blühten weiße Orchideen neben Tomatenstauden, und das gesamte Grundstück war beschattet von mehreren Zypressen und Buchen. Zwischen die Bäume gespannt, baumelte eine bunte Hängematte, in die sich Naomi am liebsten verkrochen hatte, denn sie fühlte sich ausgelaugt, müde und verwirrt.

Nopaltzin tauchte unvermittelt wieder auf. Seine vormals nackten Füße steckten in bequem aussehenden Turnschuhen und auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Cowboy-Hut. »Da die Zeit drängt, sollten wir aufbrechen. Lasst eure Sachen hier, nehmt nur eine Jacke mit. Nachts kann es sehr kalt werden.«

Die Nachmittagssonne brannte zwar nicht mehr so heiß, wie gegen Mittag, doch konnte sich Naomi kaum vorstellen, dass sie bei Einbruch der Dunkelheit frieren würde. Trotzdem kramte sie, wie Brenda, Leandra und Romina, in ihrer Reisetasche nach ihrer Jacke und zog noch ein Sweatshirt heraus, um sicherzugehen, da die leichte Jeansjacke nicht wirklich wärmte. Naomi hätte den Häuptling gerne gefragt, wohin sie gingen, aber da er sich bisher so verschlossen gezeigt hatte, verkniff sie sich die Frage.

Nopaltzin schritt voraus, und Naomi wunderte sich über den festen Gang, nachdem sich der alte Mann bisher eher umständlich aus dem Schaukelstuhl erhoben hatte. Er sagte etwas zu Ichtaca, öffnete die Tür und bog rechts ab.

»Wir werden vermutlich die ganze Nacht wegbleiben«, erklärte Brenda. »Das sagte er zumindest zu seinem Sohn.«

Naomi sah verwundert zu Leandra, der die mangelnde Begeisterung, die Nacht im Freien zu verbringen, ins Gesicht geschrieben stand. Obwohl sie gerne erfahren hätte, was Nopaltzin vorhatte, schwieg sie und folgte Romina und Brenda, die dicht hinter dem Häuptling hergingen.

Die mit steinernen Mauern eingefasste Gasse führte direkt auf die vor ihnen aufragende Hügelkette zu. Auch die Straße selbst bestand aus großen Steinen, die mit einer Sandmischung eingeebnet waren. Naomi sah sich aufmerksam um. Die flachen Häuser duckten sich an den tiefgrünen Hang und verschwanden beinahe zwischen der üppigen Natur. Irgendwo krähte ein Hahn. Ein Stück weiter befanden sich drei Kühe und vier Schweine in einem Vorgarten. Schweigend folgten sie Nopaltzin, der mal rechts, mal links abbog, bis linker Hand eine kleine Kirche vor ihnen auftauchte. Die weiß getünchte Kapelle bestand aus einem eckigen Baukörper mit einem nach oben gewölbten Dach und einem niedrigen rechteckigen Glockenturm, auf dem ein kleines Kreuz befestigt war. Das Eingangsgitter war verschlossen.

Nachdem sie einen Parkplatz überquert hatten, gingen sie an einem Platz entlang, der nach der mexikanischen Version eines Freibads aussah. Einige Bänke und Tische standen abseits eines eingelassenen Schwimmbads. Um die Besucher vor der Sonne zu schützen, waren über den Tischen palmblattgedeckte Sonnendächer auf Holzpfosten angebracht.

Der Weg führte weiter an Straßenhändlern vorbei, die ihre Obst- und Getränkestände zusammenpackten. Ein kleinwüchsiger Mexikaner führte ein Pferd die Straße entlang. Auf dem Rücken des Pferdes waren mehrere Bündel Brennholz festgezurrt. Naomi sah dem Gespann fasziniert hinterher. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

»Möchte jemand von euch Obst oder Getränke kaufen?«, übersetzte Brenda, die von einer Verkäuferin angesprochen worden war.

Naomi nickte. »Da Nopaltzin sagte, wir würden die Nacht draußen verbringen, denke ich, es wäre eine gute Idee etwas mitzunehmen.«

Leandra und Romina nickten ebenfalls. Nopaltzin blieb vor der Verkäuferin stehen und winkte sie zu sich.

Nachdem sie sich mit Cola und Wasser versorgt hatten, wandte sich Nopaltzin ab und bog in einen Pfad ein, an dessen Eingang ein Schild prangte, das eine archäologische Stätte ankündigte.

Naomi hob die Schultern und blickte fragend zu ihrer Großmutter. »Wegen des Sightseeing-Programms sind wir vermutlich nicht hier. Was hat er nur vor?«

Leandra zog ihre Augenbrauen zusammen. »Keine Ahnung. Wir werden es hoffentlich bald erfahren.«

Nopaltzin blieb vor dem Kassenhäuschen stehen, sprach mit der darin sitzenden Einheimischen und reichte ihr die Hand. Diese nickte kurz, überreichte ihm eine Leinentasche und einen Schlüssel, bevor Nopaltzin weiterging.

Romina hielt vor der Bretterbude, las, was dort auf einer Tafel geschrieben stand und sah auf ihre Uhr. »Kurz nach vier. Die Stätte schließt in zwanzig Minuten.« Sie senkte die Stimme und flüsterte: »Weiß der Teufel, was wir hier treiben!« Die Kassiererin starrte Romina mit entgeistertem Gesichtsausdruck an. Naomi zog Romina mit sich, um dem merkwürdigen Blick der Frau zu entfliehen.

Vor ihnen ragte ein Bergmassiv auf. Der Pfad führte zuerst in niedrigen, lang gezogenen Steinstufen in den dichten Wald. Pinien, Birken und Steineichen säumten den Weg, der später steiler anstieg. Einige Baumstämme waren mit grünen Hängepflanzen überwuchert. Überall wuchsen riesige Farne auf dem Waldboden. Der satte Geruch nach unberührter Natur war übermächtig. Naomi hätte den Spaziergang durch den Wald genossen, wäre ihr Ziel nicht ein anderes gewesen. Ihre Gedanken kreisten um die Frage, was sie hier sollten.

Nach wenigen Metern wurden die Steinstufen höher und kürzer. Leandra stöhnte. »Diese Luftfeuchtigkeit bringt mich um. Wenn wir nicht bald ankommen, kehre ich um und warte unten auf euch.« Die Anstrengung setzte Naomis Großmutter offensichtlich zu.

Ein unbestimmtes Gefühl zog Naomi regelrecht den Hügel hinauf. Es war ähnlich, wie wenn es sie nachts zu einer Lichtung zog. Trotzdem blieb sie in jeder Pause, die Leandra einlegte, bei ihr, um sie nicht alleine zurückzulassen. »Oma, du musst nur langsam machen. Dann schaffst du den Aufstieg schon.«

Leandra stützte die Arme auf ihre gebeugten Knie und sammelte sich. »Du hast recht. Von dem alten Knaben dort vorn lass ich mich nicht abhängen.«

Naomi lachte. »Ja, genau das ist die richtige Einstellung.« Das Alter von Nopaltzin war aufgrund seiner dunklen und wettergegerbten Haut schlecht einzuschätzen. Vermutlich sah er älter aus, als er war. »Außerdem gibt es nachher bestimmt eine Möglichkeit sich auszuruhen.«

»Alles okay bei euch?«, rief Romina den Hügel hinab.

Naomi reckte den Daumen in die Luft und hakte sich bei Leandra unter. »Komm, gehen wir weiter.«

Nach einer halben Stunde erreichten sie ein vergittertes Tor. Auf dem Weg nach oben waren ihnen noch einige Touristen entgegengekommen, doch nun schien die Anlage für Besucher geschlossen zu sein.

Als Naomi und Leandra ebenfalls am Gittertor angekommen waren, nestelte Nopaltzin in seiner Hosentasche, zog einen Schlüssel heraus und schloss auf.

Sein Blick fiel auf die erschöpfte Leandra, die mit hochrotem Gesicht laut nach Luft schnappte. »Es sind nur noch wenige Stufen, dann sind wir oben und Sie werden sich gleich besser fühlen.«

Naomi schob Leandra durch den Eingang, während Romina mit Brenda voranging und Nopaltzin das Tor wieder absperrte.

Die in die Natur eingebetteten Steintreppen führten weiter bergauf. An der zerklüfteten Felswand wuchsen Moosteppiche. Naomi streckte ihren Arm aus, um sie zu berühren. Das Moos fühlte sich weich, dick und nass an. Sie wischte sich ihre feuchten Finger an ihrer Jeans ab und ging weiter.

Nach etwa einhundert Metern erreichten sie ein Felsplateau, an dessen linker Seite eine gut erhaltene Ruine zwischen den Bäumen aufragte. Kaum hatte Naomi das Plateau betreten, ergriff sie ein Gefühl von Stärke. Hatte sie eben noch die Anstrengung des Aufstiegs in ihrem Körper gespürt, so war diese in dem Moment, als sie die letzte Treppenstufe hinter sich gelassen hatte, verschwunden.

Während Leandra auf der Plattform zu den anderen ging, blieb Naomi augenblicklich stehen. Es handelte sich um dasselbe Gefühl wie auf dem Hauptplatz in Mexico City. Nur viel intensiver. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, eilte sie zu Romina.

»Du spürst es auch«, flüsterte Romina ihr zu, bevor Naomi selbst hätte fragen können.

Naomi nickte und beobachte, wie Leandra, Brenda und Nopaltzin ihren Blick auf das dem Hügel zu Füßen liegende Dorf richteten. »Lass uns zu ihnen gehen. Wir behalten das, was gerade mit uns geschieht, für uns. Einverstanden?«

Romina brummte zustimmend und folgte Naomi, die zu den anderen aufschloss.

Leandra drehte sich mit einem Lächeln im Gesicht zu Naomi. »Es ist herrlich hier und soll ich dir was verraten? Ich fühle mich trotz der Plackerei zwanzig Jahre jünger.«

Naomi beobachtete Leandra mit Erstaunen. In Leandras vormals gerötetem Gesicht war von der vorangegangenen Anstrengung nichts mehr zu sehen.

»So etwas dachte ich mir«, sagte Nopaltzin. »Denn hier liegt der Ursprung eures Seins. Es ist der göttliche Platz von Huitzilopochtli. Der höchsten Gottheit unseres Volkes. In eurer Sprache bedeutet es Kolibri des Südens. Er ist der Kriegs- und Sonnengott und der Schutzpatron von Tenochtitlán, auf deren Trümmern die Stadt Mexico City erbaut wurde.«

Nopaltzin sah zum Himmel. »In drei Stunden geht die Sonne unter und ich will euch die Anlage zeigen, bevor wir zu eurer Geschichte kommen.«

Naomi folgte Nopaltzin schweigend. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Großmutter die Kraft dieser Erde ebenfalls zu spüren vermochte. Sie betrachtete Leandra, wie sie weit ausschritt, und sogar ihre Körperhaltung verriet mehr Spannung. Ihr sonst schmerzender Rücken schien durchgedrückt, die Schultern hielt sie zurückgenommen, und sie wirkte auf Naomi tatsächlich zwanzig Jahre jünger.

Nopaltzin zeigte einen Hügel hinunter, in dessen Bewaldung sich eine steinerne Treppe befand, die ins Nichts führte. »Versucht eure Fantasie spielen zu lassen. Stellt euch vor, an dieser Treppe würde ein Tempel stehen und stellt euch weiter vor, dass jede Ruine, die ihr seht, einst ein prächtiges Bauwerk gewesen ist. Hier wurden die jungen Männer in einer heiligen Zeremonie in die Kriegerkaste aufgenommen. Anschließend wurden sie in Kampf und Kriegsführung weitergebildet. Es ist nicht leicht, sich eine längst vergangene Einrichtung mit Tempeln, Gebäuden und Plätzen vorzustellen. Doch bitte versucht es. Mir ist bewusst, dass bis auf den Jaguartempel nicht mehr viel zu erkennen ist.«

Naomi versuchte sich auszumalen, wie es hier vor Hunderten von Jahren gewesen sein könnte; und scheiterte. Ihre Fantasie reichte einfach nicht aus. Sie sah nichts weiter, als zusammengefallene Steinmauern und einige Treppenstufen, die auf eine Plattform führten. »Wie viele Menschen haben hier gelebt?«, fragte sie.

»Darüber gibt es keine Angaben. Ob neben den Priestern und ihren Untergebenen andere Mitglieder unseres Volkes hier lebten? Ich weiß es wirklich nicht. Wenn man aber bedenkt, dass wir in der Vergangenheit ein sehr kriegerisches Volk waren und in Tenochtitlán über vierhunderttausend Menschen lebten, durchliefen sehr viele hier die Weihe.« Nopaltzin bat sie, ihm zu folgen. Vor einem Tempel blieb er stehen. »Dieser Tempel wurde aus einem einzigen Felsen geschaffen. Es gibt keine Verbindungen oder nachträglich angefügten Artefakte. Hier ist alles noch genau so, wie es vor über sechshundert Jahren gewesen ist.«

Naomi betrachtete den Tempel. An der Frontseite führten Treppenstufen zum Tempeleingang. Sie wurden von einer Statue in deren Mitte unterbrochen. Links und rechts führte eine Art Rampe nach oben, die die Treppenstufen flankierte.

An deren Seite saßen zwei Steinfiguren in Form eines sitzenden Jaguars, die den Tempel bewachten, wobei dem rechten der Kopf fehlte und man nur anhand der Pfoten erkennen konnte, dass es sich dabei um eine Katze handeln musste. Jeweils schräg an der Haupttreppe entlang verliefen Nebentreppen, die zur Tempelplattform hochführten.

Um den Hauptplatz vor dem Tempel formten weitere Treppen eine Art Empore, die Naomi an ein römisches Amphitheater erinnerte.

Naomi stieg die Seitenstufen hoch, während Nopaltzin die Haupttreppe nahm. Leandra und Brenda bückten sich zu den Jaguarstatuen, bevor sie ebenfalls die Seitentreppe erklommen. Romina schien zu überlegen, ob sie die Haupt- oder die Nebentreppe nehmen sollte, denn sie trat erst zögernd zur Seite, bevor sie doch zurück zur Haupttreppe ging und nach oben stieg.

Am Eingang des Tempels standen weitere Figuren aus Stein; eine große Schlange und ein Krieger mit einem Adlerkopf, die den Tempelraum schützten. Gegenüber des Portals befanden sich eine Trommel und ein Krieger mit einem Jaguarkopf. Das Tempeldach bestand aus Stroh.

Nopaltzin betrat den Innenraum.

Leandra und Brenda blieben zögernd vor dem niedrigen Steinportal stehen. Naomi folgte Romina um die drei Seiten des Tempels herum, bis die Plattform vor der aufragenden Felswand endete. »Hast du die Jaguarfiguren gesehen?«

Romina bejahte.

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was die Verbindung zu uns sein soll.« Naomi schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zurück zum Eingang.

Nopaltzin trat aus dem Tempel und sagte: »Nun kommt schon herein, bevor die Sonne untergeht und ihr nichts mehr sehen könnt.«

Naomi folgte ihm in den Tempel, durchschritt ein Portal und stand in einem kreisrunden Raum. Wand und Boden zeigten noch die gefleckte Bemalung eines Jaguarfells. Die Farbe wirkte verblichen, trotzdem vermochte Naomi das Muster noch zu erkennen. Der Raum maß etwa drei Meter und wurde durch einen kniehohen Sockel begrenzt, der entlang der Wände verlief und wie eine runde Sitzbank aus Stein wirkte. Während sich Naomi umblickte, hätte sie beinahe die Erhöhung auf dem Boden übersehen. Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete die Figur. Es handelte sich um das Relief eines Adlers mit angelegten Flügeln. Rechts und links auf dem durchgängigen Sockel unterbrachen zwei herausragende Adlerskulpturen die Fläche. Gegenüber des Eingangs starrte eine mannshohe Jaguarfigur mit wachendem Blick in den Saal.

Plötzlich fröstelte Naomi.

»Setz dich, sonst finden die anderen keinen Platz in diesem kleinen Raum.« Nopaltzin saß bereits und Naomi nahm ihm gegenüber Platz. Die Jaguarfigur ragte über ihre rechte Schulter.

Der Häuptling wartete, bis sich auch Brenda, Romina und Leandra auf den Sockel gesetzt hatten.

»Brenda wird schon aus unseren früheren Unterhaltungen einiges über die aztekische Armee wissen.« Er sah erst zu Brenda und ließ anschließend seinen Blick durch die Runde gleiten. »Wir sitzen hier, wie es damals die Elite der Adler- und Jaguarkrieger tat, wenn es darum ging, neue Krieger für die Weihe auszuwählen. Schon in jungen Jahren lehrte man auf speziellen Schulen den jungen Azteken den Umgang mit der Waffe. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr oblag die Erziehung der Eltern. Später lebten sie in einem Calpulli, einer staatlichen Einrichtung. Die angehenden Krieger mussten sich regelmäßig Prüfungen unterziehen, und über die besten entschieden hier die Hohepriester. Wer ausgewählt wurde, bekam in diesem Raum die rituelle und schmerzhafte Aufnahme in den Adler- oder den Jaguarorden. Mit einem Messer wurden die Totems in die Rücken der neuen Krieger geritzt. Das Totem der Adlerkrieger war die Sonne, die des Jaguarordens der Mond.«

Naomi schluckte, als sie die Verbindung zwischen Mond und Jaguar als Verbindungsstück zu ihrer eigenen Situation herstellte. Ein Panther war schließlich nichts anderes als ein schwarzer Jaguar.

»Über beide Orden wachte der Kriegsgott Huitzilopochtli, von dem ich euch vorher schon berichtet habe. Dass er sich der Nacht näher fühlte, als dem Tag zeigt schon seine bildliche Darstellung durch seinen mit Federn geschmückten Jaguarkopf. In der linken Hand trägt er einen Schild und einen Lorbeerzweig, der seine Macht und seinen Ruhm ausdrückt. In der rechten hält er einen Stab, mit dem er über seine Feinde richtet. Auch wenn beide Orden dem gleichen Gott unterstanden, so waren ihre Aufgaben doch sehr unterschiedlich. Die Adlerkrieger wurden als Spione, Späher und in Regierungsposten eingesetzt. Sie kämpften nur im Kriegsfalle. Die normale Kriegsführung war den Jaguarkriegern vorbehalten. Nur den besten Kriegern wurde die Aufnahme in die Jaguarkaste gewährt. Die Aufnahme hing nicht vom Stand ab; ob Bauernsohn oder Sohn eines Adligen, die gesellschaftliche Stellung spielte dabei keine Rolle. Nur durch mutige Kriegseinsätze konnte man in der Rangfolge aufsteigen. Je mehr Kriegsgefangene ein Krieger machte, desto höher stieg er innerhalb des Ordens auf. Den Stand erkannte man am Federschmuck und an der Kleidung. Viel weiter werde ich nicht ausholen, es würde euch nicht interessieren und vermutlich sogar langweilen.«

»Doch was hat das mit uns zu tun?«, unterbrach Romina den Häuptling.

»Nicht so ungeduldig junge Frau.« Nopaltzin zog sich eine Wasserflasche aus der Plastiktüte, schraubte den Verschluss auf und trank einen kräftigen Schluck.

Naomi schwitzte, obwohl es in dem aus Stein geschlagenen Raum eigentlich kühl war. Sie bat Brenda, die die Getränke neben sich in einer Plastiktüte auf den Boden gestellt hatte, um eine Wasserflasche. Durch den Eingang drang noch das letzte Tageslicht. Bald säßen sie hier im Dunkeln.

»Die Krieger beider Orden galten als unbezwingbar. Es ist nicht ein einziger Krieger bekannt, der Schande über sich gebracht hat, weil er im Kampf auch nur einen Schritt zurückgewichen wäre.«

Nachdem niemand etwas zu seiner Ausführung sagte, sprach Nopaltzin weiter: »Der Herrscher über Tenochtitlán, also dem heutigen Mexico City, war auch der ranghöchste Hohepriester der Jaguarkrieger und er sprach in diesem Tempel mit den Göttern. Das tat er regelmäßig im vierten Quartal des Jahres. Nach jedem jährlichen Ritual wurde ein Junge ausgewählt, der ein Jahr lang als Mensch gewordener Gott verehrt wurde. Nach einem Jahr wurde er in einer heiligen Zeremonie den Göttern übergeben, um ihnen die Nachricht des Hohepriesters zu überbringen.«

»Er hat sich freiwillig geopfert?«, fragte Naomi, die sich nicht vorstellen konnte, wie sich jemand aus freiem Willen töten lassen konnte.

»Es ist eine große Ehre, die Nachricht des Priesters zu den Göttern zu bringen. Die Jungen meldeten sich freiwillig, doch nur einer konnte auserwählt werden«, erklärte Nopaltzin. »Moctezuma, in eurem Land kennt man ihn unter dem Namen Montezuma, wollte erfahren, wie die Zukunft seines Volkes aussehen würde, und bat Tezcatlipoca, in seinen magischen Spiegel zu sehen und ihm zu zeigen, was sein Volk erwartete.«

»Entschuldige, dass ich dich unterbreche«, sagte Brenda und fügte erklärend hinzu: »Ihr erinnert euch, dass ich euch von Tezcatlipoca erzählte, als ihr nach Jag War gefragt habt?«, fragte Brenda. »Der Jaguar brachte die Sonne, sprang durch ein Flammenmeer und kam geschwärzt, aber unverletzt hervor. Der Panther gilt als Tezcatlipocas höchste Macht und fügt die Schicksale des Universums. Wer in die Augen eines Jaguars blickt, sieht direkt in den göttlichen Spiegel und erfährt sein Schicksal.«

Naomi kannte die Geschichte nur flüchtig, da Romina ihr nicht alle Details beschrieben hatte. Aber sie erinnerte sich noch, dass es hieß, wer in die Augen des Jaguars blicke, könne darin seine Zukunft sehen.

»Du hast dir die Geschichte tatsächlich gemerkt?«, fragte Nopaltzin nach.

Brenda nickte. »Sie fiel mir in dem Moment wieder ein, als Romina nach Jag War fragte.«

»Hast du vorher nie an deine Begegnung mit dem Jaguar im Wald zurückgedacht? Es war eine besondere Ehre für dich, in seine Augen sehen zu dürfen. Er ist ein treuer Begleiter von Tezcatlipoca, unseres höchsten Gottes.« Nopaltzin senkte den Kopf und schüttelte ihn gemächlich. »Warum solltest du auch ... unsere Götter sind schon seit Langem eurem Gott gewichen, und nur noch wenige interessieren sich für die alten Traditionen. Ich habe mein Wissen an Ichtaca weitergegeben, aber ob er die Überlieferungen auch an seinen Sohn weitergeben wird? Vermutlich nicht ... die Zeiten ändern sich und die jungen Leute verlieren nach und nach das Interesse an den alten Legenden.«

Nopaltzin räusperte sich, stand auf und verließ den beinahe dunklen Raum.

»Es ist zwar ganz nett, seinen Erzählungen zuzuhören, aber ich sehe immer noch nicht, wohin es führt«, sagte Romina.

Brenda streckte den Rücken durch und drehte den Kopf nach links und rechts. »Wir müssen ihm Zeit lassen. Er ist ein Philosoph und erzählt immer sehr ausschweifend. So ist seine Art.«

Naomi sah zu ihrer Großmutter. Leandra schien in Gedanken versunken und starrte auf die Schlangenskulptur in der Mitte des Raumes.

»Ich hoffe nur, dass uns die Zeit nicht davon läuft. Die ganze Geschichte mit den Göttern und ihren unaussprechlichen Namen verwirrt mich mehr, als dass es mich die Dinge klarer sehen lässt«, meinte Naomi.

Nopaltzin betrat wieder den Raum. In seiner Hand hielt er ein hölzernes Gefäß, an dessen oberen Ende ein Stab herausragte und einige Kerzen. »Wo war ich stehen geblieben?«

»Montezuma wollte wissen, wie es um die Zukunft seines Volkes stand«, sagte Naomi.

»Richtig. Nach einem Ritual sandte er seine Nachricht mit der Seele des Jungen zur Sonne. Während er darauf wartete, die Antwort zu erhalten, meditierte er.« Er blickte von Leandra zu Brenda. »Für euch beide wird es Zeit nach draußen zu gehen. Wir werden nun das Ritual von damals durchführen; und wenn es mir gelingt, werden heute Nacht eure Fragen beantwortet werden.«

»Aber es betrifft doch auch meine Familie«, wandte Brenda ein.

»Du wirst erfahren, was wir heute Nacht erleben.«

Gemächlich stand Brenda auf. »Auch wenn es mir nicht gefällt, hinausgeschickt zu werden, so kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass du nicht von deiner Entscheidung abweichen wirst.«

»Es geht nicht darum, was ich will. Das Ritual folgt festen Regeln, und ihr seid nicht dazu ausersehen, an ihm teilzuhaben.« Nopaltzin legte den Holzgegenstand beiseite und faltete die Hände im Schoss. Offenbar hatte er dem Gesagten nichts hinzuzufügen.

Leandra erhob sich und seufzte, bevor sie Brenda an die Schulter fasste und sagte: »Komm, lass uns nach draußen gehen.«

Mit einem bangen Gefühl blickte Naomi ihrer Großmutter und Brenda nach.