Acht

Leandra blickte zum Fenster hinaus und starrte in die Abenddämmerung. Der Sonnenuntergang vom Flugzeug aus stellte für sie ein bisher noch nie gesehenes Naturschauspiel dar. Es wirkte auf Leandra unwirklich, wie der Horizont über ihr in Flammen stand, während zehntausend Meter darunter die Nacht bereits die Erdoberfläche in einen schwarzen Mantel einhüllte.

Die Maschine ging in den Sinkflug.

Romina erwachte zur Lautsprecheransage der Stewardess, die die Passagiere über die baldige Ankunft in San Antonio informierte. Sie streckte sich, beugte sich zum Fenster, sah kurz hinaus, und blickte umgehend zur Bildschirmanzeige mit den aktuellen Flugangaben.

»Na endlich. Bald haben wir´s hinter uns.«

Leandra beobachtete weiter den brennenden Horizont.

»Hoffentlich konnte Jason kommen. Sonst dürfen wir uns ein Hotel am Flughafen suchen«, sagte Romina.

»Warum sollte er nicht da sein, um uns abzuholen?«

Romina seufzte. »Er lässt Katie nicht mehr aus den Augen. Und wenn sie sich querstellt, dann wird er nicht kommen. Ich bin mir sogar unsicher, ob er überhaupt irgendeinen Einfluss auf sie hat. Sie schien mir bisher sehr selbstsicher und nicht auf den Rat ihres Bruders angewiesen zu sein.«

Leandra schwieg.

Während des Weiterflugs von Atlanta nach San Antonio hatte Leandra sich pausenlos den Kopf über Naomi zerbrochen. Sie wirkte verzweifelt wegen Pilar und auch wegen Sammy. Noch nie hatte sie ihre Enkelin auch nur ein hasserfülltes Wort über jemanden sagen hören, und nun wünschte sie Sammy den Tod. Leandra verstand diesen Ausbruch. Von Sammy ging eine große Gefahr aus, trotzdem gefiel es ihr nicht, wie es Naomis Wesen beeinflusste. Es zerriss ihr das Herz, zusehen zu müssen, wie aus Naomi eine harte und verbitterte Frau wurde, die es nicht wagte, weitere Kinder zu bekommen.

Eine halbe Stunde später verließen sie das Flugzeug. An Rominas Art zu gehen, erkannte Leandra, wie angespannt ihre Mutter war. Die sonst so geschmeidigen Bewegungen wirkten abgehackt und steif. Auch ihre Gesichtszüge sahen versteinert aus.

Am Gepäckband schnappte sich Romina ihre Reisetasche und trat zurück, bis auch Leandra ihre Tasche entdeckte, vom Band zog und auf eine Reaktion ihrer Mutter wartete.

Romina straffte die Schultern und atmete tief ein und aus. »Dann wollen wir mal.« Ohne Leandras Reaktion abzuwarten, schritt sie auf den Ausgang zu.

Leandra prallte beinahe gegen Rominas Rücken, nachdem diese plötzlich wie angenagelt stehen blieb. Sie schob sich an ihr vorbei und suchte unter den Wartenden nach einem jungen Burschen, der ein Mädchen dabei hatte. Als Leandras Blick auf eine Nonne in ihrer Schwesterntracht fiel, sah sie genauer hin. Neben ihr standen zwei Jugendliche. Es musste sich um Brenda, Jason und Katie handeln. Und: Es musste gründlich schief gelaufen sein, wenn Brenda sich mit den beiden am Flughafen befand.

»Die Nonne dort, ist das Brenda?«, fragte Leandra.

Romina presste die Lippen aufeinander und nickte.

Jason hob die Hand zum Gruß. Auf seinem jungenhaften Gesicht spiegelte sich seine Hilflosigkeit wider. Ohne diesen betretenen Gesichtsausdruck wäre er mit seinen braunen Wuschelhaaren und den ebenmäßigen Gesichtszügen ein hübscher Kerl. Seine Schwester trug die Haare zurückgebunden und ihr Gesicht wirkte abweisend; Leandra las darin, dass das Mädchen eigentlich nicht hier sein wollte.

Selbst die Nonne sah widerwillig zu den Ankömmlingen, die die Gepäckhalle ausspuckte, bis Jason Brenda am Arm fasste und mit sich zog.

Romina schien sich vom ersten Schock erholt zu haben, denn sie ging mit langsamen Schritten auf ihre Verwandten zu, um sie zu begrüßen.

Leandra fühlte sich fehl am Platz und trat zur Seite, um die anderen Fluggäste durchzulassen.

Gespannt beobachtete sie, wie die Gruppe miteinander sprach. Sie gingen beiseite, an eine Stelle, an der sie ungestörter waren.

Nach einigen Minuten winkte Romina sie zu sich. Noch bevor Leandra den Mund aufmachte, sagte Romina mit selbstsicherer Stimme: »Das ist Leandra. Meine Tochter.«

Zuerst realisierte Leandra überhaupt nicht, was Romina gerade getan hatte. Doch die aufgerissenen Augen, die sie schockiert anstarrten, machten Leandra schnell klar, wie es für die Drei aussehen musste. Eine etwa dreißigjährige Frau stellte sie, eine Großmutter von siebzig Jahren, als deren Tochter vor.

»Könnten wir das bitte woanders besprechen?«, schlug Leandra vor. Sie funkelte Romina böse an. Wie konnte sie etwas so Unüberlegtes an einem Flughafen sagen?

Katie und Jason sahen überrascht, aber neugierig, von Leandra zu Romina. Nur Brenda schien noch um ihre Fassung zu ringen.

»Bitte.« Leandra fühlte sich, als würde jeder, der an ihnen vorbeiging, sie anstarren.

Ein Ruck ging durch Brenda. Sie griff nach Leandras Tasche, drückte sie Jason in die Hand und wandte sich an Romina. »Du bist jung genug, um deine Tasche selbst zu tragen.«

Romina zuckte kurz zusammen und lachte lauthals los.

»Reiß dich zusammen«, mahnte Leandra. »Was passiert nun?«

»Wir fahren ins Hotel«, antwortete Brenda. »Ich habe dort eine Suite reserviert, weil mir Nachtfahrten ein Gräuel sind und wir genug zu besprechen haben.«

Leandra betrachtete Brenda. Sie vermochte ihr Alter hinter dieser Nonnentracht kaum auszumachen. Ein Gesicht ohne Haare wirkte irgendwie anders. Zeitlos. Um Brendas Augen lagen Falten, doch sie blitzten lebendig und neugierig. Es würde zweifellos eine interessante Nacht werden.

 

Das Hotel lag in Flughafennähe, und Brenda stellte das Fahrzeug auf dem Parkplatz ab. Nachdem Brenda bereits vorher eingecheckt hatte, folgte die Truppe ihr direkt bis in die Suite.

Ein Wohnzimmer trennte die beiden Schlafzimmer.

Jason stellte Leandras Tasche in eines der Schlafzimmer. Romina folgte ihm.

Katie setzte sich in einen Sessel und kauerte sich dort mit angezogenen Beinen zusammen. Leandra bemerkte, wie das Mädchen nervös von einem zum anderen sah.

»Ihr müsst hungrig sein«, sagte Brenda. »Ich bin es zumindest. Jason, bestelle uns doch einige Sandwiches und etwas zu trinken.«

Jason setzte sich in Bewegung, griff nach dem Telefon und bestellte fünf Club-Sandwiches mit Fritten und Getränke.

»Zuerst bitte ich euch, Katie nichts vorzuwerfen. Sie steht völlig neben sich. Ich wusste schon seit Langem, dass hier etwas vorgeht, was ihr zusetzt.« Brenda setzte sich auf eine Sessellehne. »Mit so einer Geschichte habe ich trotzdem nicht gerechnet. Ich habe während meiner Missionsreisen schon viel verrückte Sachen gehört, auch gesehen, aber sich bei Vollmond nachts in einen Panther zu verwandeln ... das toppt alles.«

Romina setzte sich zu Leandra auf das Sofa. »Was hat Katie dir erzählt?«

»Exakt das, was ich eben gesagt habe.«

»Was denkst du darüber?«

»Was ich denke? Ich will die Hintergründe zu dieser ... Geschichte erfahren. Das fände ich einen guten Anfang.« Brenda zog sich die Haube vom Kopf. Ein grauer Stoppelhaarschnitt kam zum Vorschein. »Diese schreckliche Hitze hält mich vom Denken ab.«

»Brenda, wir kennen unsere Geschichte selbst nicht. Zumindest nicht genau. Ich weiß nicht, warum wir sind, was wir sind, noch weiß ich, wie man es stoppen kann. Wir haben unsere Wurzeln bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt. Aber den Ursprung kennt niemand von uns.«

»Dann sag, was du zu wissen glaubst.« Brenda blickte zu Romina, setzte sich auf einen Sessel und faltete die Hände. »Ich bin schon gespannt, wie du mich davon überzeugen willst, dass Leandra deine Tochter ist.«

Leandra wunderte sich darüber, dass Romina so ruhig wirkte. Brenda sah sie an, als sei sie diejenige, die den Kindern mit einer wahnwitzigen Geschichte den Geist vernebelt hätte.

»Vielleicht sollte ich damit beginnen zu erzählen, was ich über euren Familienzweig herausgefunden habe. Vor vielen Jahren hatte ich Briefkontakt mit deiner Mutter Carol. Ich fragte sie, ob ihre Wurzeln in Europa lägen, was sie bestätigte. Ihre Urgroßeltern kämen aus England. Genaueres wisse sie nicht, da ihre Großeltern bei einem Unfall ums Leben gekommen seien. Aus diesem Grund könne sie niemanden mehr über ihre Vorfahren befragen. Sie wollte damals jedoch für deinen Bruder Frank einen Stammbaum anfertigen. Hat sie das jemals getan?«

Leandra beobachte Brenda. Wenn Brenda sich darüber wunderte, dass Romina die Namen ihrer Familienangehörigen wusste, so ließ sie sich nichts anmerken.

»Nein, nicht dass ich wüsste«, sagte Brenda und sah von Katie, die immer noch zusammengekauert auf dem Sessel saß, zu Jason, der Romina nicht aus den Augen ließ und schwieg.

»Wir sind entfernt verwandt. Ihr und wir. Dorothea, die bis vor einem halben Jahr bei mir lebte, verlor ihren Mann während eines großen Feuers. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie nicht, dass sie bereits über sieben Leben verfügte. Sie verlor ein Leben bei diesem Feuer und trug schwere Brandnarben davon. Verängstigt, wie sie war, wagte sie es nicht Kontakt mit ihrer Schwester Hanna herzustellen, die sie ja für tot hielt. Dorothea blieb kinderlos, doch sorgte und kümmerte sie sich immer um die Nachfahren ihrer Schwester. So fanden Dorothea und ich letztlich auch zusammen. Sie suchte meine Nähe und wir vereinten unsere Erfahrungen und Kräfte. Hanna gebar während ihrer Ehe zwei Söhne. Einer starb noch im Kindesalter an Scharlach, doch der andere Sohn zeugte zwei Töchter, Maria und Barbara. Meine Familie stammt von Maria ab, eure von Barbara; eurer englischen Vorfahrin. Barbaras Urenkelin wanderte in die USA aus, nach Texas, wo sich in jenen Jahren viele Engländer ansiedelten. Carol, also deine Mutter, ist die Enkelin der Auswanderer David und Claire, die bei einem Unfall ums Leben kamen. Dies sagte zumindest Carol, als ich damals mit ihr in Briefkontakt stand. Sie schrieb mir auch, dass sie zwei erwachsene Kinder habe. Brenda, die Nonne sei, und Frank, der verheiratet sei und zwei Kinder habe, nämlich Katie und Jason. Um für eure Sicherheit zu sorgen, suchte ich eure Nähe. Ende der Geschichte.«

»Ich bin keine Nonne. Ich bin Ordensschwester. Das ist ein Unterschied«, wandte Brenda ein.

»Gut, dann eben Ordensschwester. Ich kenne mich in solchen Dingen nicht sonderlich aus. Carol schrieb jedenfalls, du seist in Lateinamerika und würdest in einer Mission arbeiten. Und sie glaubte, Frank würde sich über einen Stammbaum freuen. Das Thema interessierte Carol, und sie langweilte sich, seitdem ihr Mann verstorben war und ihre Kinder aus dem Haus waren.«

»Hast du die Briefe noch?«, fragte Brenda.

»Ja. Sie liegen sicher in unserem Versteck, wo wir alle Unterlagen zusammentragen und nach neuen Clanmitgliedern forschen, um sie vor unseren Feinden zu warnen«, erklärte Romina.

»Clanmitglieder, Feinde, Panther, sieben Leben ... warst du schon mal beim Arzt deswegen?« Brenda verschränkte die Arme und lehnte sich im Sessel zurück.

Leandra presste die Lippen zusammen, als sie bemerkte, wie Rominas Gesicht eine zarte Röte überzog. Sie schien jeden Moment die Geduld zu verlieren.

Das Klopfen an der Zimmertür enthob Romina einer Antwort, was Leandra freute, da sie befürchtete, deren Antwort könnte einen Streit provozieren.

Jason öffnete dem Zimmerservice die Tür und bedeutete ihm, alles auf den Wohnzimmertisch zu stellen.

Romina kramte in ihrer Hosentasche nach dem Trinkgeld, drückte dem Herrn ein paar Dollarscheine in die Hand und geleitete ihn zur Tür hinaus.

Leandra griff nach einer Cola, öffnete sie und lehnte sich mit der Dose in der Hand wieder zurück. Die Club-Sandwiches sahen lecker aus. Trotzdem schien niemand mehr Appetit zu verspüren, denn keiner griff zu.

Leandra fühlte sich erleichtert, bisher nur Zuschauer zu sein und nichts erklären zu müssen. Romina befand sich in keiner beneidenswerten Situation.

Katie umklammerte noch immer ihre Beine, während sich Jason wieder auf das Sofa fallen ließ.

Einzig Romina stand noch mitten im Zimmer und scheute sich offenbar, sich wieder in Brendas Nähe zu setzen.

»Tante Brenda, nur weil du es nicht glauben magst, ist es nicht weniger wahr. Jason verwandelte sich sechs Monate vor mir. Und Romina wartete damals schon auf ihn, um ihn einzuweisen. Wir sind Teufel!« Katie wiegte sich, wie ein kleines Kind, vor und zurück. »Teufel sind wir, verfluchte Teufel und nichts kann uns noch retten.«

Romina seufzte. »Wir sind doch keine Teufel, Katie. Das habe ich dir doch schon mehrfach erklärt. Wir sind nur ... anders.«

»Wir kommen in die Hölle«, jammerte sie.

»Katie, wenn Gott dich so geschaffen hat, dann liebt er dich so, wie du bist. Sonst hätte er dich nicht so erschaffen, oder etwa nicht? Solange du niemandem wehtust, begehst du auch keine Sünde.«

Romina hatte Leandra während des Flugs erklärt, dass Katies Glaube der Hauptgrund sei, weswegen sie nicht mit der neuen Situation zurechtkäme. Aus diesem Grund drängte es sie, mit ihrer Tante darüber zu sprechen. Anderenfalls brächte sie es nicht fertig, weiterzuleben. Jason sorgte sich um sie, weil ihre bisherige Welt in Trümmern vor ihr lag und ihr tiefer Glaube ihr auch nicht weiterhelfen konnte. Jason glaubte ebenfalls an Gott, wie seine ganze Familie. Jeden Sonntag besuchten sie die Messe, vor jedem Essen sprach man ein Gebet, und trotzdem vermochte er sich mit der veränderten Lage zu arrangieren.

»Katie, ich habe dir doch erklärt, dass du nur sehr lebhaft träumst. Solche Phasen kommen und gehen«, versuchte Brenda sie zu beruhigen. »In der Pubertät ist das völlig normal.«

Jason sprang auf die Beine. »Wann begreifst du endlich, was wir versuchen, dir zu erklären? Es ist wahr! Ich hatte gehofft, wenigstens du würdest es verstehen!«

»Was meinst du damit?«, hakte Brenda nach.

Leandra fühlte sich, als sähe sie einen Film.

»Du warst doch immer diejenige, die von heidnischen Flüchen und Riten erzählt hat, als wir noch Kinder waren. Du hast uns von den Häuptlingen und ihren Stämmen erzählt. Wie du ihnen in ihrer Sprache die Bibel vorgelesen hast und wie sie dir von ihren Göttern berichtet haben. Manche Erzählungen glichen sich so sehr, dass man sie hätte verwechseln können. Du hast sogar von diesem widerlichen Ziegentöter erzählt, der die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt hat.«

»Ach Jason, das sind doch Märchen, purer Aberglaube. Damit versuchte ich euch doch nur zu verdeutlichen, was Irrglaube alles bewegen kann. Die einfache Landbevölkerung brauchte eine Erklärung für die toten Ziegen und erschuf den Chupacabra, der nachts über die Felder streift und sich, wie ein Vampir, vom Blut der Tiere ernährt. Ebenso wie die einheimischen Stämme zur Besänftigung der Götter Menschenopfer dargebracht haben. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.« Brenda rieb sich über ihre Haarstoppeln. »Außerdem war es eine gute Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass ihr vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommt.«

»Hast du nie darüber nachgedacht, dass eventuell mehr auf dieser Welt existiert, als das, was in der Bibel steht?« Jasons Gesicht zeigte tiefrote Flecken. »Ich weiß, dass ich mich verwandle. Es ist kein Albtraum. Es ist seit einem Jahr Realität. Und ob es in dein Weltbild passt oder nicht, es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als du jemals verstehen wirst.«

»Aus diesem Grund verließ ich auch die Mission. Der Häuptling widerlegte meine Theorien, und ich widerlegte seine. Die Azteken mögen in christlichen Augen Heiden sein, doch sie leben im Glauben an ihre Götter. Zum Schluss akzeptierten wir beide, dass der andere gläubig war. Jeder auf seine eigene Weise. Und ich erachte es als unchristlich, ihn mit Gewalt von meinem Gott zu überzeugen. Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter. Und natürlich glaube ich auch an Dinge, die ich nicht sehen kann. Daraus besteht der Glaube an Gott schließlich. Aber hier verlangt ihr einfach zu viel von mir!«

»Warum weigert sich dann dein Verstand, es einfach hinzunehmen?«, mischte sich Leandra ein. »Es ist wahr und es liegt nicht in unserer Macht, das zu ändern.«

»Weil es sich hier um meine Familie handelt!«, rief Brenda. »Darum!«

»Es handelt sich um unsere Familie«, fügte Leandra hinzu. »Denk darüber nach.«

»Selbst in der Bibel wird von anderen Göttern gesprochen.« Jason ging zu seiner Reisetasche und zog die Bibel heraus. An vielen Seiten waren gelbe Post-its angebracht. »Hier sieh es dir selbst an. Es fängt schon auf der ersten Seite an. Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei. Er sagt nicht: Ich werde Menschen machen, ein Bild, das mir gleich ist. Später heißt es Gott aller Götter. Du findest Hunderte von Beispielen darin. Deswegen steht darin auch, man solle keine anderen Götter neben ihm haben, keine anderen Götter anrufen.« Jason hielt Brenda die Bibel hin. »Es gibt andere Götter und irgendein Gott hat unserem gewaltig ins Handwerk gepfuscht!«

Brenda stand mit offenem Mund da und sah Jason entsetzt an. »Wie kannst du nur? Seit wann zweifelst du an Gottes Wort.«

»Seitdem ich mich, verdammt noch mal, in einen Panther verwandelt habe!« Jason sank kraftlos in einen Sessel und griff nach einem Sandwich, um es kurz darauf wieder auf den Teller fallen zu lassen. »Soll ich dir was sagen, Tante Brenda? Es ist mir zwischenzeitlich egal, wie viele Götter es gibt. Es soll einfach nur aufhören. Ich will wieder normal sein.«

Romina legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist schwer. Am Anfang. Du wirst dich daran gewöhnen. Wir suchen immer noch nach dem Ursprung. Irgendwann kommen wir dahinter. Glaub mir. Ich habe euch doch von Naomi erzählt. Sie forscht unermüdlich nach dem ersten Clanmitglied. Es fehlt nicht mehr viel. Naomi hat in Dorotheas Unterlagen Hinweise gefunden. Sie führen nach Mexiko. Zumindest geschichtlich. Sie glaubt, eine Verbindung zwischen Dorotheas Eltern und Martín Cortés gefunden zu haben. Es gibt Dokumente, die Dorothea aus Mexiko mitbrachte. Der Hinweis auf Martín Cortés war auf einem Infoheft des Nationalmuseums von Mexico City notiert und auch eine Wortkombination, über die wir noch keine Informationen haben. Jag War

»Der im Fliegen jagt«, flüsterte Brenda. Sie hielt sich die Ohren zu, als hätte jemand laut geflucht.

»Was?«, fragte Leandra.

Brenda schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Unmöglich.«

Alle im Raum starrten Brenda an. Leandra schluckte mehrfach, bevor sie ihre Sprache wiederfand. »Was weißt du darüber?«

»Hoffentlich gibt es hier eine Minibar.« Brenda sah sich suchend um.

Jason erhob sich. »Du trinkst doch nie.«

»Heute schon. Sieh nach, was da ist. Noch besser, bring mit, was du finden kannst.«

Jason brachte drei kleine Wodkaflaschen, drei Whiskyflaschen und stellte sie neben die Coladosen.

Brenda schraubte eine Wodkaflasche auf, setzte sie an die Lippen und leerte sie in einem Zug.

Romina wippte mit dem Fuß. »Jetzt sprich endlich.«

»Es ist ...« Aus Brendas Gesicht war jegliche Farbe gewichen. »Ich kann nicht.«

Jason trat zu seiner Tante, ging in die Knie und drückte ihre Hand. »Was hast du?«

Brenda griff nach einer weiteren Wodkaflasche und drehte sie in Händen. Ihre Augen waren starr auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet. Fast so, als blickte sie in die Vergangenheit. »Vor vielen Jahren, nachdem ich in der Missionsstation Náhuatl, die Sprache der Einheimischen, erlernt, und mich mit deren Glauben auseinandergesetzt habe, begann ich irgendwann zu zweifeln. Ich zweifelte an Gott, versteht ihr? Es gab viele unerklärliche Dinge, die die Einheimischen mit Gleichnissen zu ihren Göttern erklärten und worüber ich keine Erklärungen in der Bibel finden konnte. Ich stärkte meinen Glauben, indem ich lange Pilgerungen durch den Dschungel machte, wo ich betete und von Stamm zu Stamm zog, bis ich eines Tages beinahe das Opfer eines Jaguars geworden wäre. Das Tier stand auf einem Ast über mir und fauchte. Ein Geräusch, was mir heute noch das Blut stocken lässt. Bis heute begreife ich nicht, wie der Häuptlingssohn in der Lage gewesen war, das Raubtier ohne Hilfsmittel zu verjagen. Er hat ihn nur angesehen. Eigentlich schien es fast, als würde er dem Tier seinen Willen aufdrängen. Letztlich erklärte mir der Häuptlingssohn, er habe dem Gefährten der Götter offenbart, dass ich eine Seelenbegleiterin sei.« Brenda öffnete die zweite Flasche und trank einen Schluck. »Ich dankte Gott für die glückliche Fügung und zog daraus die Lehre, niemals mehr auch nur kurze Wege allein durch den Dschungel zu gehen. Deswegen kenne ich die Bezeichnung Jag War. Die Erklärung des Häuptlingssohns hörte ich mir ebenso an, wie die Geschichten seines Vaters. Nopaltzin. Der Häuptling, mit dem ich mehrere Jahre in Mexiko zu tun hatte, sprach nach meinem Erlebnis ebenfalls über Tepeyollotl, der im allgemeinen Volksmund der unterschiedlichen Stämme als Jag War bekannt ist. Der Jaguar wurde von allen Stämmen verehrt, den Tolteken, den Maya und auch von den Azteken. Der Jaguar wacht über die Energien des Mayakalenders, der später von den Azteken übernommen wurde, und symbolisiert die Macht von Tezcatlipoca, dem rauchenden Spiegel, dem höchsten Gott der Azteken. Es heißt, wer in die reflektierenden Augen eines Jaguars blickt, erkennt darin seine Gegenwart und seine Zukunft.« Brenda seufzte. »Er erklärte mir, ich hätte in die Augen des Jaguars geblickt und hätte meine Zukunft erkennen müssen: wenn ich eine Wissende gewesen wäre.« Brenda machte eine kleine Pause und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Der Häuptling erzählte mir, wie der Jaguar zu Beginn der Zeitrechnung durch ein gewaltiges Feuer sprang und unverletzt das Flammenmeer verließ. Nur einige Brandflecke zeichneten sich auf seinem Fell ab. Aus diesem Grund erkennt man noch heute die Rosetten auf dem Fell eines Jaguars. Und die seltenere Gattung der Jaguare, der Panther, wird als höchste Macht von Tezcatlipoca bezeichnet. Der Panther brachte die Sonne und das Feuer und fügte die Schicksale des Universums. Die Olmeken glaubten sogar, ihr Volk sei aus der Verbindung eines Jaguars und einer Menschenfrau hervorgegangen. Bis heute gilt der Jaguar als Begleiter der verstorbenen Seelen.«

»Hübsche Geschichte. Und was soll das mit uns zu tun haben?«, fragte Romina, die nach einer Whiskyflasche griff.

»Als ich zurück nach San Antonio ging, prophezeite mir Nopaltzin, eines Tages würde ich verstehen und zurückkommen.« Brenda stand auf und ging im Raum auf und ab. »Er meinte, ich könnte nicht anders, da ich eine Seelenbegleiterin wäre und dies irgendwann erkennen würde.«

Romina schnappte nach Luft. »Willst du damit sagen, dieser Nopaltzin ahnte, dass sich Mitglieder unserer Familie in Panther verwandeln?«

»Ich weiß es nicht, wirklich nicht«, flüsterte Brenda und leerte die zweite Wodkaflasche.

»Dann sollten wir diesem Häuptling einen Besuch abstatten«, sagte Leandra. »Selbst wenn alles nur Hokuspokus ist, müssen wir es wenigstens versuchen.« Sie wandte sich an Brenda. »Und du wirst uns hinführen und übersetzen.«

Brenda schwieg.

»Wir sollten zu Nopaltzin gehen und ihn fragen, was seine Legenden über Jaguarmenschen sagen. Vielleicht erfahren wir durch ihn mehr.« Romina schnappte sich die nächste Whiskyflasche. »Das ist ein Plan nach meinem Geschmack!«

»Und wir kommen mit!«, rief Jason.

»Nichts dergleichen werdet ihr tun. Eure Eltern würden das niemals zulassen. Und ich auch nicht.« Mit einer unwirschen Handbewegung strich sich Brenda erneut über ihr Haar. »Ihr bleibt zu Hause und ich fahre mit, um zu übersetzen.« Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem kann ich kaum glauben, zu was ihr mich drängt.« Brenda sah von einem zum anderen. »Wann wollt ihr fliegen?«