Drei

Naomi entdeckte Romina und Iker in der Wartehalle, schüttelte ungläubig den Kopf und lächelte. Was Naomi ein Lächeln entlockte, war nicht die Wiedersehensfreude, sondern Rominas Aufmachung. Ihre Urgroßmutter hatte sich das Haar unter eine bunte Rastastrickmütze gesteckt und eilte Naomi in unförmigen Jeanshosen entgegen.

Grinsend sah ihr Iker nach.

Romina küsste Naomi auf die Wangen, bevor sie nach Kai griff, der zu greinen begann.

Roman schob den Gepäckwagen durch die automatische Tür und winkte Iker zu, der noch an der gleichen Stelle stand, wo Naomi beide entdeckt hatte. Iker ging zu ihm hinüber und begrüßte ihn mit einem freundschaftlichen Schulterklopfen.

»Warum denn die Maskerade?«, fragte Naomi.

Romina beugte sich zu Naomi. »Thursfield treibt sich vielleicht in Barcelona herum. Gesehen habe ich ihn zwar nicht, aber man kann nicht vorsichtig genug sein.« Sie knuddelte Kai, der zunehmend weinerlicher wurde.

»Gib ihn mir.« Naomi streckte die Hände aus. »Er ist müde und die Landung hat ihn geängstigt. Besser, er lernt dich nach seinem Mittagsschlaf kennen. Dann ist er ausgeschlafen und entspannt.«

Romina schob ihre Unterlippe nach vorn. »Ich habe mich so auf den Kleinen gefreut.«

»Er läuft dir ja nicht davon.« Naomi grinste. »Noch nicht.«

Doch Naomi verstand Romina sehr wohl. An den meisten Vollmonden war Romina entweder nach Deutschland gereist, um mir ihr zu trainieren, oder nach San Antonio, Texas, geflogen, um die neuen Familienmitglieder einzuweisen. Tagsüber hatte es nur während der Spaziergänge kurze Momente gegeben, wo sie ihren Ururenkel hatte sehen können. Ob es wirklich nur die natürliche Neugierde auf den Familiennachwuchs gewesen war, oder ob sie versucht hatte, etwas Ungewöhnliches an ihm zu entdecken, vermochte Naomi nicht einzuschätzen.

Obwohl Kai wieder in ihren Armen lag, begann er lauthals zu schreien. »Können wir los? Er gehört ins Bett. Mit etwas Glück schläft er während der Autofahrt ein.«

Iker, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat auf sie zu und begrüßte Naomi herzlich mit einem Kuss auf die Wange. Er legte den Kopf schief, blickte Kai aufmerksam an und strich ihm über das vom Weinen gerötete Gesicht.

Plötzlich verstummte Kai. Der Tränenstrom versiegte. Sogar ein zaghaftes Lächeln erschien auf seinem Gesichtchen.

»Wie zum Henker hast du das geschafft?«, fragte Romina mit gerunzelter Stirn.

Iker zwinkerte Naomi zu. »Zufall. Nichts weiter.«

Naomis Großonkel wusste offensichtlich ganz genau, wie er Kai beruhigt hatte. Sie würde ihn später danach fragen. Diesen Trick musste sie lernen.

 

*

 

Als der Wagen durch das Einfahrtstor über das Kiesbett rollte, betrachtete Naomi das Anwesen mit anderen Augen. Ab diesem Tag wäre es ihr neues Zuhause. In diesem atemberaubenden Gebäude sollten sie tatsächlich wohnen. Die bunten Fresken der Fassade musste sie sich unbedingt genauer ansehen. Bisher kannte sie in dem Haus nur das Erdgeschoss, und auch dort hatte sie nicht alle Räume betreten. Sie wusste nur, dass wenn sie in der Eingangshalle stand, links die Küche und das Esszimmer und rechts das Wohnzimmer und die Bibliothek lagen. Inmitten der Eingangslobby führten Treppenstufen in die oberen Etagen.

Im ersten Stockwerk hatte sie bisher nur das Schlafzimmer von Dorothea betreten, das jetzt ihres werden sollte. Darin hatte sie gelegen, als Roman ihre Verletzungen behandelt hatte. Sonst hatte man ihr nur den ehemaligen Bunker gezeigt, wo Romina die Einsatzzentrale mit den Dokumenten und den Stammbäumen verborgen hielt. Den Zugang verschloss ein Bücherregal, welches an die Bibliothek grenzte.

Weder war sie in den Garten spaziert, noch hatte sie durch die Fenster einen Blick nach draußen geworfen. Das alles wollte sie nun nachholen. Für Kai wäre es das Paradies. Bald würde er laufen und dann hätte er einen ganzen Spielplatz für sich. Das Grundstück war durch einen hohen Zaun vor neugierigen Blicken geschützt, und Kai könnte sich frei auf dem Gelände bewegen, ohne dass Gefahr bestünde, auf die Straße zu gelangen.

»Herzlich willkommen!« Iker hielt den Wagen an und lächelte.

»Vielen Dank für euer Angebot«, erwiderte Roman.

»Ach, so kommt endlich Leben ins Haus. Für meinen Geschmack ging es hier viel zu ruhig zu!« Romina hüpfte aus dem Fahrzeug und Naomi konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass Romina mit über neunzig Jahren umherhopste wie eine junge Frau.

Iker öffnete Naomi die Fahrzeugtür. »Seht euch in Ruhe um. Ich bin davon überzeugt, dass ihr euch hier wohlfühlen werdet.«

»Und wenn ihr die Möbel rauswerfen wollt, dann könnt ihr das gerne tun und euch neu einrichten. Dorothea kaufte gerne neue Möbelstücke und anderen Schnickschnack.« Romina flatterte aufgeregt hin und her. »Alles, was ihr nicht braucht, kann Roman mit Iker in den zweiten Stock schaffen. Dort gibt es einen Raum, in dem wir das Mobiliar einmotten. Von Dorothea stammt übrigens auch diese Rastamütze.«

Naomi warf einen Blick auf die rot, gelb und grün gemusterte Strickmütze und bemerkte, dass sie ihrer Urgroßmutter ganz hervorragend stand. Irgendwie würde es Naomi nicht wundern, wenn sie Romina eines Tages im Garten heimlich einen Joint rauchen sähe.

Iker schleppte bereits zwei Koffer in die erste Etage. Roman folgte ihm mit den restlichen Gepäckstücken, während Romina den Kinderwagen aus dem Kofferraum zog.

»Den Buggy lassen wir am besten gleich unten neben der Küche stehen.« Sie schob ihn ins Innere.

Für einen Moment verharrte Naomi vor der Eingangstür. Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. Was für ein Haufen! Vielleicht hätten sie doch viel Spaß miteinander. Eine junge Hippie-Urgroßmutter, ein Gedanken lesender Onkel, der es vermochte, Kai auf wundersame Weise zu beruhigen und Roman, der Einzige, der ihr normal erschien in diesem Haus. »Und was ist mit uns beiden?«, flüsterte sie Kai zu, der immer noch in ihren Armen schlief. »Als gewöhnlich sollte ich uns auch nicht bezeichnen.« Sie drückte ihn an sich. »Dann wollen wir uns mal unser neues Zuhause ansehen.«

Mit Kai auf dem Arm ging sie in den ersten Stock hinauf. Ein Gefühl der Trauer überwältigte sie plötzlich. Bis vor wenigen Monaten hatte Dorothea in diesen Zimmern gelebt. Nun sollte sie diesen Räumen ihren eigenen Stempel aufdrücken. Irgendwie kam ihr das falsch vor.

Romina lugte aus dem Schlafzimmer. »Komm doch endlich.«

Sie musste Naomis Zögern richtig gedeutet haben, denn sie warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. »Dorothea wäre glücklich, dass ihr nun hier wohnt. Bisher habe ich nur ihre Kleidung nach oben gepackt. Ich dachte, vielleicht möchtest du ihre restlichen Sachen durchsehen. Dadurch lernst du sie besser kennen. Wir können das aber auch gemeinsam angehen. Alles, was du nicht in der Wohnung unterbringen willst, packst du in Kisten und ich sortiere dann nochmals aus, was ich behalten will.«

Naomi presste die Lippen zusammen. Sie sollte in Dorotheas persönlichen Dingen schnüffeln? Andererseits musste immer ein Angehöriger die Hinterlassenschaft eines Verstorbenen aussortieren. Warum also nicht sie? Vielleicht gab es Fotos oder Briefe, die ihr Dorothea näher brächten. »Okay. Ich sehe die Sachen durch.«

»Und jetzt komm schon. Ich habe eine Überraschung für euch! Wir haben nämlich umgebaut.« Romina öffnete die erste Tür, die vom Hauptschlafzimmer abging.

Naomi betrat einen Raum, vollgestopft mit Kommoden, Sesseln und Sofas.

»Das sieht wilder aus, als es ist. Das haben wir nur alles zusammengeschoben.« Mit stolzer Miene ging sie weiter. »Eigentlich war das hier das Wohnzimmer, aber nachdem es so groß war und ihr ein Kinderzimmer benötigt, hat Iker hier eine dünne Zwischenwand eingezogen und zwei Verbindungstüren gesetzt. Die andere führt in euer Schlafzimmer.

Die Tür schwang auf und Naomi sah ein liebvoll eingerichtetes Kinderzimmer. Hellblau gestrichene Wände; darauf handgemalte weiße Wolken, ein neu verlegter Teppichboden mit hohem Flor und ein Kinderbettchen, in Form eines Formel-1-Rennwagens. Neben dem Bett stand eine Wiege aus dunklem Holz. Sie schien sehr alt zu sein. Aus dem gleichen Material und mit buschiger Mähne wartete ein Schaukelpferd in einer Zimmerecke auf seinen Reiter. »Und? Was sagt du?«

»Was ich sage?«, fragte Roman, der hinter Naomi den Kopf durch den Türrahmen streckte. »Dass es sich hierbei wohl um mein Zimmer handeln muss.« Er grinste breit und sah sich nach Iker um.

»Es ist ein Traum«, beantwortete Naomi Rominas Frage, ging zur Wiege und legte Kai auf die himmelblauen Kissen. Er schlief immer noch.

Naomi drehte sich zu Romina und fiel ihr um den Hals. »Vielen Dank. Es ist wunderschön.«

»Ja. Das ist es wirklich. Hat Iker auch die Wiege gezimmert?«, wollte Roman wissen.

»Nein«, sagte Iker. »Vor einer Ewigkeit war das mal meine Wiege und auch mein Schaukelpferd. Das Holz musste nur neu eingelassen werden. Endlich kommt es wieder zum Einsatz.« Er nahm Romina am Arm. »Wir beide bereiten nun das Abendessen vor. Packt in Ruhe aus. In drei Stunden gibt es Essen.«

Nachdem Iker und Romina die Wohnung verlassen hatten, sah sich Roman in Kais neuem Reich um. »Das ist doch was ganz anderes, als dein altes Jugendzimmer.«

Naomi nickte. Ihr hatte es immer noch die Sprache verschlagen. Liebevoll strich sie über die hölzerne Oberfläche der Kommoden. Der Blick aus dem Fenster ging in den Garten hinaus. Man sah nur Rasenflächen, Bäume und den Himmel dazwischen.

Hand in Hand schlenderten sie durch ihr eigenes Schlafzimmer mit separatem Badezimmer. Eine weitere Tür führte ins Wohnzimmer, und hinter den zusammengeschobenen Möbeln verbarg sich eine weitere Tür. Sie quetschten sich durch die Möbelstücke und drückten die Türklinke hinunter. In diesem Raum befand sich eine kleine Küche. Und bis auf die Küche verfügte jedes Zimmer über einen Zutritt zum Balkon.

Naomi strahlte. »Unsere erste Wohnung.« Sie warf sich in Romans Arme und küsste ihn. »Ich fasse es nicht! Kannst du mir erklären, warum ich mich so lange dagegen gewehrt habe?«

»Weil du einen unverbesserlichen Dickkopf hast. Deswegen.« Roman drückte sie nochmals kurz an sich. »Du packst aus, und ich schiebe die Sessel zur Seite, damit wir in die Küche kommen. Anschließend entscheiden wir, was wir wohin stellen wollen. Ist das ein guter Plan?«

Naomi nickte. »Das ist ein perfekter Plan.«

Vom Schlafzimmer aus hörte sie, wie Roman die Möbel verrückte.

Nachdem sie ihren Koffer geöffnet hatte, sah sie sich um. Ein in die Wand eingelassener Kleiderschrank, zwei Kommoden und jeweils ein Nachttisch, mehr Möbel standen nicht im Zimmer. In dem Abstellraum für Möbel gäbe es mit Sicherheit weitere Kommoden, sollte sie nicht alle ihre Sachen unterbringen.

Immer wieder hielt Naomi inne und lauschte ins Kinderzimmer. Obwohl Roman einen Riesenkrach veranstaltete, schien Kai friedlich zu schlafen. Trotzdem warf sie noch einen Blick durch die Verbindungstür.

Nichts regte sich.

Naomi hängte Hosen, Blusen, Hemden und Sweatshirts in den Schrank, den Rest verstaute sie in den Schubladen und im Badezimmer. Kais Spielsachen, die Strampler und Mützchen legte sie auf den Teppichboden seines Zimmers. Die würde sie später wegpacken.

Ihre Schuhe stellte sie auf den Boden des Kleiderschranks. Die beiden Gepäckstücke wollte sie unters Bett packen und später mit den überflüssigen Möbelstücken aus dem Wohnzimmer ins Obergeschoss bringen. Sie schlug die Tagesdecke zurück und schob den Koffer zur Hälfte darunter, bis sie einen Widerstand spürte.

Etwas lag unter dem Bett.

Mit einem kräftigen Ruck zog sie ihn wieder hervor. Auf dem Fußboden liegend schielte sie ins trübe Licht und entdeckte eine Box oder einen Karton. Sie streckte den Arm aus und konnte den Gegenstand beinahe berühren.

Von dieser Seite aus würde sie es nicht schaffen die Kiste herauszuziehen. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Sie drehte sich um, legte sich auf den Boden und schob ihre Beine unter das Bett, bis sich der Gegenstand bewegte und sich näher zur anderen Seite schieben ließ. Als sie die Kiste nur noch mit ihren Zehenspitzen erreichte, kroch sie um das Bettgestell herum zur gegenüberliegenden Bettseite. Nun vermochte sie, die Schachtel problemlos mit beiden Händen zu fassen und zu sich zu ziehen.

Ein bunt beklebter Karton. Die aufgeklebten Bilder schienen alt zu sein. Sie waren zum Teil in Schwarz-Weiß gehalten. Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften überlappten sich. Der aufgetragene Klebstoff hatte die Oberfläche gehärtet, und der Deckel wirkte wie aus Plastik, obwohl es sich nur um einen gewöhnlichen Pappkarton handelte. Er maß mehr als ein Schuhkarton; vielleicht eine alte Hutschachtel.

Naomi wischte behutsam den Staub ab. Offensichtlich hatte schon lange niemand mehr diese Schachtel unter dem Bett hervorgeholt.

Ob sie Dorothea gehörte?

Doch warum sollte sie ein Paket so hübsch verzieren, um es anschließend achtlos unter dem Bett zu verstauen? In ihrem Magen kribbelte es, als sie den Deckel anhob. Er klemmte und ließ sich nur langsam hochziehen.

Naomis Nackenhaare stellten sich auf, als würde sie etwas Verbotenes tun; etwas entdecken, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Sie überlegte kurz, ob sie Romina dazurufen sollte.

Doch der Deckel löste sich von der Schachtel, was sie Romina vergessen ließ.

Papiere, Fotos und Zeichnungen lagen darin. Zögernd entnahm sie ein Foto. Dorothea war darauf zu sehen. Hinter ihr ragte der Eiffelturm in den Himmel. Auf der Rückseite stand Paris 1972.

»Warum sitzt du denn auf dem Boden? Die Fliesen müssen eiskalt sein.«

Naomi erschrak, fuhr in die Höhe und schlug gleichzeitig den Deckel zu, der nun schief auf der Schachtel lag. »Mensch, musst du dich so anschleichen?«

»Was heißt hier anschleichen? Ich habe dich drei Mal gerufen, und als ich nichts hörte, dachte ich, du schläfst einfach und lässt mich alleine schuften.« Er beugte sich zu ihr. »Was hast du da?«

»Nur ein Paket mit alten Fotos und Zeitungsausschnitten.« Sie reichte ihm die Aufnahme. »Das Bild ist vierzig Jahre alt und Dorothea hat sich bis zu ihrem Tod überhaupt nicht verändert, oder?«

Roman setzte sich aufs Bett und betrachtete die Fotografie. »Du vergisst etwas, Schatz. Ich habe Dorothea nie kennengelernt.« Er hielt die Aufnahme dicht vor seine Augen. »Sie muss eine gut aussehende Frau gewesen sein, auch wenn das Tuch die Hälfte ihres Gesichts verdeckt.«

»Ich habe dir doch erzählt, dass eine ihrer Gesichtshälften durch eine Brandnarbe entstellt war und sie sich deswegen geschämt hatte. Sie war es leid, immer von den Leuten angestarrt zu werden. Nur im Haus lief Dorothea ohne Tuch herum.« Naomi schob die Kiste in eine Ecke. Sie wollte sich den restlichen Inhalt später in Ruhe ansehen.

Roman zog sie auf die Beine. »Komm, ich warte auf Anweisungen, wie du die Möbel angeordnet haben willst. Mir würden eigentlich der Tisch und zwei der Fernsehsessel genügen.«

»Und du willst tatsächlich Dozent sein? Kein Schreibtisch? Kein Bücherregal?« Naomi schüttelte den Kopf und ging voraus ins Wohnzimmer.

Nach einer halben Stunde hatten sie die Möbelstücke zurechtgerückt. Als nicht mehr alles kreuz und quer in der Zimmermitte herumstand, wirkte der Raum, mit den an die Wand geschobenen Kommoden, dem antiken Schreibtisch und der Schrankwand sehr gemütlich. Zwei Ohrensessel und den niedrigen Holztisch hatten sie vor den offenen Kamin gerückt. Drei weitere Sessel wurden ausgemustert. Nur mit dem Sofa wussten sie nicht so recht was anzufangen. Es nahm einen Großteil des Raumes ein. Aber ohne ein bequemes Fernsehsofa wollten sie beide nicht sein; und dieses Sofa war bequem, wie Naomi feststellte, als sie sich in die Polster fallen ließ, die Beine auf den Tisch legte und die Augen schloss.

Die Pause währte nicht lange. Zwei Minuten später begann Kai zu weinen. Naomi stand auf und holte ihn aus der Wiege.

»Dann wollen wir dir mal ein Fläschchen aufwärmen.« Sie schnupperte an seinem Hintern. »Aber erst gibt es eine frische Windel, du kleiner Stinker.«

Wenig später gingen sie gemeinsam ins Erdgeschoss. Bereits auf der Treppe stieg Naomi ein verlockender Essensgeruch mit feinem Knoblauch in die Nase und ihr Magen knurrte laut. Nicht nur Kai wollte etwas zu essen.

Naomi hatte den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen. Am Morgen war sie wegen der Reise zu nervös gewesen, um etwas zu frühstücken. Später im Flugzeug hatte sie sich um Kai gekümmert, und seitdem sie im Haus angekommen waren, hatte sie keinen Appetit verspürt. Alles war viel zu neu und zu aufregend gewesen, um ans Essen zu denken.

Iker linste aus der Küche. »Da seid ihr ja. Ich wollte gerade Pilar hochschicken, um euch zu holen. In fünf Minuten geht´s los. Setzt euch doch schon ins Esszimmer.«

»Erst muss jemand anders versorgt werden. Roman, kümmerst du dich bitte ums Fläschchen?« Naomi setzte sich an den Küchentisch. »Ich habe die Hände voll.« Sie grinste ihn an. Normalerweise handelte es sich bei dieser Aussage immer um Romans Vorwand, um mit Kai spielen zu können, während sie die Essensvorbereitung übernahm.

»Dieses Mal hast du mich ausgetrickst.« Er ging zum Kühlschrank, holte die Babymilch heraus und stellte sie in einen Topf mit Wasser, um sie zu erwärmen. »Gleich morgen besorgen wir einen Hochstuhl. Dann gibt es keine billigen Ausreden mehr.«

Romina betrat die Küche. »Ein Hochstuhl? Der steht im Esszimmer, inklusive Babyset. Oben in der Möbelkammer befindet sich noch einer. Holt ihn herunter, dann habt ihr in eurer Wohnung auch einen.« Sie streckte die Arme aus und hob Kai hoch. »So mein Kleiner. Komm zu Omi!«

Naomi beobachtete, wie Kais Augen immer größer wurden, sich sein Kinn in dicke Falten legte, bevor es unkontrolliert zu zucken begann und er losschrie.

»Ach, wer wird denn ...« Romina schaukelte ihn beruhigend hin und her, was Kai zu weiteren Arien veranlasste. »Schschtt. Ist ja alles gut.«

Naomi war im Begriff Romina das verängstigte Kind abzunehmen, doch ihre Urgroßmutter schmunzelte nur.

»Er wird sich schon an mich gewöhnen.« Sie sah Kai an. »Nicht wahr?«

Iker wischte sich die Hände ab und eilte auf die beiden zu. Er streichelte Kai über das Köpfchen und legte, wie schon am Flughafen, seinen Kopf schräg. Augenblicklich verstummte das Geschrei und Kai lächelte schief.

»Du redest mit ihm, stimmt´s?«, fragte Naomi.

Iker zuckte die Schultern. »Tagelang habe ich darüber nachgedacht, ab wann wir durch unsere Gedanken miteinander kommunizieren können. Nur weil er noch nicht sprechen kann, bedeutet das nicht, dass er nicht laut denkt, wenn er uns etwas mitteilen will.« Iker wandte sich wieder den Töpfen zu.

»Kannst du seine Gedanken auffangen?«, fragte Naomi aufgeregt. »Er versteht dich?«

Romina starrte Iker an.

»Nein. Ich empfange nur Schwingungen. Die dafür aber sehr kräftig. Und ob er mich schon verstehen kann?« Er hob zaghaft die Schultern. »Vermutlich nicht, auch wenn ich in der Lage bin, ihn durch meine Gedanken zu beruhigen.«

Roman hielt die Babyflasche in der Hand und sah ungläubig in die Runde. Geistesabwesend testete er die Temperatur der Milch auf seinem Handgelenk, bevor er die Flasche Romina reichte, Kai am Bauch kitzelte und ihm zuflüsterte. »Willkommen in der Addams Family, mein Kleiner.«

Romina lachte herzhaft. »So muss es dir tatsächlich vorkommen. Aber bis auf die kleinen Ausnahmen ticken wir alle ganz normal.«

Iker grinste plötzlich, was Naomis Neugierde weckte, da sie Romans Kommentar nicht gehört hatte. »Was ist los?«

»Roman hat uns eben mit der Addams Family verglichen«, prustete Iker, während er die Kartoffeln in eine Schüssel gab. »Über die Rollenverteilung reden wir dann beim Essen.«

Nachdem Naomi die Serie nie gesehen hatte, wusste sie nur, dass jede Menge schräger Figuren in dieser Familienserie mitspielten. Um das nächste Mal mitreden zu können, beschloss sie, sich im Internet über die Fernsehserie zu informieren.

Pilar trat in dem Moment aus ihrem Zimmer, als Roman in Richtung Esszimmer ging. Sie fiel ihm herzlich um den Hals, küsste ihn rechts und links auf die Wange und strahlte ihn an. Naomi kam in genau diesem Augenblick aus der Küche, um den Ausbruch an Freude zu beobachten.

Pilar sah sie an, ließ umgehend ihre Arme sinken und begrüßte sie ebenfalls; nur deutlich kühler. Die Art, wie Pilar Roman ansah, missfiel Naomi. Obwohl Pilar ihn zuletzt vor einem halben Jahr gesehen hatte, hegte Naomi den Verdacht, dass sie Roman nicht vergessen hatte.

Auch wenn sich Pilar während des Abendessens zu bemühen schien, ihre Gefühle für Roman vor allen zu verbergen, ertappte Naomi sie regelmäßig dabei, wie deren sehnsüchtiger Blick Romans suchte, sobald sie sich unbeobachtet glaubte.

Roman schien nichts zu bemerken. Er plauderte und scherzte mit Iker und Pilar. Auch Romina fiel es offenbar nicht auf, zumal sie sich ausschließlich um ihren Ururenkel kümmerte, der jetzt lieber auf ihrem Schoß als im Babystuhl saß.

Naomi beschloss, bei Gelegenheit mit Iker darüber zu sprechen. Er wusste, was in Pilar vorging, zumindest hatte er einen gewissen Einblick. Ärger und Streit zu suchen, war das Letzte, was sie wollte, wenn sie sich auch unsicher fühlte, ob es sich tatsächlich vermeiden ließe. Ein Gespräch mit Roman könnte sie später führen, sollte sich ihr Verdacht bestätigen. Wie sie ihn kannte, würde er sie sowieso nur auslachen.

Während Romina, Kai, Roman und Pilar ins Wohnzimmer umzogen, bot Naomi Iker an, ihm mit dem Abräumen des Geschirrs behilflich zu sein.

Die Teller und das Besteck stellte sie direkt in die Spülmaschine, die Schüsseln auf die Spüle zu den schmutzigen Töpfen und Pfannen. Sie ließ Wasser ein, gab Spülmittel dazu und begann zu schrubben.

Iker stand in ihrem Rücken und legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Also, was gibt es? Du willst mit mir reden.« Iker trat zurück, lehnte sich an den Kühlschrank und sah sie auffordernd an. »Geht es um Pilar?«

»Ja, es geht um Pilar.« Naomi stellte die Kartoffelschüssel auf das Abtropfgitter. »Sie ist in Roman verliebt und das macht Pilar für mich zu einem Problem, mit dem ich mich nicht herumärgern will. Wir haben zwar unsere eigene Wohnung, aber trotzdem werden die beiden ständig aufeinandertreffen.«

»Traust du Roman nicht?«, fragte Iker.

»Ich traue Pilar nicht. Was geht in ihrem Kopf vor?« Mit Schwung ließ sie einen Topf ins Wasser plumpsen und wandte sich wieder Iker zu. »Wie muss ich sie einschätzen? Wie soll ich mir ihr umgehen? Und warum sucht sie sich nicht einfach jemand anderen?«

»Pilar hat gelernt, eine Schutzwand aufzubauen. Sie denkt nicht mehr so laut wie früher, also fange ich nicht alles auf, was ihr durch den Kopf geht. Aber du hast recht. Sie liebt Roman noch immer. Ob das ein Grund ist, ihr zu misstrauen, weiß ich beim besten Willen nicht. Sie ist froh, bei uns zu sein, endlich jemanden zu haben, der ihr Schutz bietet und eine Gemeinschaft. Aber sie ist, wie wir alle, dazu verdammt, sich nur ein einziges Mal zu verlieben, und wenn ihre große Liebe Roman ist, dann kann sie das nicht einfach abschalten. Sie muss damit leben. Und du musst damit leben. Versucht also beide damit klarzukommen.«

»Als ob das unter einem Dach so einfach wäre. Unmöglich. Ich erinnere mich sehr deutlich, wie es mich innerlich zerrissen hat, als ich Roman aufgeben musste. Ähnlich muss es Pilar jetzt gehen. Irgendwann wird sie durchdrehen.« Naomi wandte sich ab und begann den Topf zu schrubben. »Und ich werde mir die Schuld geben, weil wir bei euch eingezogen sind.«

»Hey.« Iker legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich bin auch noch da, vergessen? Ich achte darauf, ob sich Pilar verändert, was sie denkt und was sie tut. Keine Sorge. Glaubst du etwa, Romina und ich hätten nicht darüber nachgedacht?«

Aus dem Wohnzimmer hörte Naomi muntere Stimmen und Pilars Lachen. Ihr stand in diesem Moment nicht der Sinn nach Gesellschaft. Sie bevorzugte es, Pilar an diesem Abend nicht mehr über den Weg zu laufen. »Dann geh hinüber ins Wohnzimmer und fang gleich damit an.«

Iker schüttelte den Kopf, drehte sich um und verließ wortlos die Küche. Irgendwie beruhigte sie Ikers Erklärung nicht. Er konnte Pilar allenfalls zum Teil kontrollieren, aber nicht immer und mit Sicherheit nicht überall. Das vermochte niemand. Und genau das ängstigte sie. Sie musste Pilar im Auge behalten; und sie musste mit Roman reden.

Ihre Angst und ihre Wut tobte sie an den schmutzigen Töpfen aus.

War sie eifersüchtig? Nein. Es fühlte sich anders an. Bedrohlich. Trotz Ikers Worten ließ das beklemmende Drücken in ihrer Brust nicht nach.

Nachdem sie den letzten Kochtopf abgetrocknet hatte, trottete sie in Richtung Wohnzimmer. Einige Schritte vor der Tür blieb sie stehen. Sie wollte allein sein. Doch die Höflichkeit verlangte es, dass sie wenigstens allen eine Gute Nacht wünschte, auch wenn sie sich viel lieber still und heimlich in ihre neue Wohnung verzogen hätte. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, trat sie ein und verabschiedete sich mit den Worten, sie sei müde von der Reise und gehe ins Bett.

 

In ihrem Schlafzimmer ging Naomi zum Fenster, öffnete es und sog die frische Luft in ihre Lungen. Die Sonne stand tief am Himmel und die Bäume warfen lange Schatten auf die Rasenfläche. Sie überlegte, was sie zu Roman sagen sollte. Dass Pilar ihn anstrahlte und ihrem Blick auswich? Dass ihr Pilars Gesichtsausdruck nicht gefiel, wenn sie Kai ansah? Egal, was sie ihm sagte, es würde sich anhören, als wäre sie eifersüchtig.

Pilar liebte Roman immer noch, und daran würde sich nichts ändern. Das zeigte die Vergangenheit. Nur, warum mussten sie unter einem Dach leben? Das verkomplizierte alles. Sie käme nie über die Niederlage hinweg, wenn sie Roman ständig sehen würde. Am liebsten würde sie Pilar aus dem Haus wissen. Aber das wäre ungerecht. Keiner aus ihrer Familie verwandelte sich, und ohne die Unterstützung des Clans wäre die Gefahr zu groß, dass sich Pilar wieder mit ihren Feinden zusammenschloss, nur um nicht mehr alleine zu sein. Im Grunde wusste Naomi, dass die Entscheidung, sie hier wohnen zu lassen, die einzige Möglichkeit war, sie unter Kontrolle zu halten, bis sie gefestigt genug wäre, ihr eigenes Leben zu meistern.

Naomi legte sich auf ihr Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.

Gleich am nächsten Tag würde sie Karsten und Alice anrufen. Der Gedanke, die beiden wiederzusehen, munterte sie etwas auf. In zwei Tagen startete der Spanischunterricht, und Karsten und Alice hatten angeboten, ihnen zu helfen. Alice konnte Roman die Grammatik auf Englisch erklären, und Karsten würde ihr die Unterschiede auf Deutsch beibringen. Die Privatlehrerin sprach ausschließlich Spanisch, wovor Naomi bereits graute. Sie war Romina dankbar für den Privatunterricht, doch bei fünf Stunden Unterricht pro Tag konnte man nicht von einem leichten Programm sprechen. Da würde ihr Sporttraining zu kurz kommen, selbst wenn Iker sich bereit erklärte, sich den ganzen Tag um Kai zu kümmern.

Das Herbstsemester begänne in vier Monaten. Bis dahin musste sie in der Lage sein, den Vorlesungen zu folgen. Naomi versuchte sich auszurechnen, wie viele Unterrichtsstunden sie bis dahin absolviert hätte; und schlief über diesem Gedanken ein.

 

Als Naomi erwachte, hörte sie neben sich Romans gleichmäßige Atemzüge. Er hatte sie nicht geweckt. Bekleidet lag sie auf dem Bett, eine Wolldecke über sich ausgebreitet. Die Schuhe hatte er ihr ausgezogen, ohne dass sie es bemerkt hatte.

Vorsichtig stand sie auf und schlich im Dunkeln ins Badezimmer, um sich ihren Jogginganzug anzuziehen. Sie blickte auf die Uhr. Fünf Uhr dreißig. Am Vorabend war sie um zwanzig Uhr fünfzehn auf ihr Zimmer gegangen und kurz darauf eingeschlafen. Kein Wunder fühlte sie sich ausgeschlafen.

Auf Zehenspitzen tapste sie zu Kai und lächelte, als sie sah, wie zufrieden er in seinem neuen Bettchen schlummerte. Die Arme und Beine von sich gestreckt, lag er auf dem Rücken. Den ausgespuckten Babyschnuller wischte sie sorgfältig ab, bevor sie ihn Kai wieder in den Mund steckte. Sollte er aufwachen, würde er wenigstens nicht gleich zu weinen beginnen, weil er seinen Schnuller vermisste.

Naomi huschte durch die Verbindungstür ins Wohnzimmer und sah sich im Raum um. Was sollte sie um diese Uhrzeit tun? Aufräumen würde zu viel Lärm verursachen, und sie wollte weder Kai noch Roman aufwecken. Lesen wäre eine Option, doch die wenigen Bücher, die in den Bücherregalen standen, waren in spanischer Schrift geschrieben, und sie selbst hatte vergessen, welche einzupacken.

Lesen schied also auch aus.

Dann fiel Naomi die Kiste ein. Lautlos glitt sie ins Schlafzimmer, schlich zur Zimmerecke, hob den Karton hoch und ging zurück ins Wohnzimmer, um die Schachtel auf dem Tisch abzustellen, bevor sie die Tür schloss und das Deckenlicht einschaltete.

Naomi zog den gesamten Inhalt heraus. Zunächst begann sie, die Zeitungsausschnitte, Fotografien und Informationsheftchen aus Museen getrennt zu stapeln. Die handschriftlichen Aufzeichnungen legte sie auf einen vierten Stapel.

Anschließend begutachtete sie die Zeitungsartikel.

Die Meisten handelten von Todesanzeigen, Geschäftsgründungen, Hochzeiten, Geburten und von ungelösten Todesfällen. Den Großteil der Namen kannte Naomi. Es betraf ihre Familie. Selbst eine Anzeige ihres verstorbenen Vaters lag dazwischen. Andere Namen sagten ihr nicht das Geringste.

Nachdem Dorothea auf der Rückseite eines Bildes Ort und Datum der Aufnahme vermerkt hatte, bemerkte sie, dass auch auf anderen Bildern stand, wo diese aufgenommen worden waren, und wer darauf zu sehen war.

Die Ausschnitte breitete sie chronologisch auf dem Tisch aus. Dann drehte sie den Stapel mit den Bildern um und versuchte, die Fotos anhand der Anmerkungen auf der rückwärtigen Seite zu sortieren. Je älter die Zeitungsanzeige, desto weniger Bildmaterial vermochte sie dieser Zeit zuzuordnen. Konzentriert arbeitete sie weiter, bis sie auf einer Aufnahme die Namen ihrer Eltern las.

Das Bild war ein Jahr nach deren Hochzeit gemacht worden. Luna musste zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihr schwanger gewesen sein. Ihre Finger begannen zu zittern und sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Ihre Wangen glühten.

Sie presste die Lippen fest aufeinander, bevor sie sich dazu durchrang, die Fotografie anzusehen. Ein junges Paar stand eng umschlungen vor dem Big Ben und sah sich strahlend an. Der Bauch ihrer Mutter wölbte sich deutlich unter ihrem geblümten Kleid. Sie musste unmittelbar vor der Geburt stehen.

Naomi schluckte und sah zur Zimmerdecke, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

Ein Foto ihres Vaters. Davon gab es nur wenige. Es existierten Hochzeitsbilder, einige, wo ihr Vater in Arbeitskleidung posierte, als er von der Arbeit nach Hause kam. Dieses Foto musste kurz vor seinem Tod entstanden sein, denn nach Aussage ihrer Mutter hatte er ihre Geburt nicht mehr erlebt.

Ob ihre Mutter dieses Foto jemals gesehen hatte?

Mit dem Handrücken wischte sich Naomi über die Wange. Das Bild schien von der Seite aufgenommen worden zu sein. Dorothea musste es heimlich geschossen haben, denn sie hatten sich niemals kennengelernt.

Nun liefen ihr die Tränen ungehindert übers Gesicht.

Naomi weinte um ihren Vater, dem sie nie begegnet war und um Dorothea, die in ihrer Einsamkeit unerkannt Fotos von ihrer Familie gemacht hatte, um wenigstens auf diese Weise Anteil an deren Leben zu nehmen.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, ging Naomi in die Küche und riss ein Blatt von der Küchenrolle, um sich die Nase zu putzen. Über dem Spülbecken wusch sie sich ihr Gesicht.

Mit aufgestützten Armen starrte sie ins Leere und verharrte, bis sie sich bereit fühlte, sich wieder mit Hilfe von Dorotheas Hinterlassenschaft auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit zu begeben.

Plötzlich ein Foto ihrer lachenden Eltern zu entdecken, hatte sie eiskalt erwischt. Das nächste Mal wäre sie besser vorbereitet.

Konzentriert sortierte Naomi weiter. Dieses Mal achtete sie darauf, nicht die Fotos zu betrachten, bevor sie nicht alles durchsortiert hatte und die chronologische Abfolge klar ersichtlich vor ihr lag.

Einige handschriftliche Skizzen ließen sich nicht zuordnen. Sie versuchte zu ergründen, worum es sich dabei handelte. Entfernt erinnerte es sie an den Stammbaum, den sie im geheimen Raum gesehen hatte. Aufgemalte Kästchen, Pfeile zeigten in verschiedene Richtungen, anderes wiederum war durchgestrichen. Es schien unmöglich, den Zweck dieser Diagramme zu deuten. Vielleicht ergäbe es einen Sinn, wenn sie die kompletten Aufzeichnungen durchgesehen hatte.

Nachdem sie die Unterlagen, so weit sie es vermochte, zugeordnet hatte, beschloss sie, Kaffee aufzusetzen und sich die ersten Ausschnitte anzusehen.

Während der Kaffee durch die Maschine gurgelte, überlegte sie, warum die Schachtel in Dorotheas Zimmer versteckt gewesen und sie nicht in dem Zimmer unter der Treppe war, wo alle Dokumente lagerten.

Romina hatte erzählt, dass Dorothea sie bei ihrem ersten Treffen gebeten hatte, nicht weiter in der Vergangenheit zu suchen, weil es dort nichts zu entdecken gäbe. Wenn Dorothea bewusst war, wie verzweifelt Romina nach Hinweisen suchte, warum hatte sie ihr die Ergebnisse ihrer eigenen Nachforschungen nicht gegeben?

Mit einem Becher Kaffee ging sie zurück ins Wohnzimmer. Sie trank einen Schluck, der ihr fast die Zunge verbrannte, doch die wärmende Flüssigkeit vertrieb das innere Frösteln, das sie verspürte.

Auf dem Schreibtisch lag ihre Notebook-Mappe, und darin befand sich ein Schreibblock. Einen Stift zog sie ebenfalls heraus. Ein zeitlicher Überblick würde ihr vielleicht helfen, die Namen und Daten besser zu verstehen.

Die erste Aufzeichnung begann im Jahr 1568 mit dem Namen Martín Cortés und Bernadina de Porras. Es handelte sich um den Ausschnitt einer spanischen Tageszeitung, der die Hochzeit des Paares verkündete. Dann existierten mehrere handschriftliche Notizen. Eine weckte Naomis Aufmerksamkeit. Auf einem vergilbten Zettel stand: Ana María, Francisco und Dorothea, Southampton, 1562.

Naomi schlug sich mit der Hand vor den Mund. Bei dem Paar musste sich um Dorotheas Eltern handeln. Hektisch suchte Naomi nach weiteren Informationen aus dieser Zeit.

Sie fand keine.

Woher stammten Ana María und Francisco?

Naomi sah sich die gesamten Unterlagen erneut durch. Und fand nichts.

Nur einen Zeitungsartikel über einen gewaltigen Brand, der ein halbes Dorf zerstört hatte. Konnte das ein Bericht über den schrecklichen Anschlag auf ihren Clan sein? Naomi versuchte, die alte Schrifttype zu entziffern. Die Anzahl der Todesopfer ließ sich nicht mehr erkennen und die Namen der Opfer standen nicht in diesem kurzen Artikel. Es musste sich um diese grausige Nacht handeln, in der Dorothea ihren Mann Paul und ihre ganze Familie verloren hatte.

Waren damals auch Dorotheas Eltern Francisco und Ana María ums Leben gekommen?

Vermutlich.

Naomi nippte erneut an der Tasse und verzog angewidert das Gesicht, als sie den kalt gewordenen Kaffee hinunterschluckte.

Cortés. Ein spanischer Name. Dorotheas Mutter musste demnach für ihre Hochzeit nach England gezogen sein, da die nächste Notiz über ihren weiteren Aufenthalt auf Southampton hinwies. Das erschien Naomi für die damalige Zeit merkwürdig. Ihres Wissens heiratete nur der Adel in andere Länder, aber vielleicht täuschte sich Naomi in diesem Punkt, und auch Geschäftsleute verheirateten ihre Töchter mit Männern aus anderen Ländern, um die Beziehungen zu stärken.

Womöglich wollte man Ana María aber auch nicht in der Familie wissen, weil sie anders gewesen war. Es lag nahe, dass sie ein Clanmitglied gewesen war, da jemand diese Gene an Dorothea vererbt haben musste. Hatte man Ana María deshalb außer Landes geschickt?

Wie gerne hätte Naomi jetzt Dorothea nach ihren Eltern gefragt.

In den weiteren Aufzeichnungen entdeckte Naomi nichts, was ihr weitergeholfen hätte.

Leider befand sich darunter auch kein Foto ihres Großvaters. Leandra hätte sich mit Sicherheit über eine Erinnerung gefreut.

Vermutlich lag Dorothea mit ihrer Annahme richtig, dass es keine Möglichkeit gab, die Verwandlung zu stoppen und ein normales Leben zu führen. Aus diesem Grund hatte sie ihr Schicksal akzeptiert, die Schachtel unter das Bett geschoben und sie dort vergessen.

Nachdem Naomi eine Weile auf die Unterlagen gestarrt hatte, erhob sie sich und holte sich einen frischen Kaffee.

Das Einzige, was noch zur Durchsicht blieb, waren Dorotheas persönliche Notizen und Grafiken, aus denen sie nicht schlau wurde. Viel gäbe es wahrscheinlich nicht zu entdecken, sonst lägen die Dokumente bereits in Rominas geheimem Zimmer bei den anderen Schriftstücken, die sie im Laufe der Jahrzehnte zusammengetragen hatten; und das war nicht der Fall.

Trotzdem sah sie die Seiten sorgfältig durch. Dorotheas Mutmaßungen, wer die Eltern von Ana María Montana gewesen sein könnten, reichten bis zur Idee, dass Ana María von Martín Cortés abstammte.

Naomi kramte weiter, doch fand sie nichts darüber, um wen es sich bei diesem Martín Cortés gehandelt haben könnte.

Dann entdeckte sie einen Kommentar neben Martíns Namen: Jag War. Keine Erklärung, was es bedeutete; kein Hinweis, was Dorothea damit ausdrücken wollte. Dick unterstrichen prangten diese fremden Worte neben dem Namen.

Naomi suchte, ob dieser Begriff nochmals in den Aufzeichnungen zu finden war.

Sie griff nach ihrer Kaffeetasse und blätterte die Informationsbroschüren durch. Es handelte sich um Informationen zu Museen in Dresden, Paris, Madrid und Mexico City.

Auf der Rückseite der Broschüre über das Museum in Mexiko las Naomi erneut den Kommentar: Jag War; daneben stand Seite 23.

Naomi schlug die umfangreiche Infobroschüre auf und las die angegebene Seite.

Enttäuscht registrierte sie, dass der Text nur die Eroberungsgeschichte Mexikos und einen kleinen Einblick in die Azteken- und Mayakultur behandelte. Auf dem nächsten Blatt war von Mayakodexen die Rede, die in mehreren Museen ausgestellt wurden.

Lustlos überflog sie den Inhalt, bis sie las, in welchen Museen die Schriftrollen untergebracht waren.

In Dresden, Paris, Madrid und Mexico City.

In den Städten, die Dorothea bereist und zu denen sie die Informationshefte aufbewahrt hatte. Es musste einen Zusammenhang geben. Warum sollte Dorothea sonst die Unterlagen zusammen mit Erinnerungsfotos und Zeitungsausschnitten aufgehoben haben?

Damals musste es für sie einen triftigen Grund gegeben haben, auch wenn es ihr später unwichtig vorgekommen war und sie es deshalb Romina gegenüber nicht erwähnt hatte. Es konnte unmöglich irrelevant sein, wenn sie dafür quer durch Europa und sogar nach Lateinamerika gereist war.

Die Frage war nur: Wonach suchte sie?

Nach weiteren Familienmitgliedern? Nach dem ersten Clanmitglied? Selbst wenn sie es gefunden hätte, was hätte es ihr genützt? Nichts. Es wäre längst tot und nicht mehr in der Lage überhaupt etwas zu erzählen.

Gähnend sank sie in die Polster zurück, legte die Beine auf die Armstützen und sah zum Fenster hinaus.

Nach dem Frühstück würde sie mit Romina den Inhalt der Schachtel besprechen. Vielleicht wusste sie doch etwas darüber.

Beim Gedanken an ein Brötchen knurrte ihr der Magen. Bevor sie ihren Kühlschrank oben nicht bestückt hatten, blieb ihr nichts weiter übrig als abzuwarten, bis die anderen aufstanden.

Naomi blickte zur Wanduhr. Kurz vor acht. Sie schlich zu Kai, um nach ihm zu sehen. Er schlief noch in derselben Stellung in seiner Wiege. Sollte er aufwachen, würde sich Roman um ihn kümmern können. In der Zwischenzeit wollte sie unten das Frühstück vorbereiten und nebenbei schon die erste Scheibe Toast verdrücken.

Wenig später wischte sie sich die Krümel von den Lippen. Der Tisch war gedeckt, Kaffeeduft zog durch das Erdgeschoss und Butter, Marmelade, Wurst und Käse waren auf Tellern angerichtet. Naomi widerstand der Versuchung, sich einen zweiten Toast zu gönnen.

Sie linste aus dem Esszimmer, als sie an der Haustür ein Geräusch vernahm und Romina entdeckte, die mit Tüten beladen zur Küche ging.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du auch schon auf den Beinen bist, wäre ich mitgekommen«, sagte sie. »Guten Morgen, Romina.«

»Guten Morgen.« Romina packte die Tüten aus. Frisches Obst, Gebäck, Fisch und Gemüse kamen zum Vorschein. »Das nächste Mal gerne. Ich gehe immer früh zum Markt. Dann sind die Touristen noch nicht unterwegs. In einer Stunde blockieren sie die Durchgänge, weil sie jeden einzelnen Stand fotografieren müssen.« Den Fisch und das Gemüse verstaute sie im Kühlschrank, während sie die Backwaren in einen Brotkorb gab.

Naomi schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. »Obstsalat zum Frühstück? Eine tolle Idee.«

»Ist mit dir alles okay? Du sahst gestern niedergeschlagen aus. Außerdem hast du dich gleich nach dem Essen verzogen.«

Naomi überging Rominas Frage, zog sich ein Schneidebrett heran und suchte in den Schubladen nach einem Messer. »Sagt dir Jag War etwas?«

Ihre Urgroßmutter pustete gerade in die Kaffeetasse, um sich nicht den Mund zu verbrennen und hielt mit gespitzten Lippen in der Bewegung inne. »Hm. Noch nie gehört. Klingt fast wie Jaguar. Warum fragst du?«

»Ich habe unter Dorotheas Bett eine Schachtel mit Fotos und Unterlagen gefunden. Dort standen die Worte auf einer Broschüre. Und du hast bestimmt noch nie etwas darüber gehört?«

Romina schüttelte den Kopf. »Dorothea war früher viel unterwegs. Immer auf der Suche nach unseren Vorfahren. Sie wollte das Rätsel um die Verwandlung lösen. Erst forschte sie in Asien, dann meinte sie, es könnte mit den Maya zusammenhängen, später verlegte sie ihre Recherche nach Europa. Doch wirklich herausgefunden hat sie nichts. Aus diesem Grund sagte sie zu mir, ich solle meine Suche einstellen. Es brächte nichts, außer, dass ich durch meine Nachforschungen die Lebenden vernachlässige.«

Naomi schnitt eine Banane in feine Scheiben. »Hat sie dir von Mexiko erzählt?«

»Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Was sollte sie dort gewollt haben?« Romina trank einen Schluck, stellte die Tasse ab und griff nach einem Apfel, um ihn klein zu schneiden. »Frag Iker danach. Mit ihm hat sie sich oft ausgetauscht. Allerdings vermute ich, dass er ebenso wenig darüber weiß, wie ich.«

»Deine Aufzeichnungen im Stammbaum beginnen erst mit Dorothea. Warum geht es nicht weiter zurück?«

»Weil damals alle umgekommen sind und Dorothea niemanden mehr über ihre Abstammung befragen konnte. Der Gemeindepfarrer muss die Unterlagen, die mit der Herkunft ihrer Familie zu tun hatten, aus den offiziellen Dokumenten gelöscht haben. Warum auch immer er so gehandelt hat, die Informationen sind verloren.« Romina sah sie eindringlich an. »Woher rühren deine Fragen eigentlich? Wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen.«

Naomi gab die Fruchtstücke in eine Schale und setzte sich anschließend auf die Anrichte, was ihr einen missbilligenden Blick von Romina einbrachte. »Weil ich eine Notiz über Dorotheas Eltern entdeckt habe. Es existiert auch ein Zeitungsartikel über die Hochzeit von Dorotheas Eltern. Leider gibt es keine Aufzeichnungen mehr über Dorotheas Mutter Ana María oder über weitere Geschwister von ihr. Nur eine These, von wem Ana María abstammen könnte.« Sie fischte nach ihrer Kaffeetasse. »Sagt dir der Name Martín Cortés was?«

»Cortés sagt mir natürlich etwas. Und das sollte es dir eigentlich auch. Was lernt ihr nur in der Schule?«

Naomi zuckte mit den Schultern. »Und?«

»Naja, der Name Martín sagt mir nicht wirklich was.« Romina setzte sich an den Küchentisch und quittierte Naomis spöttisches Prusten mit einem Kopfschütteln. »Aber Hernán Cortés ging als Eroberer Mexikos in die Geschichte ein.«

»Vielleicht gibt es dabei aber doch einen Zusammenhang. Warum sollte Dorothea nach Mexiko reisen, sich Dokumente zu Maya-Schriftrollen besorgen und dann noch den Namen Cortés aufschreiben?« Naomi rutschte von der Anrichte.

In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie war fest davon überzeugt, dass Dorothea nicht aus bloßer Neugierde in diese Richtung recherchiert hatte. »Nach dem Frühstück suche ich im Internet nach ihm. Wenn dieser Martín nicht zufällig nur denselben Nachnamen trug, dann finde ich auch etwas heraus.«

»Tu das. Früher gab es das Internet nicht und Dorothea hat mit ihren Nachforschungen schon vor über zwanzig Jahren aufgegeben. Vielleicht findest du ja tatsächlich was.« Romina stand auf. »Lass uns anfangen. Wer weiß, bis wann der Rest aus den Federn kriecht. Gegen zwei Uhr bin ich ins Bett und ich habe keinen Schimmer, wie lange die anderen noch zusammengesessen haben.« Sie schnappte sich die Obstschale und ging voran ins Esszimmer. »Solltest du etwas Neues herausfinden, dann können wir immer noch entscheiden, ob es sinnvoll ist, weitere Erkundigungen in diese Richtung einzuholen. Allzu große Hoffnungen solltest du dir aber nicht machen.«