Vier

Am späten Nachmittag saß Naomi zusammen mit Karsten in einem Straßencafé und freute sich, ihn für sich alleine zu haben. Alice wollte nach ihrer letzten Vorlesung dazustoßen, und Roman hatte es vorgezogen, mit Kai zu Hause zu bleiben. Er schien unter einem leichten Kater zu leiden, auch wenn er das nie zugeben würde. Seine Ausrede, er sei wegen des vergangenen Abends übermüdet und gönne ihr die freie Zeit mit ihren Freunden, kam ihr nur gelegen. Denn sobald sie ihren Sohn bei sich hatte, kreisten die Gespräche mehr um den Kleinen, als um die Dinge, die sie wirklich mit ihrem besten Freund besprechen wollte.

Sie unterhielten sich über die Privatlehrerin, die sie am kommenden Morgen zum ersten Mal unterrichten sollte und zudem brannte Naomi darauf zu erfahren, wie es Karsten ging.

Karsten erzählte, er sei mit Alice in eine größere Wohnung gezogen, weil es ihm auf Dauer in ihrem kleinen Nest zu eng geworden wäre, da man sich dort ständig über die Füße lief.

»Sag nicht, ihr habt schon die erste Krise«, sagte Naomi.

»Das nicht. Aber wenn ich lernen will, dann will sie fernsehen, oder andersherum. In einem Studio hat man einfach keine Freiräume, und die brauchen wir beide. Die Glotze steht im Schlafzimmer, damit herrscht wenigstens in einem Zimmer Ruhe.« Karsten trank sein Bier leer und bedeutete dem Kellner, ihm ein neues zu bringen. »Jetzt besteht die Möglichkeit auszuweichen, damit sich der andere nicht gestört fühlt.«

Naomi konnte das gut nachvollziehen. Auch wenn sie die erste Zeit mit Roman in ihrem Jugendzimmer genossen hatte, so war eine Wohnung mit mehreren Räumen eine große Erleichterung. Das hatte sie schon am Morgen festgestellt, als er noch geschlafen und sie in Dorotheas Schachtel hatte kramen können. Sie berichtete Karsten von ihrer Entdeckung.

Für einige Augenblicke schwieg er.

»Merkwürdig finde ich es schon, aber vielleicht hat sich Dorothea einfach nur verrannt und deswegen nichts weiter zu Romina gesagt.« Karsten kratzte sich am Kinn. »Da fällt mir gleich was ganz anderes ein. Gibt es Neuigkeiten von Sammy oder dem Anwalt?«

Naomi schüttelte den Kopf. Sammy blieb verschwunden. Ihre Urgroßmutter war, nachdem Pilar erklärt hatte, er müsse noch am Leben sein, direkt in die nächste Maschine nach Maine gestiegen, hatte jedoch keine Spur von ihm entdeckt. Selbst die örtlichen Zeitungsarchive hatte sie eingesehen und nirgendwo einen Bericht über einen tödlichen Unfall gefunden. Das Autowrack hatte noch an der Stelle gelegen, wo Sammys Wagen die Leitplanke durchbrochen hatte und die Steilküste hinabgestürzt war. Doch seine Leiche war nicht im Wageninneren gewesen.

Auch der junge Thursfield schien untergetaucht zu sein. Seit der Nacht im Wald war er offenbar nicht mehr in seiner Kanzlei aufgetaucht. Die Anwaltskanzlei wurde mittlerweile von deren Partnern betrieben, und auf Nachfrage hieß es nur, beide Thursfields seien verreist. Vor vier Wochen hatte Naomi das letzte Mal angerufen und noch immer war die Aussage, beide Anwälte befänden sich auf einer Geschäftsreise, doch die Kollegen seien in alle aktuellen Fälle eingearbeitet.

Aber Naomi wusste es besser. Der junge Thursfield erholte sich irgendwo von den Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte, und versteckte sich seither. Und Thursfield Senior würde nie wieder auftauchen, da er in jener Nacht getötet worden war.

»Beide sind wie vom Erdboden verschluckt. Sie planen etwas und davor fürchte ich mich.« Naomi stützte den Kopf in ihre Hände. »Eine andere Erklärung gibt es nicht. Sammy lässt sich nicht einfach so abschütteln, und der junge Thursfield denkt garantiert jeden Tag an mich, wenn er die Narben auf seiner Brust sieht. Wenn sie uns lange genug in Barcelona suchen, finden sie uns irgendwann. In Deutschland fühlte ich mich sicherer.«

Karsten schüttelte den Kopf. »Wirklich in Sicherheit seid ihr erst, wenn Sammy tot ist und dieser windige Schleimer von Anwalt sich alleine nicht mehr traut, etwas gegen euch zu unternehmen. Und keinen Tag früher. Wenn Sammy in jener Nacht im Wald aufgetaucht wäre, hättet ihr jetzt euren Frieden.«

»Wer sagt denn, dass es dann gut für uns ausgegangen wäre? Ob sich Pilar uns tatsächlich angeschlossen hätte, oder ob sie sich auf die Seite von Sammy geschlagen hätte, können wir nicht wissen. Ich traue ihr nicht.«

»Würde ich an deiner Stelle auch nicht. Sei vorsichtig und halte die Augen offen. Das mache ich seit damals automatisch, sobald ich einen Rotschopf entdecke.« Er ließ seinen Blick über die Straße schweifen. »Themawechsel. Alice kommt.«

Ihre Freundin fiel ihr in die Arme, küsste sie mehrfach auf die Wangen und ließ sich in einen der Stühle fallen. »Ich kann es noch gar nicht fassen, dass ihr nach Barcelona gezogen seid. Ich freue mich schon auf unsere erste gemeinsame Vorlesung.« Zwischenzeitlich hatte Alice ihr Sportstudium wieder aufgenommen, was ihre Eltern mit Freude bezahlten. Ohne deren Zuschuss wäre es ihr unmöglich, in Barcelona zu studieren, zumal Alice durch ihren Job als Fitnesstrainerin gerade so die Miete ihrer Wohnung bezahlen konnte. »Bis dahin sollten wir nur noch Spanisch sprechen, damit du schneller lernst.«

Naomi verzog das Gesicht.

Karsten prustete laut los. »Und das schlägst ausgerechnet du vor! Wie lange hast du dich geweigert, auch nur ins Kino zu gehen, wenn der Film in Spanisch lief?«

Alice boxte ihn liebevoll auf den Oberarm. »Jetzt übertreibst du aber gewaltig. Ich wollte nur nicht mit dir in Spanisch reden.«

Die Neckereien entlockten Naomi ein Lächeln. Ja, mit der Beziehung der beiden stand alles bestens.

Der Nachmittag verging wie im Flug und Naomi versprach beim Abschied, das nächste Mal ihre beiden Männer mitzubringen. »Wollt ihr euch am Wochenende unsere Wohnung ansehen? Ein echter Glücksgriff. Wirklich. Die Leute sind supernett. Ich kann´s immer noch nicht glauben, dass Roman zufällig über dieses Inserat gestolpert ist.« Das war zumindest die Ausrede für Alice. Sie sollte nichts über die Familienverbindung erfahren. Das gäbe nur unnötige Fragen. Die Wohnung sei als Studentenwohnung ausgeschrieben gewesen und Roman hätte die Anzeige im Internet entdeckt. Eine einfache und unkomplizierte Lüge. Nachdem die Verabredung für den kommenden Samstag getroffen war, verabschiedete sich Naomi von ihren Freunden und spazierte zur Bushaltestelle, um auf den nächsten Bus zu warten, der in ihr Wohnviertel fuhr.

 

*

 

Nach einer schlaflosen Nacht quälte sich Naomi aus den Federn. Die halbe Nacht hatte sie darüber nachgedacht, wie sie Dorotheas Recherche im Internet abgleichen sollte. Durch den Trubel am Vorabend hatte sie es einfach vergessen, was sie ärgerte.

Am vergangenen Abend hatte sie sich zusammenreißen müssen, um nicht einen Streit vom Zaun zu brechen. Pilar war aufgedonnert zum Abendessen erschienen, während Naomi sich mit dem vollgespuckten Sweatshirt, den Leggins und den nachlässig zusammengezwirbelten Haaren vorkam, wie eine Putzfrau bei einem Galadinner.

Schon beim ersten Blick auf Pilar hätte Naomi fluchen mögen. Doch woher hätte sie die Zeit stehlen sollen, sich fürs Abendessen zurechtzumachen? Nach ihrem Treffen mit Karsten und Alice hatte die verbleibende Zeit gerade noch für eine Runde Joggen, eine rasche Dusche und das Füttern von Kai ausgereicht.

Roman hatte zwar vorgeschlagen, ihm das Fläschchen zu geben, aber nachdem sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war, hatte sie wenigstens diese paar Minuten mit Kai genießen wollen.

Dass Kai ausgerechnet auf dem Weg ins Esszimmer an ihren Haaren reißen und ein Milchbäuerchen über ihr Sweatshirt spucken würde, machte die ganze Situation nicht leichter, auch wenn es Roman amüsierte, weil Kai mit ihm dasselbe am Morgen veranstaltet hatte.

Mit kunstvoll hochgestecktem Haar, perfektem Make-up und in einem figurbetonten Minikleid stand Pilar im Türrahmen und drückte den Rücken durch, als Roman den Flur entlangkam.

Iker hatte Naomi einen flehenden Blick zugeworfen. Er musste in ihren Gedanken gelesen haben, dass sie Pilar hatte fragen wollen, ob sie ihren neuen Freund eingeladen hätte, und sich für ihn so herausgeputzt hatte.

Im letzten Moment hatte sie sich den Kommentar verkniffen, ebenso andere passenden Spitzen, die sie Iker und Romina zuliebe mit einem Schluck Wein hinuntergeschluckt hatte.

Roman bemerkte Pilars Verhalten entweder nicht, oder er ignorierte es, was Naomi beruhigte, ihre Wut auf Pilar aber nicht schmälerte.

Nachdem sie Kai in den Schlaf geschaukelt und sich zu Roman aufs Sofa gesetzt hatte, hatte sie sich nicht mehr zurückhalten können.

Roman hatte gelacht, Naomi in seine Arme gezogen und erklärt, sie sei in ihren besabberten Joggingsachen bedeutend reizvoller als Pilar in diesem Minikleid. Selbst wenn diese nackt vor ihm Samba tanzte, würde sie ihn nicht interessieren.

Anschließend hatte er sie ins Bett getragen, wo sie sich geliebt hatten und obwohl Naomi bis eben in seinen Armen gelegen hatte, gärte es in ihr weiter, weil sie wusste, Pilar würde nicht aufgeben.

An diesem Morgen sollte ihre Spanischlehrerin kommen, was ihre Laune nicht eben besserte. Die kalte Morgendusche kühlte ihren Zorn, der ihr beim Gedanken an Pilar die Hitze ins Gesicht getrieben hatte. Als sie das Wasser abdrehte, stand ihr Entschluss fest. Irgendwann erwischte sie Pilar alleine und dann würde sie ihr klarmachen, wohin sie gehörte.

Fünfzehn Minuten später eilte Naomi die Treppe hinunter, wo Iker bereits an der Tür zur Bibliothek auf sie wartete.

»Schon am ersten Tag zu spät?«, fragte er und zog die Augenbrauen missbilligend nach oben.

»Ich musste noch Windeln wechseln.« Sie drückte ihm Kai in die Arme und sah auf die Uhr. »Außerdem sind es nur zwei Minuten.« Sie küsste Kai auf den Kopf, bevor sie durch die Tür schlüpfte.

 

*

 

Pilar saß auf dem Fensterbrett in ihrem Zimmer und starrte in den Himmel. Im Osten türmten sich schwarze Wolken auf und kündigten ein gewaltiges Gewitter an.

Der Mai zeigte sich bisher sonnig und mild, aber die Frühjahrsstürme gehörten ebenso zu diesem Monat wie die strahlende Sonne. Die aufziehende Front spiegelte exakt Pilars niedergedrückte Stimmung wider, und sie seufzte, bevor sie ihren Kopf auf den Knien abstützte und die Augen schloss.

Die Nachricht über Romans Rückkehr nach Barcelona hatte sie euphorisch aufgenommen, auch wenn sie versucht hatte, ihre Gefühle vor Iker und Romina zu verbergen. Doch nichts lief so ab, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatte.

Obwohl Kai, mit seinem roten Haar, eindeutig von Sammy abstammte, kümmerte sich Roman dermaßen rührend um ihn, als handle es sich um seinen leiblichen Sohn. Warum nur störte es ihn nicht, ein Kind aufzuziehen, dass nicht seines war? Es wollte nicht in ihren Kopf.

Romina hatte sie kurz nach Kais Geburt darüber unterrichtet, dass Sammy der Vater des Kindes sei und Kai damit ein besonderes Clanmitglied mit Ikers Fähigkeiten wäre.

Und wenn schon, so war das kein Grund, dass sich Roman mit ihm beschäftigen musste.

In ihren Tagträumen ignorierte er das Baby, ertrug es nicht, es auch nur anzusehen und ständig durch ihn an Sammy erinnert zu werden, was zu Streitereien mit Naomi führte. Naomi und er zankten sich fortwährend, denn in ihren Träumen kam Roman zu ihr zurück.

Die Wirklichkeit hatte sie schockiert. Und das Gespräch mit Iker ebenfalls. Sie solle sich zurückhalten, hatte Iker gesagt, Roman in Frieden lassen und sich damit abfinden, dass dieser Naomi liebte.

Sich damit abfinden!

Der Kerl wusste ja nicht, wovon er redete! Er verschloss die Augen vor der Tatsache, dass er Unmögliches von ihr verlangte.

Iker hatte vorgeschlagen, sie solle für einige Wochen zu ihrem Vater ziehen, und nur an den Vollmondnächten herkommen; doch das wollte sie nicht. Sie musste in Romans Nähe bleiben, seine Anwesenheit spüren, auch wenn sie vor Sehnsucht beinahe umkam.

Pilar schüttelte den Kopf. Ihr musste etwas einfallen; sich eine andere Taktik überlegen, um Roman zurückzugewinnen.

Nur welche?

Roman würde Naomi niemals verlassen, nicht solange er sich für sie und das Kind verantwortlich fühlte. Dazu war er zu anständig.

Plötzlich tauchte Sammy in ihren Gedanken auf. Wenn sie ihm verriet, wo Naomi sich aufhielt, würde er kommen.

Vermutlich war er längst hier in Barcelona auf der Suche nach ihr.

Ein kleiner Hinweis und er würde Naomi töten, sobald er die Gelegenheit dazu erhielte.

Doch Sammy handelte unberechenbar. Was garantierte ihr, dass er nicht auch Roman oder sie aus dem Weg räumen wollte? Immerhin hatte Pilar ihn verraten, und das würde er ihr nie vergessen. Auch Romina brächte sie dadurch in Gefahr.

Im Grunde wollte sie auch überhaupt nicht Naomis Tod. Sie sollte nur verschwinden, sie und ihr Kind.

Sammys Kind.

Vielleicht lag darin die Lösung ihres Problems.

Pilar hüpfte im selben Moment von der Fensterbank, als ein heftiger Donnerschlag die Fensterscheiben erzittern ließ. Der Regen setzte ein. Und trotz des Dämmerlichts schien ihr die Welt in schillernden Farben zu leuchten, denn ihre Entscheidung stand fest.

 

*

 

»Und, wie lief´s?«, fragte Romina, die in der Küche saß und gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte.

Naomi gähnte. »Anstrengend trifft es ganz gut. Vor allem, weil ich kaum ein Wort verstanden habe.«

»Das kommt schon noch. Die Konjugation der regelmäßigen Verben ist kein Hexenwerk.« Romina sah zur Uhr. »Leg dich hin. Wir müssen bald los.«

»Romina, gibt es eigentlich eine andere Stelle im Wald, wo wir trainieren können? Thursfield findet die Waldlichtung ohne Probleme wieder.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass wir die letzten Male zu der alten Lichtung gefahren sind?« Ihre Urgroßmutter zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »Dort säßen wir auf dem Präsentierteller! Nein, es gibt noch ein Waldstück. Es liegt weiter westlich auf dem Weg nach Montserrat. Wir müssen nur verdammt aufpassen, weil sich hin und wieder Wanderer dort herumtreiben. Es liegen mehrere Ortschaften am Waldrand.« Romina stand auf und stemmte die Arme in die Seiten. »Nur für den Fall, dass du mich irgendwann schlagen willst, solltest du dich jetzt besser ausruhen. Und keine Sorge, wir haben das schon im Griff.«

Naomi schob die Unterlippe vor und dachte kurz nach, bevor sie in ihre Wohnung hochging. Eigentlich hatte sie fragen wollen, ob Pilar mit auf die Lichtung käme, doch die Frage konnte sie sich schenken, denn wohin sollte sie sonst gehen? Bei Iker zu Hause bliebe sie nicht. Schließlich wohnte sie aus diesem Grund hier und nicht bei ihrem Vater. Zu arbeiten schien sie nicht, zumindest wusste Naomi nichts darüber. Wenn sie es sich genau überlegte, wusste sie nichts über Pilar, und es war höchste Zeit, das zu ändern.

 

*

 

Drei Stunden später verabschiedete sie sich von Roman, der Kai versorgte und sie in den Arm nahm. Naomi war überzeugt, er würde, wie bereits die Vollmondnächte zuvor in Deutschland, eine schlaflose Nacht verbringen. Stets hatte er aus dem Fenster gesehen und gewartet, bis sie wieder aus dem Wald nach Hause gekommen war.

Leandra hatte währenddessen ihre Mutter abgelenkt, damit dieser nicht auffiel, wie sich Naomi heimlich aus dem Haus schlich. Nur zwei Mal in den letzten Monaten war es notwendig gewesen, Luna ein Schlafmittel unterzumischen.

Ihre Großmutter fehlte ihr jetzt unglaublich. Bestimmt hätte sie einen Rat zu Pilar gefunden oder nach Lösungen gesucht. Zumindest hätte sie ihr zugehört, ohne über sie zu urteilen.

Aber Leandra käme erst in einer Woche.

Pilar und Romina warteten bereits am Wagen. Naomi drehte sich nochmals zu Roman um, der auf dem Treppenabsatz stehen geblieben war, und warf ihm eine Kusshand zu. Es fiel ihr schwer, sich abzuwenden und zu gehen. Doch es blieb ihr keine andere Wahl.

Iker nickte ihr aufmunternd zu, als sie einstieg. Sie küsste ihn auf die Wange, bevor er die Wagentür schloss und ihnen das Rolltor öffnete. Dass Pilar mit dem Rücksitz vorlieb nehmen musste, war das Einzige, was sie tatsächlich aufmunterte.

Auch wenn diese gehässige Denkweise nicht ihre Art war, so konnte sie trotzdem ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken, als Romina mit dem Fahrzeug vom Grundstück fuhr.

Die Schnellstraße führte sie nach Nordwesten, an den zusammengewachsenen Ortschaften Collbató und El Bruc vorbei. Bei den Orten handelte es sich mehr um eine Ansammlung von Häusern, aber manche davon lagen tatsächlich sehr dicht am Waldrand.

Kurz danach bogen sie auf einen Waldweg ein.

Der Weg führte weiter in den Wald hinein und im Schutz tief hängender Äste stellte Romina den Wagen ab.

Schweigend marschierten sie los. Wenig später wandte sich Romina Naomi zu und deutete auf eine kleine Waldschneise.

Naomi ging darauf zu.

Die vielen Sträucher und die herabhängenden Äste der am Rand stehenden Pinien würden ein Training erschweren. Es gab nur wenig freie Fläche, die Kampfübungen zuließ. Einen wirklich hohen Baum, der die Lichtung beherrschte, wie an den anderen Stellen vermochte sie nicht zu erkennen.

Obwohl dieser Platz optisch nichts von der mystischen Erscheinung der anderen Treffpunkte besaß, zog er sie magisch an. Er strahlte trotz des Wildwuchses diese besondere Ruhe aus, die ihr inneren Frieden schenkte und die unerträgliche Hitze vor der Verwandlung linderte.

»Es gibt keinen Baum«, rutschte es Naomi heraus. Obwohl sie sich inmitten eines Waldes von Aleppokiefern und Steineichen befanden, verstand Romina, was sie meinte.

»Nein, den gibt es nicht«, bestätigte Romina. »Nicht mehr. Vor zehn Jahren gab es die Steineiche noch. Hier lag früher mein Lieblingsplatz. Diese Eiche war der schönste Baum, den du dir nur vorstellen kannst. Groß, mächtig, alles beherrschend. Sie wuchs dort drüben.« Sie zeigte auf eine Stelle, wo nun einige Pinien standen, die kaum vier Meter in den Himmel ragten. »Ein Volltrottel hat sie abgeholzt. Zur Strafe musste er Sprösslinge pflanzen. Aus diesem Grund gingen wir später zur Lichtung im Norden, doch seitdem unsere Feinde die Stelle kennen, ist es vorerst unmöglich dort hinzugehen, wie du weißt. Selbst wenn die Regierung Naturschutzgebiete einrichtet, so finden wir immer seltener geschützte Orte, die uns eine gefahrlose Verwandlung ermöglichen.

Darüber hatte Naomi noch nie nachgedacht: um so wichtiger, dass sie Dorotheas Nachforschungen vorantrieb. Vielleicht fand sie Informationen über weitere Treffpunkte.

Naomi überquerte die Waldlichtung, sah sich um und beschloss, sich unter die jungen Pinien zu legen. Eventuell befand sich noch etwas von der magischen Kraft im Waldboden. Sie legte ihre Kleidung ab, rollte sich zusammen und grub ihre Hand in die Erde. Mit geschlossenen Augen sog sie den würzigen Duft ein und spürte die brennende Energie in sich aufsteigen, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Als Naomi zu sich kam, entdeckte sie Romina und Pilar bereits inmitten der Lichtung. Für einen Moment verschwand Pilar beinahe vollständig hinter Rominas kräftigem Körperbau. Sie umkreisten sich und Naomi erkannte im hellen Mondlicht, wie Pilars Fell zuckte. Ihr Angriff auf Romina stand kurz bevor.

Aus den Augenwinkeln behielt Naomi die Stelle im Auge, während sie ihren Körper streckte und dehnte, um die verspannte Muskulatur aufzulockern. Sie überlegte kurz, ob sie auf die beiden zugehen sollte, entschied sich aber dagegen.

Nachdem sie Pilar noch nie beim Training zugesehen hatte, zog sie es vor, auf ihrem Beobachtungsposten zu bleiben und sich auf ihre Hinterpfoten zu setzen.

Pilars Schwanz peitschte über den Boden, und selbst aus dieser Entfernung erahnte Naomi den Zeitpunkt des Absprungs, noch bevor sie ihn sah. Mit einer eleganten Bewegung drehte sich Romina zur Seite, wich Pilars Angriff aus und versetzte ihr noch in der Drehung einen Prankenschlag auf deren rechten Hinterlauf, der Pilar zu Fall brachte. Zufrieden vernahm Naomi Pilars leises Fauchen, bevor sie aufstand und ins Mondlicht trat.

Romina hob den Kopf und sah sie an. »Wir haben schon ohne dich angefangen.«

In leichtem Trab lief sie auf Romina zu. »Dann bist du ja aufgewärmt.« Sie beschleunigte ihr Tempo und startete eine Attacke. Ihre Urgroßmutter kauerte sich zusammen. Bevor Naomi absprang, entschied sie sich, weiter nach links zu springen, in der Hoffnung, Romina würde in diese Richtung ausweichen. Noch im Sprung erkannte sie, dass sie richtig getippt hatte. In der Luft trafen beide aufeinander. Naomi riss Rominas Körper zur Seite und kam direkt über ihr zu stehen. Romina lag auf dem Rücken und ihre Kehle lag offen vor ihr. »Endlich habe ich es geschafft, dich aufs Kreuz zu legen.«

»Keine Kunst bei einer alten Frau!«

»Von wegen.« Mit einem sanften Tatzenhieb schlug sie ihrer Urgroßmutter auf den Hals, bevor sie von ihrem Körper glitt. »Ein klarer Sieg.«

Romina rappelte sich auf die Beine und setzte sich. »Woher wusstest du, dass ich nach links ausweichen würde?«

»Weibliche Intuition«, dachte Naomi, und ein zufriedenes Brummen entwich ihrer Kehle.

»Ich würde es Glück nennen«, vernahm Naomi Pilars Gedanken hinter sich.

»Willst du dein Glück versuchen?«, forderte Naomi sie heraus.

Romina wich zurück und gab den Platz auf der beengten Fläche der Lichtung frei. Unter einer Kiefer legte sie sich nieder.

Pilars Schwanz schwang angriffslustig über den Boden. Nachdem Naomi nur diesen einen Trainingssprung gesehen hatte, beschloss sie, Pilar nicht zu unterschätzen. Ihre Augen beobachteten jede ihrer Bewegungen.

Aufmerksam folgte Naomi jedem Schritt, den Pilar machte, und bald begannen sie sich zu umkreisen. Pilars Fell zuckte heftig. Die Tasthaare an ihrer Schnauze standen deutlich ab, und ihre Lefzen wirkten wie aufgeblasen. Ihre ganze Körperhaltung schien kampfbereit. Körperlich wiesen sie in etwa dieselbe Statur auf, wenn Naomi auch glaubte, etwas stärker zu sein.

Plötzlich legte Pilar die Ohren dicht am Kopf an, was Naomi irritierte. Dieses Verhalten passte nicht in einen Trainingsablauf.

Wie bereits beim Angriff auf Romina erkannte Naomi den genauen Absprungmoment an der unbeherrschten Fellzuckung und wich zur Seite. Pilars Sprung ging ins Leere. Wäre Naomi ebenso flink gewesen wie ihre Urgroßmutter, hätte sie Pilar ebenfalls eine Tatze auf ihren Hintern verpasst; doch so ging der Schlag in die Luft.

Ein weiteres Umkreisen folgte. Dieses Mal wollte Naomi versuchen, Pilar zu Boden zu ringen. Diese wirkte immer noch hochaufmerksam und aggressiv, was Naomi nicht nachvollziehen konnte, aber vielleicht wirkte sie im Training einfach so.

Naomi fackelte nicht lange. Sie war sich sicher, dass sie ihr Fell weitgehend unter Kontrolle hatte, und setzte ohne Vorwarnung zum Sprung an.

Pilar schaffte es nicht, ihrem Angriff auszuweichen. Der Schwung riss sie von den Pfoten. Naomi thronte über ihr und sah mit Genugtuung auf sie hinab, bevor sie von ihr abließ und zur Seite trat, um Pilar aufstehen zu lassen.

Ein brennender Schmerz durchzuckte plötzlich ihre linke Schulter, bis sie realisierte, dass Pilar ihr mit ausgefahrenen Krallen einen Schlag versetzt haben musste.

Instinktiv fuhr sie herum, setzte zum Angriff an und sprang Pilar direkt an die Kehle. Mit ihrem Körpergewicht drückte sie Pilar zu Boden. Diese wirkte wie versteinert. Ihre Schnauze näherte sich Pilars Kehle. Mit gefletschten Zähnen fuhr sie über Pilars Hals, bevor sie sich besann. »Wag das nie wieder. Hörst du.« Naomi lockerte ein wenig die Umklammerung, um ihr in die Augen zu sehen. »Und lass deine Finger von Roman, wenn dir etwas an deinem Leben liegt.«

»Es tut mir leid«, antwortete ihr Pilar.

»Es wird dir noch leidtun, wenn du dich mir in den Weg stellst.« Naomi ließ von Pilar ab, stand auf und blickte direkt in Rominas Gesicht, die zwischenzeitlich dazugestoßen war.

»Was ist hier los?« Sie sah von Pilar zu Naomi.

Pilar lag noch immer reglos auf dem Rücken.

»Nichts.« Naomi warf Pilar einen unmissverständlichen Blick zu. »Gar nichts. Wir haben nur etwas härter trainiert.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und trottete zu den jungen Aleppokiefern, wo sie sich hinlegte und auf die Lichtung starrte.

Romina forderte Pilar auf, mit dem Training weiterzumachen.

In der kurzen Pause entschied Naomi, dass ihr dieser unplanmäßige Zweikampf durchaus gelegen gekommen war. Pilar wusste nun genau, was sie erwartete, sollte sie sich nochmals zu einem solchen Manöver hinreißen lassen. Ihre Krallen hatten sie nicht schwer verletzt und nur oberflächlich die Haut aufgeritzt.

Das würde schnell verheilen.

Schneller jedenfalls, als die Demütigung, die Pilar eben hatte hinnehmen müssen. Das angedachte Gespräch konnte sie ausfallen lassen, denn mit Sicherheit hatte Pilar ihre Nachricht deutlich verstanden.

Die verbleibende Nacht ging ihr Pilar aus dem Weg, was Naomi entgegenkam. Zum einen legte sie auf ihre Gesellschaft keinen Wert und zum anderen war es ohnehin sinnvoller mit Romina zu trainieren, die eine härtere Gegnerin darstellte.

Es gelang ihr erneut, Romina auf den Boden zu zwingen. Wenn jedoch Romina sie angriff, verlor sie, weil sie sich zu langsam bewegte, um rechtzeitig auszuweichen. Sie musste an ihrer Verteidigung arbeiten.

Während Pilar sich in ihren Pausen ausruhte und zusah, wie Romina mit Naomi Zweikämpfe übte, arbeitete Naomi in ihren Auszeiten ohne Partner weiter.

Als sie die Luftsprünge zu langweilen begannen, entfernte sie sich von der Lichtung auf der Suche nach einem hohen Baum, um ihre Kletterfähigkeiten weiterzuentwickeln.

Nach ein paar Sätzen in den Wald entdeckte sie eine Steineiche. Einige Zylinderputzerbüsche verdeckten den Stamm. Die einzelnen Stiele der rot blühenden Bürsten schillerten im hellen Mondlicht beinahe purpurn. Naomi hatte diese Büsche bereits im hinteren Garten von Rominas Haus bewundert. Bisher hatte sie dieses Gewächs noch nicht berührt. Sie wusste nicht, ob die Blüten oder Äste stechen würden, sollte sie daran hängen bleiben. Sie näherte sich und fuhr mit ihrem Körper seitlich an der Staude entlang. Die Äste gaben nach und trugen keine Stacheln, auch die Bürstchen fühlten sich weich an.

Wenn sie durch das Unterholz Anlauf nähme, musste sie sehr hoch über diesen Busch springen, um an den Baumstamm zu gelangen. Die Übung auf dem unebenen Gelände stellte eine zusätzliche Herausforderung dar.

Naomi nahm Anlauf, sprang ab und spürte schon im Anflug, dass sie zu früh abgesprungen war. Ihr Körper streckte sich und sie flog in hohem Bogen in Richtung des Eichenstamms. Trotz des steilen Sprungs streiften ihre Hinterläufe die in den Himmel gereckten Äste des Busches, sodass sie etwas an Schwung verlor. Mit den Vorderkrallen in den Baumstamm gekrallt, saß sie in der Buschkrone, deren Äste durch ihr Gewicht nachgaben. Es würde ihr nichts nützen, sich mit den Vorderpfoten am Stamm festzukrallen. Sie ließ los und versank mit einem Rascheln inmitten des Zylinderputzerbusches.

Durch die hochstehenden Äste, die ihren Körper wie Gitterstäbe umringten, fühlte sie sich eingesperrt wie in einem Gefängnis.

»Naomi?«, hörte sie Romina ganz in ihrer Nähe. »Wo zum Teufel steckst du nur?«

»Ich bin hier«, antwortete Naomi und versuchte die elastischen Äste mit der rechten Pfote auseinanderzuschieben.

»Was treibst du da drin?« Romina blieb direkt vor dem Busch sitzen. »Und wie bist du dort überhaupt hineingeraten?« Sie trat mit ihrer Pfote auf den Ast, den Naomi zur Seite schob.

Naomi drückte mit ihrer Brust den nächststehenden Ast zur Seite und wand sich aus dem Gestrüpp. »Ich wollte klettern üben und bin zu früh abgesprungen.«

»Komm mit und bleib auf der Lichtung.« Romina wandte sich ab. »Du weißt, wir müssen vorsichtig sein. Außerdem ist die Nacht vorüber.«

»Warte, nur einen Versuch noch.« Naomi eilte an Romina vorbei und ignorierte Pilar, die hinter Romina zurückgeblieben war.

»Lass den Quatsch«, erwiderte Romina.

Ihre Urgroßmutter ignorierend, holte Naomi Anlauf, sprang einen Meter später ab, als bei ihrem ersten Versuch und flog steiler auf die Steineiche zu. Mühelos überwand sie den Busch, schlug ihre Krallen in den Stamm, wendete, stieß sich wieder ab und landete direkt neben Romina auf dem Waldboden.

Mehr als im richtigen Winkel die Staude zu überwinden, wollte sie im Moment nicht beherrschen. Mit drei weiteren Sätzen hätte sie den Astkranz erklommen. Daran zweifelte sie nicht.

Ihre Urgroßmutter knuffte sie in die Seite, als sie an ihr vorbeiging. »Sturer als ein Maulesel.«

Naomi machte einen übermütigen Satz nach vorn. »Aber ich bin hochgekommen!« Mit erhobenem Kopf stolzierte sie an Pilar vorbei, die immer noch wie festgewachsen am gleichen Fleck stand.

»Ja, bist du«, knurrte Romina und folgte ihr zurück zur Lichtung. »Irgendwann wirst du dir das Genick brechen!«

Naomi blickte in den Himmel, an dem die Morgendämmerung heraufzog. »Nicht heute Nacht. Außerdem habe ich mir noch nie was gebrochen.« In diesem Moment kam ihr in den Sinn, dass das nicht stimmte. Deutlich hatte sie noch das knirschende Geräusch im Ohr, als ihr Trainingspartner ihr in Stillwater versehentlich die Nase gebrochen hatte. Deswegen hatte sie mehrere Tage eine Nasenklammer tragen müssen. Als sie Roman am drauffolgenden Tag zum ersten Mal begegnete, war ihr Gesicht mit Blutergüssen übersät gewesen. An ihr merkwürdiges Zusammentreffen dachte Naomi immer wieder gerne zurück.

Sie trabte zu den jungen Kiefern, wo sie sich niederließ, um auf die Verwandlung zu warten.

Aus dem Augenwinkel entdeckte sie Pilar, wie sie sich direkt neben Romina legte. Irgendwie kam sie ihr schutzbedürftig vor, was in Naomi einen Funken Mitleid aufflammen ließ. Sie war durchaus in der Lage nachzuvollziehen, wie schrecklich es für Pilar sein musste, Roman vor sich zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass er unerreichbar für sie blieb.

 

*

 

Auf der Heimfahrt sprach keiner ein Wort. Pilar gab offenkundig vor, auf dem Rücksitz zu schlafen, obwohl Naomi genau wusste, dass sie nur den Anschein erwecken wollte. Aus eigener Erfahrung konnte sie sagen, dass der Körper in der ersten Zeit nach der Rückverwandlung noch aufgepeitscht von der Nacht war. Romina spürte offenbar die Spannungen zwischen Pilar und Naomi, denn ihr Blick schweifte von der Straße ab in den Rückspiegel oder auf den Beifahrersitz. Naomi ignorierte Rominas Seitenblicke, weil sie keine Lust verspürte zu reden und grübelte lieber darüber nach, wie sie die Recherche mithilfe von Dorotheas Unterlagen aufnehmen sollte.

Romina drückte die Fernbedienung und das Tor rollte zurück. Roman wartete, in eine dicke Wolldecke gehüllt, vor der Haustür auf sie.

Naomi stieg aus und warf sich in seine Arme. »Wieder nicht geschlafen?«

»Wie sollte ich?« Roman löste sich aus ihrer Umarmung, küsste sie und griff nach ihrer Hand. »Kommt schon rein. Da ich nicht schlafen konnte, steht das Frühstück für euch bereit. Iker macht sich schon über die aufgebackenen Brötchen her.«

 

Nur in ein Handtuch gewickelt, verließ Naomi das Badezimmer. In der Hand hielt sie ein Fläschchen und einen Wattebausch. »Könntest du mich bitte verarzten?« Sie drehte Roman die linke Schulter zu.

»Gibt es auch eine Vollmondnacht, in der du dich nicht verletzt?« Er träufelte das Desinfektionsmittel auf das Wattepad und betupfte die Kratzer. »Das sieht aber anders aus, als sonst. Fast so ...«

»Es ist nichts. Pilar hatte versehentlich die Krallen ausgefahren, als ich sie im Training besiegte. Halb so wild.« Naomi verschwieg Roman, dass Pilar sie absichtlich verwundet hatte. Es gab keinen Grund, Roman zu beunruhigen. Immerhin hatte sie Pilar eindeutig gezeigt, mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatte, sollte sie es nochmals versuchen.

»Dann muss sie besser aufpassen«, murrte er.

Naomi lächelte ihn an. »Ob ich nun an einem Strauch hängen bleibe, von einem Baum stürze oder beim Training mal eine gewischt bekomme, spielt doch keine Rolle. So etwas kann jedem von uns passieren.«

Roman legte den Wattebausch beiseite. »Ich komme eben vor Sorge um dich jedes Mal fast um. Kann ich heute Nacht nicht doch mitkommen?«

»Das geht nicht, und du weißt das.« Naomi schlüpfte in ihren Bademantel und kuschelte sich aufs Bett. »Du siehst müde aus. Und ich bin es auch.« Sie zog sich die Wolldecke bis zum Kinn hoch und klopfte auf die Matratze. »Komm schlafen. Solange Kai uns noch die Möglichkeit dazu lässt.«

 

Kais leises Weinen weckte sie. Ein Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch verriet ihr, dass sie fast vier Stunden geschlafen hatte. Das musste genügen. Immerhin wollte sie unbedingt noch die Informationen aus Dorotheas Unterlagen mit den Quellen aus dem Internet abgleichen.

Roman lag auf dem Rücken und schnarchte leise. Hätte sie weiterschlafen wollen, so hätte sie ihm ins Ohr geflüstert, bis er sich auf die Seite drehte, doch sie wollte sowieso im Wohnzimmer arbeiten, und dort störte sie sein Schnarchen nicht. Sie ging in die Küche und bereitete Kais Fläschchen vor. Bis auf die Babymilch war dort immer noch nichts zu finden. Vielleicht könnte sie Roman dazu überreden, am Nachmittag einkaufen zu gehen.

Kai nuckelte zufrieden an dem Fläschchen und schlummerte ein, noch bevor er es leer getrunken hatte. Nachdem sie ihn zurück in seine Wiege gelegt hatte, beobachtete sie ihn noch, wie er friedlich einschlief und die Hände zu kleinen Fäustchen ballte, bevor sie ins Wohnzimmer ging und den Laptop hochfuhr.

In die Suchmaske gab sie den Namen Martín Cortés ein. Die Trefferquote war enorm. Drei Millionen Treffer. Das würde die Suche erschweren, und zwar beträchtlich.

Nach einer Stunde wusste sie eigentlich nur Allgemeines über ihn. Martín war entweder der eheliche oder der uneheliche Sohn von Hernán Cortés. Fantasievoll, wie Hernán offenbar war, nannte er beide Kinder nach seinem Vater. Welchen der beiden hatte Dorothea im Sinn, als sie an eine direkte Verbindung gedacht hatte? So sehr sie auch nach den Nachfahren von beiden Martíns forschte, sie fand nichts, was eine wirkliche Verbindung nachweisen könnte. Der uneheliche Sohn hatte erst 1568 geheiratet und offenbar einen Sohn und eine Tochter. Wenn er 1568 geheiratet hatte, dann waren seine Kinder zu jung, um in Verbindung mit Dorotheas Mutter Ana María zu stehen. Sechzehn Jahre später waren Dorotheas Eltern bei dem Feuer ums Leben gekommen. Über den ehelich gezeugten Nachfolger stand im Internet überhaupt nichts. Zumindest nicht auf Englisch oder Deutsch. Wenn Naomi beide ausschließen wollte, musste sie in den Stadtarchiven nachforschen, und ohne Spanischkenntnisse verstünde sie kein Wort.

Naomi ließ sich auf das Sofa fallen, schloss die Augen und dachte nach. Romina würde niemals mitkommen, sie hatte immer viel zu viel zu tun. Leandra würde auf jeden Fall mitfahren, doch sprach auch sie kein Spanisch. Vielleicht könnte sie Iker darum bitten? Die Antwort konnte sie sich vorstellen. Iker verließ fast nie das Haus, warum sollte er also in diesem Fall eine Ausnahme machen?

Karsten kam ihr in den Sinn. Wenn sie ihn anflehte und bettelte, käme Karsten bestimmt mit. Doch dann bräuchten sie eine weitere Ausrede für Alice. Und Karsten hasste es, Alice anzulügen.

Nun musste sie nur noch herausfinden, wo beide Martíns zuletzt gelebt hatten; und dann Karsten überzeugen. Das würde sie morgen in Angriff nehmen.

Nach einem herzhaften Gähnen entschied sie sich, zurück in die Federn zu kriechen und sich besser noch einige Zeit an Roman zu kuscheln, bevor sie sich endgültig auf die kommende Nacht vorbereitete.