Sechszehn

Das Flugzeug startete pünktlich und Naomi blickte zum Fenster hinaus. Nach dem Abheben legte sich die Maschine leicht schräg, und die unter ihr liegende Stadt wurde immer ausladender und gewaltiger, obwohl die Gebäude durch das in die Höhe steigende Flugzeug immer kleiner aussahen. Selbst die Wolkenkratzer wirkten wie Spielzeughäuser.

Das Tal breitete sich wie ein gigantisches Häusermeer unter ihr aus. Grünzonen konnte sie kaum ausmachen. Naomi dachte an die vergangene Nacht zurück, wie sie genau dieses Tal während des Rituals erlebt hatte. Auch dort hatte sie dieses von Bergen eingerahmte Tal gesehen und es war herrlich gewesen. Die in sattes Grün gebaute Aztekenstadt, deren niedrige Häuser sich problemlos in die Natur eingefügt hatten. Das Grün war nun zubetoniertem Grau gewichen und selbst der wolkenlose Himmel wirkte nicht mehr azurblau. Über der ganzen Stadt hing eine Abgasglocke, die je höher das Flugzeug stieg, den Blick auf die Stadt verschwimmen ließ, bis die Maschine die Smogschicht durchdrang. Über der grauen Glocke prangte der blaue Himmel und die Sonne schien. Darunter wirkte es, als sei alles in Nebelschwaden gehüllt. Was wäre wohl gewesen, wenn die Azteken die Spanier vertrieben hätten? Würde die Stadt immer noch so wie damals aussehen? Vermutlich nicht. Die Zivilisation und die Eroberungszüge hatten gnadenlos zugeschlagen. Naomi fühlte sich dankbar, wenigstens einen kleinen Einblick in das damalige Leben erhalten zu haben. Niemals würde sie diesen Anblick in seiner ganzen Schönheit in Worten beschreiben können.

Eine Stunde lang sah sie aus dem Fenster, bis das Flugzeug entlang der amerikanischen Küste flog und es außer Wasser nichts mehr zu sehen gab.

Sie nahm ihr Vokabelheft und schlug es auf. Obwohl sie sich zwingen wollte, wenigstens einige neue Vokabeln zu lernen, schaffte sie es nicht, ihre Gedanken an die vergangene Nacht zu verdrängen.

Irgendwann, sobald ihr Spanisch gut genug wäre, würde sie hierher zurückkommen und versuchen herauszufinden, was aus Malintzin geworden war. Irgendwo musste es doch Aufzeichnungen über diese bemerkenswerte Frau geben. Eventuell könnte sie im historischen Museum mehr über sie erfahren.

Die Stewardess brachte das Essen und Naomi entschied sich, einen Wein dazu zu trinken. Vielleicht würde ihr der Rotwein helfen, etwas Schlaf zu finden. Appetitlos aß sie die servierten Tortellini in Tomatensoße und den Salat. Obwohl sie seit knapp dreißig Stunden nichts mehr gegessen hatte, verspürte sie keinen Hunger.

Der Wein tat seine Wirkung, und Naomi stopfte das Kopfkissen zwischen die Kabinenwand und die Rücklehne. An die Kabinenwand gelehnt, schlief sie innerhalb kürzester Zeit ein.

Naomi erwachte zwei Stunden später, als der Landeanflug nach Atlanta begann.

Müde begab sie sich von ihrem Gate zum nächsten, wo der Weiterflug nach Barcelona bereits angezeigt wurde. Naomi sah auf die Uhr und überlegte, ob sie Roman kurz anrufen sollte. In Barcelona wäre es neun Uhr abends. Roman würde vermutlich gerade beim Abendessen sitzen. Naomi entschied sich dagegen, um ihn nicht dabei zu stören, obwohl es sie in den Fingern juckte, Pilar wissen zu lassen, dass ein Essen nichts ändern würde. Doch das kam ihr kleinlich vor und sie widerstand der Versuchung.

 

Auf dem Flug von Atlanta nach Barcelona nickte Naomi immer wieder ein. Sie fühlte sich todmüde nach der schlaflosen Nacht und freute sich bereits darauf, nach dem Frühstück neben Roman einzuschlafen.

Pünktlich um sieben Uhr fünf landete die Maschine auf dem Flughafen in Barcelona. Die Freude in wenigen Minuten Roman und Kai zu sehen, weckte ihre Lebensgeister. Kaum hatte sie ihre Reisetasche vom Gepäckband gezogen, eilte sie durch die Zollkontrolle zu den Taxiständen, stieg ein und nannte dem Fahrer ihr Ziel.

Dreißig Minuten später stieg sie aus, schloss die Tür auf und betrat das Grundstück. Iker würde vermutlich noch schlafen, doch Roman wartete mit Sicherheit schon oben auf sie.

Kaum hatte sie die Haustür aufgeschlossen, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Kein Kaffeegeruch zog durchs Erdgeschoss. Naomi blickte in die Küche und nichts wies darauf hin, dass hier jemand in aller Eile ein Frühstück vorbereitet hatte.

Naomi lächelte, als ihr der Gedanke kam, Roman könnte verschlafen haben. Sie eilte die Treppenstufen hoch, öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer und erstarrte.

Das Bett war leer. Die Tagesdecke lag zerknautscht darüber, aber das Bett schien unbenutzt. Naomi ließ die Tasche fallen und rannte in Kais Zimmer. Einige Schrecksekunden starrte sie auf die leere Wiege, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und die Treppenstufen hinabflog, um Ikers Zimmertür aufzureißen. Auch sein Bett schien unberührt.

Panik ergriff sie und Naomi rief, so laut sie konnte, nach Roman.

Nichts.

In ihrer Verzweiflung stürmte sie sogar in Pilars Zimmer. Auch dort hielt sich niemand auf. Kopflos rannte sie durch das Haus und rief abwechselnd Romans und Ikers Namen, doch keiner von beiden antwortete ihr.

Für einen Moment schloss sie die Augen. Denk nach, sagte sie sich, wo könnten sie um diese Uhrzeit sein? Anschließend zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Romans Nummer. Ein leiser Klingelton war zu hören. Nur wo? Sie suchte in der Küche. Nichts. In der Bibliothek? Auch nicht, doch der Klingelton war lauter zu vernehmen. Dann betrat sie das Esszimmer.

Mitten auf dem Tisch lag Romans Handy. Es leuchtete und vibrierte auf dem Holztisch. Die aufsteigende Hitze in ihrem Körper schien sie innerlich zu verbrennen.

Sie wählte Pilars Nummer. Es klingelte durch, bis die Mailbox ansprang. Ein Klingelgeräusch hörte sie nicht. Pilar musste im Haus ihres Vaters geschlafen haben. Doch wo wohnte der?

Kopfschüttelnd ging sie in die Knie. Was sollte sie nun tun? Niemals hätte Roman mit Kai früh morgens das Haus verlassen. Er wusste, sie würde nach Hause kommen. Selbst in einem Notfall wäre er nicht ohne eine Nachricht zu hinterlassen einfach fortgegangen. Unmöglich.

Die ersten Tränen rannten ihr über die Wangen, bis ihr die Idee kam, Karsten anzurufen. Vielleicht wusste er etwas.

Mit jedem weiteren Klingeln rechnete sie damit, dass auch Karsten nicht erreichbar wäre, bis sich endlich eine verschlafene Stimme meldete.

»Danke fürs Wecken! Nur weil du wach bist, dürfen alle anderen auch nicht mehr schlafen«, brummte es durch den Hörer.

Naomi entwich ein Schluchzen. »Weißt du, wo Roman und Kai sind?«

»Im Bett, wie jeder normale Mensch um diese Uhrzeit. Es ist Samstag.« Seine Stimme hörte sich bereits etwas munterer an.

»Sie sind nicht im Haus. Iker auch nicht. Ich dachte nur, du wüsstest vielleicht ...« Naomis Stimme brach und sie begann, hemmungslos zu weinen.

»Hey, jetzt beruhige dich. Was ist denn los?«, fragte Karsten.

»Sie sind verschwunden. Kein Zettel, nichts. Selbst Romans Handy liegt im Esszimmer. Es sieht sogar so aus, als hätten sie nicht in ihren Betten geschlafen.« Naomi kauerte sich an der Wand des Esszimmers zusammen.

»Gestern Abend habe ich mit ihm telefoniert. Er hat uns zum Abendessen eingeladen, sobald wir aus Sevilla zurückkommen. Er war vollgefressen und wollte sich hinlegen.«

Naomi hatte ganz vergessen, dass Karsten noch in Sevilla war. »Worüber habt ihr sonst gesprochen?«

»Nichts Großartiges. Er hat sich gefreut, dass du heute kommst, und das war´s auch schon.« Seine Stimme klang nun hellwach. »Moment.«

Naomi hörte ein Rascheln und wie eine Tür ins Schloss fiel.

»Alice schläft noch. So, jetzt bin ich im Badezimmer. Und du bist dir sicher, dass sie nicht da sind?«

»Natürlich bin ich mir sicher«, schrie sie.

»Denkst du, Sammy ...« Karsten ließ die Worte in der Luft hängen.

Naomi schwieg. Diesen Gedanken hatte sie bis eben nicht zugelassen. Bisher waren Roman, Kai und Iker nur nicht da. Das musste nicht bedeuten, dass Sammy etwas damit zu tun hatte.

Im selben Moment wurde ihr klar, dass das Verschwinden mit Pilar zu tun haben musste. Sie hatte den beiden irgendwie eine Falle gestellt, solange sie selbst nicht hier gewesen war.

»Pilar. Sie muss uns verraten haben.«

»Ich komme«, sagte Karsten. »Ich steige in das nächste Flugzeug, das nach Barcelona fliegt, und du bleibst, wo du bist.«

»Und Alice?«, fragte Naomi. »Sie darf nichts erfahren, hörst du?«, bettelte Naomi.

»Mir wird schon was einfallen. Lass das meine Sorge sein. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Solltest du zwischenzeitlich was hören, dann ruf mich sofort an, verstanden?«

Naomi nickte.

»Ob du mich verstanden hast?«

»Ja«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Okay, ich muss kurz nachdenken und fahre los, nachdem ich Alice irgendeine Geschichte aufgetischt habe. Verflucht noch mal! Wenn ich dieses Aas in die Finger bekomme.« Im Hintergrund ertönte ein Schlag. Karsten musste irgendwo dagegen geschlagen haben. »Bleib im Haus, ich bin so bald ich kann bei dir.«

»Danke«, sagte Naomi und schniefte.

Es konnte nur Pilar hinter dem Verschwinden stecken. Niemand sonst hatte jemals Kontakt mit Sammy gehabt. Sie glaubte nicht an den Zufall, dass Sammy herausgefunden haben könnte, wo sie wohnten. Und wie hätte Sammy ins Haus gelangen sollen? Selbst wenn er irgendwie ins Haus gelangt wäre, keinesfalls hätten sich Roman und Iker kampflos ergeben. Es gab aber keinerlei Kampfspuren im Haus.

Niemals hätte sie in Romans Handy gestöbert, aber nun blieb ihr keine andere Wahl. Sie musste wissen, mit wem er zuletzt gesprochen hatte und welche Anrufe in den letzten Tagen eingegangen waren. Ohne schlechtes Gewissen blätterte sie die Anruflisten durch. Das letzte geführte Gespräch war mit ihr gewesen. Zuvor gab es noch einige Telefongespräche, die alle mit Namen hinterlegt waren. Romans Mutter, zwei seiner Freunde, und dazwischen stand immer wieder ihr eigener Name. Die letzte gewählte Nummer war die von Karsten. Sie fand nichts Auffälliges. Weder im Speicher der Anruflisten noch in den Kurznachrichten.

Sicherheitshalber verriegelte sie die Haustür, bevor sie die Treppenstufen nach oben ging. Im Schlafzimmer blieb sie stehen und wusste nicht, was sie nun tun sollte. Romina oder Leandra anrufen? Doch was würde das nutzen? Romina konnte die nächsten zwei Tage keinesfalls ein Flugzeug besteigen. Es gab keine Möglichkeit die Verwandlung zu unterdrücken. Und ihre Großmutter? Was könnte Leandra schon ausrichten? Sie käme vor Sorge um und wäre erst in einem Tag hier. Naomi würde sie nur in Gefahr bringen. Sie fühlte sich sogar erleichtert, dass wenigstens Leandra in Sicherheit war.

Naomi schlang die Arme um ihren Körper, um das stetige Zittern zu unterbinden. Wenn nur Romina hier wäre! Ihre Hilfe käme ihr sehr gelegen. Immerhin würde Karsten in einigen Stunden bei ihr sein. Tränen quollen aus ihren Augen, als ihr bewusst wurde, dass sie dadurch ihren besten Freund in Gefahr brachte. Wenn ihm etwas geschähe, dann wäre es ihre Schuld. Trotzdem stärkte sie der Gedanke, diese Sache nicht ganz alleine durchstehen zu müssen.

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange. Gedankenverloren ging sie in Kais Zimmer, holte die Wolldecke aus der Wiege, roch daran und drückte sie an sich. Warum hatte Pilar sie verraten? Und warum hatte Iker nichts davon bemerkt?

Kais sauberer Babygeruch zwang sie in die Knie. Sie legte sich auf den Boden, rollte sich wie ein Kleinkind zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sollte Sammy es wagen Kai, Roman oder Iker etwas anzutun, dann würde sie ihn finden und zur Strecke bringen. Und wenn es das Letzte wäre, was sie in diesem Leben tun würde.

Ein leises Klingeln riss sie aus ihrer Verzweiflung. Romans Handy klingelte. Wo hatte sie es nur gelassen? Naomi sprang auf die Beine, um nach dem Telefon zu suchen. Sie fand es auf ihrem Bett. Ohne sich mit Namen zu melden, nahm sie das Gespräch an.

»Schön, du bist also zu Hause.« Sie erkannte Sammys Stimme sofort. »Dann hast du bereits gesehen, dass deine beiden Schätzchen nicht daheim sind.«

»Wenn du es wagst, ihnen etwas anzutun, dann bringe ich dich um.« Naomi verspürte einen nie gekannten Hass.

»Das werden wir ja sehen. Heute Nacht auf der Lichtung. Du weißt schon welche ... die im Norden. Und wenn du nicht pünktlich kommst, wirst du deinen geliebten Roman tot vorfinden. Mein Sohn bleibt natürlich bei mir. Ein Junge braucht schließlich seinen Vater.« Sammy lachte. »Das wirst du sicherlich verstehen ... aber vielleicht lasse ich ja deinen Lover am Leben.«

»Ich werde dort sein«, sagte Naomi. Und ich werde dich töten, fügte sie im Geiste hinzu.

»Schön. Ich habe dich nämlich sehr vermisst.«

Anschließend war die Leitung tot. Sammy hatte aufgelegt.

Naomi griff nach der Nachttischlampe und pfefferte sie gegen die Wand. Der harte Lampenfuß riss einen Fetzen aus der vergipsten Wand über ihrem Bett, und die Lampe blieb mit verbogenem Gestell auf dem Boden liegen. Naomi beachtete sie nicht weiter, griff nach dem Telefon und wählte Karstens Nummer.

»Was gibt´s Neues?«, fragte er anstelle einer Begrüßung.

»Sammy hat Roman, Iker und Kai entführt. Er droht Roman zu töten, sollte ich heute Nacht nicht zur Lichtung gehen. Kai will er mitnehmen. Ich muss dort hin, auch wenn meine Chancen zu gewinnen schlecht stehen. Ich weiß nicht, ob Pilar oder sonst noch jemand dort sein wird. Aber es wird ein ungleicher Kampf werden.«

»Nicht, wenn ich mitkomme.« Karsten befand sich bereits am Flughafen, doch konnte er noch nicht sagen, wann er in Barcelona sein würde. »Ich stehe bei einem Flug auf der Warteliste. Sonst geht nur noch eine Maschine, und die wird nicht vor neun Uhr abends in Barcelona landen.«

»Du könntest sowieso nichts gegen Sammy ausrichten«, beruhigte ihn Naomi.

»Wäre ich doch gleich in einen Mietwagen gestiegen, als du mich angerufen hast, dann wäre ich rechtzeitig bei dir gewesen, um dir zu helfen.«

»Das sind über zehn Stunden Autofahrt.« Naomi schüttelte den Kopf. Der Gedanke, dass Karsten in überhöhter Geschwindigkeit über die Straßen bretterte, hätte ihr nur zusätzliche Sorgen bereitet. Was hast du zu Alice gesagt?«, fragte Naomi.

»Nur, dass du in Schwierigkeiten steckst und meine Hilfe brauchst. Ich konnte sie überzeugen, den gebuchten Flug morgen Mittag zu nehmen. Ich drängte sie dazu, das Museum, das wir heute besuchen wollten, alleine zu besichtigen. Erst wollte sie unbedingt mit mir kommen, und später war sie eingeschnappt, dass du nicht sie, sondern mich um Hilfe gebeten hast.«

Im Hintergrund hörte Naomi Lautsprecheransagen. »Hauptsache, sie bleibt dort, wo sie ist.« Sie legte eine Pause ein. »Karsten, versprich mir, dass du nicht zur Lichtung kommst. Geh erst nachsehen, wenn die Sonne aufgeht. Hörst du?«

Karsten antwortete nicht.

»Versprich es«, forderte Naomi.

»Ist gut.« Karstens Stimme klang merkwürdig. »Ist es die Lichtung vom letzten Mal?«

»Ja«, bestätigte Naomi und rang ihm erneut das Versprechen ab, dass er ihr auf keinen Fall zur Lichtung folgen durfte, sollte sie bei seiner Ankunft schon fort sein. Widerwillig stimmte Karsten zu.

 

*

 

Den halben Nachmittag lief Naomi um das Haus, um sich abzureagieren und den Kopf freizubekommen. Hier konnte sie unbeobachtet laufen. Etwas, was ihr schon seit Monaten gefehlt hatte. Dass sie nur im Kreis um das Wohnhaus joggte, störte sie an diesem Tag nicht. Ihre Gedanken sortierten sich nur langsam. Doch nach zwei Stunden stand ihr Plan fest.

Sollte Sammy tatsächlich Roman und Kai mit zur Lichtung bringen und eventuell noch Verstärkung bei ihm sein, musste sie sich auf die neue Situation vorbereiten. Sie konnte nicht in letzter Minute zur Verwandlung in den Wald gehen. Besser sie versteckte sich in der Nähe der Lichtung zwischen den Bäumen, um zu sehen, was dort vor sich ging.

Nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, ging sie hinein, duschte kurz, streifte sich einen frischen Jogginganzug über und rief Karsten an, um ihm zu sagen, dass er sie nicht mehr zu Hause anträfe. Es war sechs Uhr, und Karstens Handy war abgeschaltet. Er saß offensichtlich in der Abendmaschine. Naomi erinnerte ihn an sein Versprechen, legte ihr Handy beiseite, stieg in Rominas Wagen und fuhr los.

Das Fahrzeug stellte sie abseits der Lichtung in einem zugewachsenen Waldweg ab. Sie wagte es nicht, dichter zum Treffpunkt zu fahren. Eventuell rechnete Sammy damit, dass sie früher kommen würde, und sie durfte ihren Vorteil nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich der Lichtung. Bei jedem noch so kleinen Geräusch, das sie beim Gehen verursachte, zuckte sie zusammen, hielt inne und ging erst weiter, als sie außer ihrem eigenen Atem nichts mehr hörte.

Die Lichtung musste direkt vor ihr liegen. Noch zwei Stunden, dann würde die Nacht hereinbrechen, und bereits vierzig Minuten später ginge der Mond auf. Noch lag alles ruhig da. Sie stand zehn Meter von der Lichtung entfernt und sah sich um. Rechts von ihr, standen einige hohe Kiefern, doch die unteren Astkränze lagen zu weit oben, um daran hochklettern zu können. Behutsam schlich sie weiter, um einen Baum zu suchen, an dessen unteren Astkranz sie heranreichen konnte. Bis sie eine geeignete Kiefer fand, hatte sie beinahe die komplette Lichtung umrundet.

Abwägend blickte sie nach oben. Es genügte nicht, den untersten Ast zu erreichen. Sie musste höher klettern, damit die Nadeln sie wenigstens bei einem flüchtigen Blick nach oben verbargen. Diese Kiefer eignete sich nicht. Der zweite Astkranz lag zu weit vom Ersten entfernt.

Wenig später entdeckte sie nahe der Lichtung eine Steineiche. Die mächtige Eiche trug dichte Blätter, und die Äste wuchsen enger beieinander. Naomi streckte sich und erreichte mit den Fingern den untersten Ast, konnte ihn jedoch nicht fassen. Sie musste hochspringen. Sollte sie abrutschen, würde sie viel Lärm machen. Es blieb ihr nur diese eine Chance. Alle anderen Bäume standen zu weit von der Lichtung entfernt und würden ihr als Aussichtsposten nichts nützen. Für einen Moment schloss sie die Augen und überlegte, ob sie es riskieren konnte. Es musste einfach gelingen.

Den Blick auf den Ast gerichtet, suchte sie eine passende Stelle, um hochzuspringen. Sie ging in die Knie, federte drei Mal auf und ab, bevor sie sprang. Ihre linke Hand rutschte ab, doch ihre rechte Hand bekam den Ast zu fassen. Für einige Sekunden baumelte sie in der Luft und drohte zu stürzen. Ihre Verzweiflung verlieh ihr die Kraft, ihren Körper um eine halbe Drehung in eine Position zu bringen, in der sie sich mit der rechten Hand mit einem Klimmzug so weit nach oben ziehen konnte, bis sie den Ast mit der linken Hand zu fassen bekam. Naomi verharrte kurz in dieser hängenden Position, um Luft zu holen. Anschließend zog sie sich am Ast mit einem Klimmzug nach oben, führte die Hüfte so dicht wie möglich an den Ast, spannte den Bauch an, streckte die Beine durch, und brachte sich durch einen Felgaufschwung in die Stütze. Mit durchgedrückten Armen ließ sie sich langsam nach vorne kippen, bevor sie das linke Bein über den Ast legte und sicher auf dem Ast saß.

Erleichtert blieb sie darauf sitzen und lauschte, ob sich jemand der Lichtung näherte. Als sie kein Geräusch vernehmen konnte, kletterte sie an den Ästen nach oben, bis sie sicher sein konnte, gut von den Blättern verborgen zu sein.

Naomi klemmte sich in eine halbwegs bequeme Position zwischen zwei Äste und sah sich die leichten Verletzungen an ihren Händen an. Vorsichtig zog sie sich die Holzsplitter aus den Handflächen, die sie sich eingefangen hatte und wartete.