Neun

Naomi zog sich gerade ihre Turnschuhe an, als Roman die Wohnung betrat.

»Das Teil ist super!« Er neigte den Kopf zu Kai hinunter. »Unser Kleiner findet das übrigens auch. Vor allem, wenn ich ihn andersherum hineinsetze, damit er was sieht.«

»Während du unterwegs trotzdem vorsichtig bleibst und nicht vor lauter Begeisterung alles um dich herum vergisst. Sammy ist mit Sicherheit auf der Suche nach uns.« Naomi küsste Roman und holte Kai aus der Gurtkonstruktion. »Jetzt gibt´s erst was zu essen für dich, und dann geht die Mama joggen.«

»Ja, die Mama geht joggen.« Roman schnallte sich den Tragegurt ab. »Und wir dürfen uns so lange um sie sorgen, bis sie wieder bei uns ist.«

»Ich passe schon auf mich auf. Deswegen lasse ich auch den MP3-Player hier. Außerdem laufe ich nicht durch die Stadt, sondern zehn Mal um unseren Block, obwohl ich viel lieber am Hafen entlanglaufen würde. Irgendwann sind wir Sammy los und dann können wir endlich ganz Barcelona erkunden, aber bis dahin ...«

»Ich weiß. Immer wenn du alleine unterwegs bist, warte ich nur darauf, bis ich die Eingangstür höre und sicher sein kann, dass alles in Ordnung ist.« Roman ging in die Küche und holte die Babymilch. »Hast du die Flüge gebucht?«

Naomi nickte und griff nach dem Fläschchen. »Das Hotel auch. Morgen früh geht´s los. Ich bin übermorgen Abend wieder zu Hause und ich verspreche, mich regelmäßig zu melden.«

»Das will ich hoffen. Sonst schnappe ich mir diesen Herrn hier und komme dich holen.«

Obwohl Romans Stimme unbefangen klang, sah Naomi an seinem ernsten Gesichtsausdruck, dass er sich wegen der Reise sorgte. »Karsten schickt mich nach zwei Tagen sowieso zu dir zurück.«

»Das will ich ihm auch geraten haben.« Er streckte die Hände nach Kai aus. »Ich übernehme das. Geh schon, los.«

»Danke. Ich füttere dafür heute Abend.« Mit einer raschen Umarmung verabschiedete sie sich von Roman und polterte die Stufen nach unten.

Am Treppenabsatz stand Iker. »Freust du dich schon auf heute Abend?«

»Warum? Was steht an?«, fragte Naomi.

»Oh. Dann habe ich nichts gesagt«, erwiderte Iker und ging in die Küche.

Naomi folgte ihm. »Erst anfüttern und dann nichts sagen. Das ist unfair. Sag schon, los!«

Iker schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Alles zu seiner Zeit.«

»Ach, komm schon. Spuck´s aus.«

Iker schwieg, woraufhin Naomi ihm die Zunge herausstreckte.

»Jetzt erst recht nicht«, sagte Iker und lachte.

Naomi stemmte die Arme in die Hüften und fixierte Iker.

»Du vergisst wohl, dass ich derjenige bin, der in deinen Gedanken lesen kann, nicht andersherum. Und jetzt ab mit dir.«

Für einen Moment verharrte Naomi, bis sie sich abwandte, um ihre Joggingrunde zu beginnen. Iker würde ihr sowieso nichts verraten, sondern sich nur weiter auf ihre Kosten amüsieren.

Nachdem sie das Grundstück verlassen hatte, bog sie rechts ab und lief an den Villen vorüber, ohne sie wirklich zu beachten. Ihre Gedanken kreisten um Ikers Worte. Worauf sollte sie sich freuen? Heute Abend musste sie ihre Reisetasche packen, sie sollte Spanisch lernen und außer einem gemütlichen Abend stand nichts auf dem Plan. Als ihr bewusst wurde, dass sie sich weder auf den Weg konzentrierte, den sie entlanglief, noch auf ihre Umgebung, schob sie ihre Grübeleien beiseite und behielt die Straße und die Passanten im Auge. Sammy durfte sie keinesfalls irgendwo überraschen. Es erschien ihr zwar unwahrscheinlich, dass er in diesem Teil der Stadt nach ihr suchte, trotzdem konnte sie es sich nicht erlauben unvorsichtig werden.

Als sie das dritte Mal an ihrem Haus vorbeigelaufen war, entschied sie sich nur noch eine weitere Runde zu joggen. Es machte ihr keinen Spaß zu laufen und hinter jedem Baum, in jedem Auto nach Sammys Gesicht Ausschau zu halten. Sie vermisste das sorglose Gefühl, sich treiben zu lassen, ihre Gedanken zu ordnen und dadurch entspannt und zufrieden nach einigen Kilometern gut gelaunt nach Hause zu kommen. Sport war für sie immer schon ein Ventil zur Entspannung gewesen. Doch dieses Gefühl wollte sich einfach nicht mehr einstellen. Im Grunde wusste sie, es würde ihr erst wieder Spaß machen, wenn Sammy nicht mehr lebte und sie wieder angstfrei durch die Stadt joggen könnte. Bisher hatte sie es sogar vermieden, mit Roman auszugehen. Ein romantisches Essen in einem hübschen Restaurant, vielleicht ein Picknick im Stadtpark, wo sich die meisten Bewohner Barcelonas trafen, all das gönnte sie sich nicht. Das Einzige, was sie sich vorstellen könnte, wäre ins Kino zu gehen. Durch die Dunkelheit geschützt, wäre es eine Möglichkeit unter Menschen zu sein, doch die Filme liefen in spanischer Sprache und fielen daher auch aus.

Niedergeschlagen kehrte sie zurück, bis ihr Ikers Andeutung wieder einfiel. Schwungvoll öffnete sie die Haustür, rannte die Stufen nach oben und stürmte in ihre Wohnung. »Auf was soll ich mich freuen?«

Roman lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Kai schlief seitlich an ihn angekuschelt in seiner Armbeuge. »Iker hat also geplaudert. Dabei sollte es eine Überraschung werden.«

»Was ist es?« Mit drei Schritten stand sie am Sofa. Naomi kniete sich vor Roman nieder. Nachdem er schwieg und sie nur anlächelte, griff sie seine Hand und drückte sie. »Komm schon, sei nicht gemein.«

»Wir gehen heute Abend aus. Ikers Erkältung ist endlich weg und wir haben einen Babysitter.« Roman blickte sie aus blitzenden Augen an. »Es werden jede Menge Leute da sein und wir tauchen in der Masse unter. Karsten hat mich darauf gebracht.«

»Auf was? Muss ich dir denn alles aus der Nase ziehen?«

»Montjuic. Die Wasserspiele sollen unglaublich sein. Wir fahren dort hin, verdrücken uns in eine Ecke, wo wir nicht gesehen werden können, und sehen uns das Spektakel an.«

Von den Wasserspielen hatte Alice ihr bereits vorgeschwärmt. Im Rhythmus der Musik schossen Fontänen in die Luft, die von Lasern bunt angestrahlt wurden. Naomi überlegte, ob Sammy sie dort suchen würde. Möglich wäre es, wenn auch ziemlich unwahrscheinlich.

»Und? Was sagst du dazu?«, fragte Roman.

»Dass ich mir die schon ansehen wollte, seitdem Alice davon erzählt hat.«

»Aber?«

»Kein aber. Können wir Baseball-Mützen aufsetzen? Nur für alle Fälle.« Naomi wäre wohler, obwohl sie diese Mützen hasste. Trotzdem verbargen sie ihr Haar, und die Schildmütze würde einen Teil ihres Gesichts in Schatten hüllen.

»Klar, wenn du eine hast.« Roman griff nach dem Vokabelheft. »So, jetzt lerne ich weiter, damit ich morgen gerüstet bin. Der Unterricht findet auch ohne dich statt. Die verpassten Stunden musst du anschließend selbst nachpauken.«

Sie seufzte. »Dann hüpfe ich mal besser unter die Dusche und lerne, sonst verliere ich komplett den Anschluss. Obwohl, die Verbenkonjugation kann ich auch mit Karsten im Flugzeug üben.«

Roman zog sie zu sich hinunter, küsste sie und grinste. »Sicher. Ihr habt ja währenddessen nichts anders zu tun. Das glaubst du doch nicht ernsthaft, oder? Mir kannst du das Märchen jedenfalls nicht erzählen.«

 

Das Taxi setzte Naomi und Roman vor der Plaza España am Fuße des Castells Montjuic ab. Die Zugangsstraße zum Schloss wurde linker Hand von kleinen Springbrunnen gesäumt, aus denen das Wasser sprudelte. Der Blick auf die ehemalige Befestigungsanlage verschlug Naomi den Atem. Das Schloss thronte im dämmerigen Abendlicht auf dem Gipfel und nahm den gesamten Hügel ein. In der Gebäudemitte prangte eine Kuppel, die rechts und links von spitz aufragenden Türmen flankiert wurde. Hinter der Kuppel leuchteten blaue Laserstrahlen in den Abendhimmel, die einen mystischen Kontrast zu der zartgelben Beleuchtung des Schlosses bildeten. Am Fuße des alten Castells befand sich der mächtige Brunnen, der mit seinen hochschießenden Wasserfontänen von Weitem sichtbar war. »Wow. Jetzt weiß ich, warum Alice ganz verrückt nach diesem Platz ist.«

Roman drückte ihre Hand. »Das Schloss ist herrlich. Irgendwann sehen wir es uns an, versprochen?«

Naomi nickte. Gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang, den Blick fest auf die ehrwürdigen Mauern geheftet.

Roman bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, bis er zwischen zwei Bäumen Platz für sie beide gefunden hatte. »Hier sieht man zwar nicht so toll, aber wir sind abseits. Habe ich dir schon gesagt, wie sexy du mit dieser Mütze aussiehst?«

Naomi boxte ihn sanft in die Seite. »Ich hasse dieses Ding.«

»Es steht dir aber ganz ausgezeichnet«, flüsterte er ihr ins Ohr und küsste ihren Hals.

Ein wohliges Kribbeln breitete sich von dieser Stelle in ihrem ganzen Körper aus. Es war richtig gewesen, hierher zu kommen. Zusammen wieder etwas zu unternehmen. Das hatte sie mehr vermisst, als sie sich hatte eingestehen wollen. »Danke, dass du mich hierher gebracht hast.«

Die Musik erklang in diesem Moment. Leise Takte eines Musicalstücks brachten die Wasserfontänen erst leicht in Bewegung. Je härter und schneller der Takt wurde, desto höher spritzten die unterschiedlichen Wasserdüsen das Wasser in den Nachthimmel. Der äußere Kranz leuchtete in Orange, der mittlere in Blau und aus der Mitte schoss eine rote Fontäne fünfzig Meter in die Höhe, nur um kurz darauf, als der Takt des Liedes kurz aussetzte, wieder in sich zusammenzufallen.

Naomi lehnte mit dem Rücken an Romans Brust. Er umarmte sie von hinten und sie kuschelte sich an ihn.

Beim darauf folgenden Lied veränderte sich die Farbe der einzelnen Wasserkreisläufe und eine Gänsehaut überzog Naomis Körper, als sie die ersten Töne von Bonnie Tylers Lied Turn Around vernahm. Die Stimme dieser Sängerin hatte sie schon immer berührt, wenn sie auch nie genau auf den Text geachtet hatte. Die Wasserfontänen spritzten im Rhythmus, und zum ersten Mal hörte sich Naomi den genauen Liedtext an.

 

Once upon a time I was falling in love

but now I`m only falling apart

there`s nothing I can do

a total eclipse of the heart

once upon a time there was light in my life

but now there is only love in the dark

nothing I can say

a total eclipse of the heart

 

Als sie diese zweite Strophe bewusst wahrnahm, krampfte sich ihr Herz zusammen. Dieses Lied handelte von ihr. Genau so war es ihr ergangen, als sie Roman hatte zurücklassen müssen. Ein Schatten hatte sich über ihr Herz gelegt. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Tränen um eine Zeit, die längst vergangen war und die sie trotzdem noch fest in Griff hatte.

Der Refrain setzte ein.

 

Turn around, every now and then I get a little bit restless and I dream of something wild

turn around, every now and then I get a little bit helpless and I'm lying like a child in your arms

turn around, every now and then I get a little bit angry and I know I've got to get out and cry

 

Naomi schluckte mehrfach und sah zum Himmel hoch, um die Tränen zurückzuhalten.

 

and I need you now tonight

and I need you more than ever

and if you´ll only hold me tight

we´ll be holding on forever

and we´ll only be making the right

cause we´ll never be wrong together

we can take it to the end of the line

your love is like a shadow on me all of the time

I don`t know what to do and I´m always in the dark

we´re living in a powder kep and giving off sparks

I really need you tonight

forever´s gonna start tonight

forever´s gonna start tonight

 

Naomi wandte sich Roman zu. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Das ist mein Lied; unser Lied.« Sie schmiegte sich an Romans Brust.

Er strich ihr sanft über den Rücken und rang sich ein Lächeln ab. »Und das, obwohl wir noch nie miteinander getanzt haben.«

In diesem Moment fühlte sich Naomi ihm näher als jemals zuvor. Roman verstand sie. »Ich liebe dich.«

»Und ich liebe dich. Und ich verspreche dir, gemeinsam schaffen wir das.«

Naomi nickte und schluchzte leise. Sie wünschte, sie wäre ebenso zuversichtlich wie Roman. Sie schlang die Arme um seinen Rücken und drückte sich an ihn. Wenn sie es mit jemandem schaffen konnte, dann nur mit ihm.

Während der restlichen Show umarmte Roman sie von hinten, und Naomi genoss seine Nähe.

Das Wasser schoss rythmisch zu einem Lied aus der Rocky Horror Show in die Höhe, wechselte die Farben und spritzte hoch in die Luft oder bildete eine rotleuchtende Wasserkugel.

Kaum waren die letzten Takte eines Stücks aus Phantom der Oper verklungen, lag der Brunnen still da, und erinnerte an einen Teich, der an seinen äußeren Enden rot glühte.

Naomi wäre gerne noch geblieben, um das Ambiente zu genießen, doch die Gefahr entdeckt zu werden, ließ sie im Getümmel der aufbrechenden Menschen untertauchen. Sie liefen zurück zur Plaza España, wo sie in ein Taxi stiegen, das sie auf direktem Weg nach Hause brachte.