Zehn

Leandra wünschte allen eine gute Nacht, griff sich ein Sandwich und ging in ihr Schlafzimmer. Der Abend war mehr als nur interessant gewesen. Sie grübelte darüber nach, was diese Reise nach Mexiko tatsächlich bringen könnte. Hungrig biss sie in das Sandwich und hoffte, Romina würde ebenfalls bald kommen.

Noch bevor sie fertig gegessen hatte, hörte sie Rominas Stimme, und die Tür wurde geöffnet.

»Gut, dass du endlich kommst. Ich will wissen, was du von der ganzen Sache hältst.« Leandra schob den letzten Bissen in den Mund.

Romina schleuderte ihre Sandalen von den Füßen und setzte sich zu Leandra aufs Bett. »Ich weiß nicht. Aber Dorothea hat damals eine Verbindung zu Mexiko hergestellt. Wie und warum auch immer. Es war merkwürdig, wie Brenda wegen des Wortes Jag War reagiert hat. Ich muss gestehen, dass es mir jetzt leidtut, Naomi nicht mehr unterstützt zu haben, als sie mich danach fragte. Ich weiß auch nicht, ob sie selbst weiterrecherchiert hat. Zu mir gesagt hat sie jedenfalls nichts mehr.«

»Ich denke schon. Sie hält immer noch viel von Dorotheas Notizen. Und dass Brenda geradezu bleich im Gesicht wurde, bedeutet, Dorothea lag mit ihrer Spur gar nicht so verkehrt. Ihr fehlte damals nur die Gelegenheit, es nachzuprüfen.« Leandra zog sich ihren Hosenanzug aus und schlüpfte in ein Nachthemd. »Wir sollten nicht ohne Naomi nach Mexiko fliegen. Das wäre nicht fair.«

»In einer Woche haben wir wieder Vollmond. Das wird knapp. Ich möchte schnellstmöglich rüberfliegen, bevor Brenda ihre Meinung wieder ändert.« Romina griff sich zwei kalte Pommes frites, stopfte sie sich in den Mund und verzog das Gesicht. »Wie eklig.«

»Hol dir eben auch ein Sandwich. Im Salon liegen genug davon.« Leandra betrachtete ihre Mutter. »Wenn dein plötzlicher Hunger nur ein Ablenkungsmanöver sein sollte, hat es nicht geklappt. Naomi kommt mit uns!«

»Sag mal, wer von uns beiden ist denn hier die Mutter?«, fragte Romina.

»Ich bin erwachsen, sehe älter aus, als du und kenne Naomi besser, als jeder andere. Wenn du ohne sie fliegen willst, wird sie dir das niemals verzeihen. Willst du das?«

»Nein«, antwortete Romina, bevor sie leise durch die Tür ins Wohnzimmer schlich und mit einem Club-Sandwich zurückkam. »Denkst du wirklich, dass sie unbedingt mit möchte? Sie hat immerhin ein Baby zu versorgen.«

»Das können Roman und Iker für die paar Tage auch.« Leandra schlug die Bettdecke zurück, setzte sich auf die Matratze und lehnte sich am Kopfende an. »Naomi kommt mit. Darüber diskutiere ich auch gar nicht mehr.«

»So so, du diskutierst also nicht«, meinte Romina schmunzelnd. »Den Dickschädel haben wir wohl alle geerbt, und ich dachte, du wärst aus der Art geschlagen.«

Gierig fiel Romina über das Essen her. Leandra sah ihr schweigend zu. Das Thema war erledigt. Sie würden gleich Naomi anrufen und ihr die Neuigkeiten erzählen. Mit Glück könnte sie einen Abendflug buchen, dann wäre sie wegen des Zeitunterschieds spätestens am Dienstag Mittag dort. Zwei bis drei Tage sollten bei diesem mysteriösen Häuptling genügen. Damit wäre sie vor Samstag wieder in Barcelona, und Leandra müsste sich wegen der Verwandlung nicht um Naomi sorgen.

»Dann fliegen wir also zeitlich so nach Mexiko, dass wir gleichzeitig mit Naomi dort ankommen?«

Romina nickte und schob sich die restliche Ecke des Sandwichs in den ohnehin noch vollgestopften Mund.

 

*

 

Naomi blickte auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Ihr blieb noch eine halbe Stunde, bevor sie aufstehen musste. Roman zog sie zu sich und sie kuschelte sich an ihn.

»Ich lass dich nur ungern gehen«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Naomi zwickte ihn. »In zwei Tagen bin ich zurück. Du wirst kaum merken, dass ich weg gewesen bin.« Sie selbst tat sich nach dieser Nacht schwer, Roman mit Kai zurückzulassen. Es blieb ihr trotzdem nichts anderes übrig, wenn sie herausfinden wollte, ob Dorotheas Notizen sie noch weiter in die Vergangenheit führen konnten. Selbst wenn sie sich eingestand, dass es an ihrer Situation nichts ändern würde, hegte sie tief in ihrem Inneren dennoch die Hoffnung, den Ursprung ihrer Verwandlung zu finden und sie auf irgendeine Weise stoppen und endlich angstfrei leben zu können.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren trägen Gedanken. »Romina? Wie läuft es bei euch?«

»Prima. Du bist schon wach!« Romina gähnte. »Hier ist es ein Uhr nachts und ich dachte, ich würde dich aufwecken.«

»Konntet ihr Katie beruhigen?«, fragte Naomi.

»Nein. Aber wir haben Brenda kennengelernt und uns unterhalten. Dabei sind wir auf neue Informationen gestoßen. Für dich bedeutet das, dass du in den nächsten Flieger nach Mexiko steigst und wir uns dort treffen.«

Naomi setzte sich auf. »Ich fliege heute Mittag nach Sevilla wegen Dorotheas Notiz über Martín Cortés und bleibe dort für zwei Tage.«

»Mist!« Romina räusperte sich. »Dann fliegst du eben anschließend von Sevilla nach Mexico City, damit sparst du dir den Rückweg nach Barcelona und kannst in drei Tagen dort sein. Wir werden einen Flug buchen, sodass wir kurz vor dir ankommen werden.«

»Hatte Dorothea recht? Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!« Naomi schaltete den Lautsprecher ihres Handys an. Gemeinsam mit Roman lauschte sie Rominas knapper Zusammenfassung.

Nachdem Romina mit der Erzählung der Geschichte geendet hatte, seufzte Naomi laut und versprach, sich gleich um die Flugbuchung zu kümmern, bevor sie Leandra und Romina eine gute Nacht wünschte und auflegte.

Roman zog sie in seine Arme. »Nur zwei Tage ... das hört sich jetzt aber alles ganz anders an. Ich begleite dich.«

»Du kannst nichts tun, Roman. Mir wäre wohler, wenn du dich hier um Kai kümmern würdest. So weiß ich, er ist gut aufgehoben und in Sicherheit.«

»Das könnte auch Iker übernehmen.« Roman sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich kann dich einfach nicht alleine nach Mexiko zu einem Indiostamm fliegen lassen. Bitte verlang das nicht von mir. Sevilla okay. Dort hast du Karsten dabei, und ihr haltet euch nur im Archiv auf, aber Mexiko?«

»Da bin ich auch nicht alleine. Brenda kennt den Stamm und Romina und Leandra sind schließlich auch mit dabei. Du hast ja gehört, dass Romina meinte, dass es sogar fragwürdig ist, ob uns dieser Häuptling alle gleichzeitig empfangen wird. Du kannst nichts tun.«

Roman stand auf, öffnete das Fenster und starrte in den Garten hinaus.

»Bitte. Bleib hier. Kai braucht dich.« Sie ging zu ihm und drehte ihn zu sich herum. »Ich passe auf mich auf. Und ich melde mich regelmäßig bei dir. Versprochen.«

»Ich habe Angst um dich.« Roman sah ihr tief in die Augen. »Wenn es dort feindliche Clanmitglieder gibt? Was willst du dann tun?«

»Kämpfen mit der Gewissheit, dass wenigstens du und Kai in Sicherheit seid.« Naomi nagte auf ihrer Unterlippe herum. »Tu´s für mich.«

Roman umarmte sie und drückte sie so fest an sich, dass Naomi die Luft wegblieb. In dieser Umarmung entlud sich seine Sorge, seine Angst und seine Verzweiflung. Doch sie war sich sicher, er würde sie nicht weiter bedrängen.

»Danke. Ich werde spätestens am Samstag wieder bei euch sein.« Naomi löste sich aus seinen Armen. »Jetzt muss ich umpacken. Könntest du nach einem Flug von Sevilla nach Mexico City schauen?«

 

*

 

Um 11:00h fuhr Iker mit Naomi auf dem Beifahrersitz zur Uni, wo sie Karsten abholen wollten.

»Wir kommen klar. Keine Sorge.« Iker bedachte sie mit einem Seitenblick. »Pass nur du gut auf dich auf.«

»Es sind nur fünf Tage und fast die Hälfte davon sitze ich im Flugzeug. Was soll also schon groß passieren? Vermutlich erwarte ich zu viel von diesen beiden Reisen. Ob wir im Archiv etwas finden?« Naomi zuckte die Schultern. »Vermutlich nicht. Hoffentlich ist es wenigstens genug für Karstens Semesterarbeit. Die Sache mit Mexiko beschäftigt mich bei Weitem mehr. Ein Aztekenhäuptling. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas überhaupt noch gibt.«

»Ich glaube nicht, dass er sich noch mit Lendenschurz und Kopfputz aus Federn durch den Urwald tragen lässt. Er wird eher so etwas wie deren Bürgermeister darstellen.« Iker schmunzelte. »Trotzdem würde ich es gerne selbst erleben. Meine Mutter hatte schon immer ein Gespür dafür, was richtig ist und was falsch. Und wenn sie sagt, ich soll nicht mitkommen, dann wird sie ihre Gründe haben. Ich bleibe sowieso lieber im Haus.«

»Romina und ein feines Gespür? Das wäre ja was ganz Neues.«

»Außerdem wäre es leichtsinnig Roman und Kai alleine zurückzulassen. Roman kennt sich kaum in Barcelona aus, und sollte Kai zum Arzt müssen, dann kann er sich nicht verständigen.«

»Danke Iker.«

»Sollte der Häuptling euch in seinen Harem aufnehmen, eilen wir zur Rettung!« Iker lachte. »Pilar tauchte übrigens gestern Abend noch auf. Sie hat ihr Studium tatsächlich wieder aufgenommen, wenn sie auch weiter mit ihrem Vater streitet. Das Vollmondwochenende wird sie bei uns verbringen.«

»Konntest du in ihren Gedanken lesen?«

Iker schüttelte verneinend den Kopf. »Irgendwie komme ich nicht mehr in ihre Gedanken. Ich schnappe zwar unterschiedliche Wortfetzen auf, aber nichts Komplettes. Vielleicht verliere ich meine Fähigkeiten, oder es klappt einfach nicht bei allen von uns gleich gut. Mit Pilar hatte ich bereits zu Beginn meine Schwierigkeiten. Ihre Gedanken sprangen schon immer wild von einem Thema zum anderen.«

»Ich traue ihr trotzdem nicht.« Naomi löste den Sicherheitsgurt, als Iker vor der Universität hielt. »Das werde ich nie.«

Sie öffnete die Tür, bevor Iker sie heftig zurückzog. »Du willst doch nicht aussteigen? Alice könnte dich sehen.«

Naomi hatte Alice in der ganzen Aufregung komplett vergessen. Sie legte den Gurt an und schloss die Beifahrertür.

Karsten riss die hintere Wagentür auf, warf einen Matchsack auf den Rücksitz und stieg ein. »Hi, und gib Gas. Ich habe Alice gesagt, dass ich ein Taxi nehme. Wenn sie mich sieht, ist der Teufel los. Also, fahr los. Außerdem seid ihr viel zu spät dran.«

»Ich hatte dir eine SMS geschickt, also beschwere dich nicht. Wir kommen schon rechtzeitig an.«

Die Fahrt zum Flughafen verbrachten sie schweigend.

Iker stieg aus, küsste Naomi rechts und links auf die Wange und lächelte sie an. »Schau nicht so unglücklich. Die Tage werden wie im Flug vergehen.«

»Sehr witzig«, erwiderte Naomi. Immerhin würde sie viele Stunden tatsächlich in einem Flugzeug verbringen müssen. »Passt auf euch auf!«

Iker klopfte Karsten auf die Schulter. »Das sollte ich zu euch sagen. Wir machen uns nämlich eine gemütliche Zeit unter Männern!«

Das konnte sich Naomi vorstellen. Iker würde kochen, während Roman mit Kai spielte oder ihm sein Fläschchen gäbe. Dann würden sie zusammen eine Flasche Wein köpfen, gemütlich fernsehen, sich unterhalten oder eben andere ganz gewöhnliche Dinge tun.

»Viel Erfolg!«, verabschiedete sich Iker, steig ein und hupte zum Abschied.

Karsten schnappte sich Naomis Reisetasche und verzog das Gesicht. »Wir bleiben eine Nacht und du hast gepackt, als würdest du für eine Woche in den Urlaub fliegen.«

»Ich fliege nicht zurück nach Barcelona, sondern direkt weiter nach Mexico City.« Naomi nahm ihm die Tasche ab. »Ich erzähl es dir, sobald ich sicher bin, dass wir keine Zuhörer haben. Und jetzt komm. Sonst verpassen wir noch das Flugzeug.«

Naomi und Karsten gingen zum Check-in-Schalter, hinter dem eine gelangweilte Dame saß. Nachdem sie das Gepäck abgefertigt hatte, druckte sie die Bordkarten aus und lächelte professionell. »Tut mir leid, dass Sie nicht zusammensitzen können. Die Maschine ist ausgebucht und Sie sind die letzten Passagiere. Bitte gehen Sie umgehend zum Fluggate.«

Karsten hetzte voraus und Naomi hechelte grinsend hinterher, weil sie ihren Freund bisher noch niemals in Hektik gesehen hatte. Auf einem großen Flughafen hätte sie selbst befürchtet, den Flug zu versäumen, aber Barcelona war übersichtlich. Als sie das Gate erreichten, saßen die anderen Passagiere noch auf ihren Plätzen in der Wartehalle.

»Sag mal, hast du Schiss deinen Flieger zu verpassen?« Naomi lachte lauthals los. »Wenn ich es mir genau überlege, hast du damals auch extrem gedrängelt, pünktlich loszufahren, als ich dich an den Flughafen von Bangor gebracht habe. Deswegen hatte ich die Ehre, drei Stunden zu warten, bis du endlich in der Luft warst, weil Alice nicht vorher gehen wollte. Das war also kein Zufall!«

»Wenn du es weitererzählst, muss ich dich töten«, feixte Karsten. »Ich weiß nicht warum, bei jeder Unterrichtsstunde, bei jeder Verabredung bin ich zu spät, aber bei Flugreisen liegen meine Nerven blank.«

»Ich schweige, versprochen.« Naomi hakte sich bei Karsten ein. »Klammerst du dich während des Flugs an den Armlehnen fest?«

»Sehr witzig.«

Das Boarding begann und Naomi grinste verstohlen, weil sie eine neue Seite an ihrem sonst so souveränen Freund entdeckt hatte.

Karsten saß sieben Reihen hinter Naomi, ebenfalls am Gang. Zu weit entfernt, um miteinander zu reden. Die eineinhalb Stunden Flugzeit verbrachte sie damit, bunte Bilder im Bordmagazin anzusehen. Sie erkannte zwar einzelne Worte, doch zusammenhängende Sätze zu lesen, vermochte sie nicht. Auch ihr Sitznachbar gab es nach zehn Minuten auf, mit ihr ein Gespräch führen zu wollen, da sie ihn einfach nicht verstand. Jetzt ärgerte sie sich darüber, für den Flug nicht das Vokabelheft in ihre Handtasche gepackt zu haben; das steckte zwischen ihren Socken in ihrer Reisetasche, und die befand sich im Flugzeugbauch.

Nachdem sie ihr Gepäck abgeholt hatten, gingen Naomi und Karsten zu einem Taxistand. »Zuerst ins Hotel, oder fangen wir gleich an?«

Karsten überlegte kurz. »In der Uni gibt es bestimmt eine Cafeteria. Und wenn nicht, dann finden wir in der Nähe sicherlich irgendwo ein Café.«

»Ich dachte, wir fahren zum Stadtarchiv.«

»Alles, was älter als einhundert Jahre ist, befindet sich im historischen Archiv der Universität. Deswegen brauchte ich auch die Genehmigung meines Professors.«

»Also, ab zur Uni!« Naomi drückte dem Taxifahrer ihre Reisetasche in die Hand und setzte sich auf den Rücksitz.

Karsten warf seine Tasche in den Kofferraum, nahm auf der Beifahrerseite Platz und nannte dem Fahrer ihr Ziel.

Der Taxifahrer fuhr gemächlich vom Flughafengelände in Richtung Westen. Kaum hatte er das überwachte Gelände verlassen, bretterte er in halsbrecherischem Tempo über die Zubringerstraße, bis sie den Stadtrand erreichten. In der Innenstadt drückte er sich in jede mögliche Lücke, überholte links oder rechts, sodass Naomi jeden Moment mit einem Zusammenstoß rechnete.

Nach dreißig Minuten umrundete er einen Park, bog von der vierspurigen Straße in eine Seitenstraße ein, und das Universitätsgebäude ragte zweigeschossig direkt vor ihnen auf. Das prächtige Gemäuer mit den aufragenden Türmen erinnerte Naomi mehr an ein prunkvolles Kloster, als an eine Universität. Das quadratische Gelände bestand aus gepflegten Rasenflächen, auf denen Palmen und Bananenstauden in den Himmel ragten.

Das Taxi hielt. »Ya estámos. Calle San Fernando número cuatro.« Er drückte auf den Taxameter. Karsten kramte in der Hosentasche nach seiner Geldbörse und bezahlte.

Naomi stieg aus und wartete, bis der Fahrer ihr die Tasche reichte, bedankte sich und trat drei Schritte auf den Eingang zu. »Das Taxigeld zahle ich dir zurück.«

Karsten grinste. »Das will ich auch annehmen.« Er sah sich um. »Wirklich schade, dass wir nur die Bibliothek zu sehen bekommen. Sevilla hat was.«

Naomi musste sich eingestehen, dass sie die Fahrt damit zugebracht hatte, den Fahrstil des Taxifahrers zu überstehen und sich wegen der Recherche zu sorgen. Die Umgebung hatte sie bisher nicht bewusst wahrgenommen.

Auf dem Campus fragte Karsten nach dem Weg zur Bibliothek, und je mehr Naomi vom Gelände sah, desto besser konnte sie sich Nonnen und Ordensmitglieder in diesem Gebäude vorstellen. Die Säulengänge, die Innenhöfe, alles wirkte auf sie wie aus einem alten Film. Mit ihrer Jeans und dem T-Shirt kam sie sich völlig fehl am Platz vor, wenn auch alle anderen Studenten in ähnlicher Kleidung umhereilten.

»Jetzt komm schon«, drängte Karsten. »Lass uns keine Zeit verlieren.«

Sie betraten die Bibliothek durch die große Hauptpforte und sahen sich um. Naomi entdeckte zu ihrer Rechten einige Computer, an denen Studenten arbeiteten. Auf der gleichen Seite befand sich ein Tresen, hinter dem ein älterer Mann Bücher an die Studenten ausgab. »Lass uns dort fragen, wo wir Informationen über Martín Cortés finden.«

Karsten nickte und stellte sich in die Reihe. Der Bibliothekar ließ sich die Genehmigung von Karstens Professor zeigen und lächelte. Der Professor habe schon angerufen, erklärte er, um ihn darum zu bitten, Karsten wegen dessen eventuell lückenhafter Spanischkenntnisse zu helfen. Alte Geschichtsunterlagen zu lesen, sei nicht so einfach. Er habe bereits eine Liste vorbereitet, und die Bücher stünden in der Abteilung neun. Sollte er Hilfe benötigen, weil er etwas nicht verstünde, könne er sich jederzeit an ihn wenden. Karsten nickte und bedankte sich. Beim Weggehen murrte er: »Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«

Naomi sah ihn verständnislos an. »Was?«

»Der Prof hat hier angerufen«, er wedelte mit dem Blatt Papier vor ihrer Nase herum. »Man könnte sagen, er hat diesen Señor dort schon auf mich angesetzt. Entweder traut er meinen Sprachkenntnissen tatsächlich nicht, oder er wollte sichergehen, dass ich hier nicht nur Ferien mache.«

»Im Prinzip kann es dir egal sein, du arbeitest schließlich, und wenn du Hilfe brauchst, dann weißt du wenigstens, wen du fragen kannst.« Naomi kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich werde dir kaum eine Hilfe sein.«

»Spitz du den Bleistift und schreibe einfach mit, was ich finde.« Karsten folgte den Schildern in den geschichtlichen Bereich. »Bücher heraussuchen kannst du aber.« Er gab ihr den Zettel. »Wenn Madame mir das Erste auf der Liste reichen würde ...«

Fünf Stunden später brütete Karsten über dem letzten Buch. »Eigentlich haben wir immer noch nichts herausgefunden, was dir weiterhelfen könnte. Der eine Martín ist ehelich aus Hernáns zweiter Ehe. Er heiratete innerhalb des spanischen Adels und war stinkreich, bis sie ihn aus Mexiko rauswarfen und sein Geld einsackten. Sieht nach rauen Zeiten aus. Der andere Martín ist unehelich gezeugt, nachdem Hernán ein Verhältnis mit einer Indiofrau hatte. Was aus ihm wurde? Viel ist nicht bekannt. Auf alle Fälle hat Cortés der Eroberer es recht bunt getrieben.«

»Wie vermutlich alle in dieser Zeit. Ich habe hier sieben eheliche Kinder und fünf uneheliche Kinder notiert. Aber alle wurden vom König legitimiert.« Naomi kritzelte Vierecke auf den Block. »Weißt du, mich interessiert diese Geschichte, über diesen unehelichen Martín, der mit einer Indiofrau aus Mexiko gezeugt wurde, die ihm offenbar während der Eroberung der Azteken gedolmetscht hat.«

Naomi stand auf. »Lass uns was trinken gehen und nochmals alles durchgehen. Vielleicht haben wir was übersehen. Es muss doch irgendwo einen Stammbaum geben, was aus Martín, dem Mestizen, geworden ist. In diesen Büchern stand nichts über eine Heirat oder Kinder?«

»Nein. Ich frage den Bibliothekar.«

»Und ich hole uns was zu trinken. Soll ich auch belegte Brötchen mitbringen?«

»Ja, gute Idee.«

Naomi verließ nachdenklich das Gebäude. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die Cafeteria in der Uni um sieben Uhr bereits geschlossen hatte. Besser sie ging gleich in eines der Bistros vor dem Campus und ließ sich alles zum Mitnehmen einpacken.

Es musste sich doch etwas herausfinden lassen. Kinder so bekannter Persönlichkeiten verschwanden nicht einfach in der Versenkung. Irgendwoher hatte auch Dorothea diese Informationen. Selbst wenn sie später nicht mehr daran geglaubt und die Nachforschungen deswegen aufgegeben hatte. Das würde Naomi nicht tun. Aufgeben. Irgendeine weiterreichende Verbindung zwischen Martín und Mexiko musste es noch geben. Sonst wäre Romina kaum bereit nach Mexiko zu reisen, um der Sache mit Brenda auf den Grund zu gehen. Es fehlte ihr nur noch das passende Bindeglied.

Am Park entdeckte Naomi ein Bistro. Sie bestellte mit Serrano-Schinken belegte Brötchen, zwei Colas, zwei Wasser und zwei Becher Café zum Mitnehmen und machte sich auf den Rückweg.

Am Eingang zur Bibliothek passte sie der Bibliothekar ab und erklärte ihr, sie könne die Kaffees nicht mit hineinnehmen, da es verboten sei.

Naomi trank einen Schluck ihres Kaffees und warf beide Becher in den Mülleimer. Glücklicherweise hatte sie alles andere in ihren Rucksack gepackt.

Karsten saß mit einem breiten Grinsen vor den Unterlagen. »Ich glaube, ich habe hier was gefunden. Die Idee mit dem Stammbaum war nicht schlecht.«

Naomi zeigte auf den Rucksack und schielte zum Bibliothekar. »Den Kaffee habe ich draußen wegwerfen müssen, aber der Rest ist gut verpackt, und wenn er nicht aufpasst und keiner in unserer Abteilung ist, dann verputzen wir die Sachen heimlich.« Naomi sah zu Karsten und gähnte. »Mit deinen News kannst du mich auch nicht mehr lange wachhalten.«

»Wart´s nur ab. Der uneheliche Martín hat später die Spanierin Bernadina de Porras geheiratet.«

»Das ist nicht neu, Karsten. Selbst im Internet stand etwas darüber, dass er eine Adlige geheiratet hatte.« Naomi schraubte die Wasserflasche auf und nahm einen kräftigen Schluck. »Selbst wenn auf anderen Seiten stand, er sei in Mexico City wegen einer Verschwörung hingerichtet worden.«

Karsten schob Naomi mit einem breiten Grinsen ihren Schreibblock hin, auf dem alle Eckdaten vermerkt waren, die sie Dorotheas Unterlagen hatte entnehmen können.«

»Stand da auch, wie viele Kinder das glückliche Paar hatte?«

»Sag nicht, du hast das herausgefunden?«

»Genau. Es sind zwei. Einen Sohn mit dem Namen Fernando und eine Tochter mit dem Namen Ana. Dorotheas Mutter hieß Ana María. Ein merkwürdiger Zufall, oder nicht?«

Naomi sprang auf, stürmte auf Karsten zu und quietschte laut vor Aufregung. »Zeig her! Aber sofort!«

Eine Gruppe Studenten, die in ihrer Nähe arbeiteten, warfen ihnen böse Blicke zu und verlangten Ruhe.

Naomi spürte, wie sie errötete, und senkte ihre Stimme. »Wo steht das?«

Karsten schob ihr das Buch hin und zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo die Namen standen. »Hier steht auch, dass Ana nach Großbritannien ging. Danach ist nichts mehr zu finden.«

Endlich fügte sich alles zusammen. Die fehlenden Bindeglieder ihres Familienstammbaums ließen sich nun einfügen. »Moment mal. Und wenn es eine andere Ana ist? Könnte doch möglich sein.«

»Stimmt. Aber der Zufall wäre schon sehr groß, findest du nicht?«

»Wann ging Ana nach Großbritannien?«, fragte Naomi.

»Moment.« Karsten suchte nach der Jahreszahl. »1572.«

»Dann steht fest, dass es sich nicht um Dorotheas Mutter handeln kann. Dorothea war knapp vierundzwanzig Jahre alt, als das Feuer ausbrach. Und das war 1584.« Naomi legte den Kopf schief. »So ein Mist!« Was ist, wenn Dorothea nur vermutet hat, unsere Geschichte könnte mit den Cortés zusammenhängen. Vielleicht ist sie genau auf diese Unterlagen gestoßen und hörte aus diesem Grund auf weiterzuforschen.«

»Das müssen wir eben herausfinden. Es sollte sich auch etwas über frühere Kinder von diesem Martín herausfinden lassen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er nicht schon vorher ein paar Kinder gezeugt hatte. Der Mann war schließlich zweiundvierzig Jahre alt, als er heiratete.« Karsten gähnte laut. »Aber darum kümmere ich mich Morgen. Lass uns für heute Schluss machen.«

Dieser Vorschlag behagte Naomi überhaupt nicht, auch wenn ihr Magen laut knurrte. Sie wollte bei der Recherche dabei sein, um Karsten wenigstens moralisch zu unterstützen. Doch morgen Nachmittag würde ihre Maschine nach Mexico City starten. »Die Zeit wird nicht reichen.«

»Das wird sie. Immerhin wissen wir jetzt, in welchem genauen Zeitraum wir suchen müssen.« Karsten räumte die Bücher in die Regale. »Sollten wir morgen Vormittag nichts über Martíns frühere Jahre herausfinden, dann fliegst du zu deinem Häuptling und ich suche alleine weiter. Außerdem muss ich für meine Arbeit noch viel mehr recherchieren. Wenn ich eine Abhandlung über die Familie Cortés schreibe, sollte ich noch viel mehr über Hernán Cortés erfahren.«

Er schob das letzte Buch in die Lücke, setzte sich wieder und stützte das Kinn in die Hände. »Da hast du mich auf ein spannendes Thema gebracht. Viel besser, als meine alte Idee über die aktuelle Wirtschaftslage im Land. Deshalb habe ich soeben beschlossen, die ganze Woche hier zu bleiben. Alice könnte am Freitag herkommen und wir könnten uns ein tolles Wochenende gönnen und uns die Stadt ansehen.«

Naomi fühlte sich trotz der Neuigkeiten enttäuscht. Selbst wenn sie nun ihre Ahnentafel etwas weiter zurückverfolgen konnte, nutzte ihr dieses Wissen bisher nicht das Geringste.

»Mensch, jetzt haben wir was herausgefunden und du ziehst eine Miene, als wäre es ein voller Fehlschlag gewesen.«

»Das ist es nicht, aber es bringt mich einfach nicht weiter.« Naomi stand auf und sah Karsten an. »Du weißt schon, was ich meine.«

Karsten zog sie mit sich aus der Bibliothek. »Du dachtest doch nicht ernsthaft, in den Büchern etwas über den Ursprung deiner Verwandlung zu erfahren, oder?«

Schweigend ging Naomi neben ihm her. Karsten hatte recht. Es war dumm zu hoffen, die Herkunft des Clans aus irgendwelchen Büchern erklären zu können. Das war ihr im Grunde selbst klar. Doch was nützte es schon, wenn sie ihre Ahnen bis vor die Zeitrechnung zurückverfolgen konnte, ohne einen Hinweis auf den Grund ihrer Verwandlung zu erhalten? Nichts. Überhaupt nichts.

In diesem Moment wusste sie, was Dorothea damit meinte, die Jagd auf die Vergangenheit sei sinnlos, und man solle besser in der Gegenwart leben und diese Zeit so intensiv wie möglich genießen. Naomi beschloss, noch diese eine Reise nach Mexiko zu unternehmen und anschließend ihr Leben zu leben. Das war sie Roman schuldig.

 

*

 

Am darauf folgenden Morgen begleitete Naomi Karsten nochmals in die Universitätsbibliothek. Nachdem sie mit Roman telefoniert und ihm erzählt hatte, dass ihre Familie eventuell von der berühmten Familie Cortés abstamme, es sie aber nicht weiterbringe, was die Herkunft des ersten Clanmitglieds und dessen Umstände anbelange, und sie nach ihrer Reise nach Mexiko die Suche aufgäbe, stimmte er ihr zu. Roman erklärte, wenn sie es nicht ändern könne, müsse sie ihre Andersartigkeit akzeptieren. Sie beide. Ihr Leben würden sie nach dem Vollmond ausrichten und sich daran gewöhnen. Sobald Sammy aus ihrem Leben verschwunden wäre, würde alles nur noch halb so gefährlich sein. Und irgendwann wäre er besiegt. Doch an seiner Stimme hörte sie, dass er nur versuchte, sie zu beruhigen und aufzumuntern. Roman sorgte sich um sie, und er hatte sich, wie sie selbst, der Hoffnung hingegeben, dem Ganzen irgendwie ein Ende bereiten zu können.

Doch es wäre Unsinn, am Glauben festzuhalten, sie sei in der Lage, etwas zu entdecken, was Dorothea oder Romina bisher übersehen hatten. Wie hatte sie annehmen können, in ein paar Stunden mehr herauszufinden, als Dorothea in einem halben Jahrtausend?

Karsten bedachte sie mit einem aufmunternden Blick. »Hey, jetzt lass den Kopf nicht hängen. Es muss sich doch irgendwie genial anfühlen, unsere Welt aus den Augen eines ganz anderes Wesen zu sehen.«

Naomi fummelte am Reißverschluss ihrer Sweatshirtjacke herum. »Wollen wir tauschen?«

»Aber nur, wenn ich auch deine tollen Beine bekomme«, sagte er und legte mit einem Grinsen im Gesicht den Arm um sie. »Ist es denn so schlimm für dich?«

»Wenn Sammy nicht wäre und ich nicht ständig die Menschen um mich anlügen müsste, wäre es leichter.« Im Grunde hatte sie sich mit den Verwandlungen arrangiert. Trotzdem hatte sie nach einem Strohhalm gegriffen, in der Hoffnung, dass Kai nicht dasselbe durchleben müsste, wie sie. Und nicht nur Kai. Naomi würde es nicht über sich bringen, weiteren Kindern dieses Leben aufzuerlegen. Die Hoffnung, dass es eine Generation überspränge, wäre gering, und das Risiko, eine Generation später ihren Enkeln zu schaden, wäre viel zu groß.

»Irgendwann gewöhnst du dich an die Ausreden. Und Sammy; es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er von der Bildfläche verschwindet. Er wird euch nicht ewig suchen.«

Als sie die Bibliothek betraten, gingen sie direkt zu dem Angestellten, der ihnen am Vortag die Bücherliste gegeben hatte.

Karsten fragte ihn, ob es Aufzeichnungen über Martíns Leben vor seiner Hochzeit mit Bernadina de Porras gab. Der Bibliothekar tippte einige Suchdaten in seinen Computer und überprüfte die angezeigten Ergebnisse. Nach etwa fünfzehn Minuten händigte er Karsten eine Notiz mit drei Buchtiteln aus und sagte etwas, was Naomi nicht verstand.

»Muchas gracias.« Naomi wandte sich Karsten zu. »Was hat er gesagt?«

»Nur, dass wir vermutlich nicht viel finden würden, da uneheliche Kinder nicht registriert werden.«

»Aber Martín war doch selbst ein uneheliches Kind von Hernán Cortés.«

»Das schon, aber sein Vater sorgte dafür, dass die Kirche seine Kinder legitimierte und das konnte er nur, weil er entsprechende Kontakte hatte. Außerdem wissen wir nicht, ob dieser Martín überhaupt ein Interesse daran hatte, irgendwelche Kinder legitimieren zu lassen. Immerhin ist er dem Santiago-Orden beigetreten.«

»Ich dachte, Ordensmitglieder dürfen nicht heiraten.« Naomi blieb stehen. »Lass uns nachsehen, ob in den Büchern steht, was das für ein Orden war.«

Karsten suchte die Bücher aus den Regalen des geschichtlichen Bereichs. Naomi griff nach dem ersten Buch und setzte sich an einen der freien Tische, die inmitten der Geschichtsabteilung standen. Im Inhaltsverzeichnis suchte sie nach dem Wort Santiago.

Mit den anderen beiden Büchern unter dem Arm setzte sich Karsten zu ihr, schob ihr eines der alten Bücher über den Tisch und schlug das andere auf. »Diese alten Wälzer haben einen merkwürdigen Geruch, findest du nicht?«

Naomi nickte und griff nach dem zweiten Buch. »Alt und staubig eben. So müssen Geschichtsbücher riechen.« Mit dem Finger fuhr sie an den einzelnen Linien im Register entlang und fand keinen Hinweis auf diesen Orden. Auch Martíns Namen entdeckte sie nicht. »Hast du was?«

»Nicht im Inhaltsverzeichnis.« Karsten blätterte in seinem Buch. »Aber so einfach werden wir vermutlich auch nichts finden. Ich sehe mir jede Seite an. Du kannst inzwischen bei der Information nachfragen, ob es ein Buch über diesen Orden gibt.«

»Ich?«, fragte Naomi.

»Das wirst du doch wohl schaffen. Sag einfach die Worte Orden de Santiago und libro. Das bekommst du hin.«

Ohne zu widersprechen erhob sich Naomi von ihrem Stuhl und ging zur Theke, wo der ältere Mann sich gerade über einige Bücher beugte. Sie wiederholte Karstens Worte und der Bibliothekar strahlte sie an.

»Sí, Martín era miembro del Orden de Santiago. Muy bién pensado.« Er hackte auf die Tastatur ein, notierte zwei Buchnamen auf einem Zettel und reichte ihn ihr über die Theke.

Naomi lächelte unsicher, nickte ihm anerkennend zu und ärgerte sich darüber, dass sie nichts verstanden hatte. Ohne Karsten zu stören, der immer noch über dem ersten Buch brütete, suchte sie die Bücher aus den Regalen.

»Und? Alles klar?«, fragte Karsten, als sie sich ihm gegenübersetzte.

»Ich denke schon. Ich habe nach den Büchern gefragt und er sagte irgendwas über Martín und den Orden. Den Rest konnte ich nicht verstehen.«

»Hauptsache du hast bekommen, was wir wollten.« Karsten schob sein Buch beiseite und griff nach dem in Leder gebundenen Buch, das über diesen Orden berichtete.

Naomi lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Sie konnte nichts weiter tun, als tatenlos herumzusitzen und Karsten Gesellschaft zu leisten, da sie diese Sprache nicht beherrschte. Das Vokabelheft! Sie schlug die Augen auf, griff nach ihrer Reisetasche und zog das Heft heraus. Die Zeit konnte sie auch besser nutzen, als nur faul die Zeit vergehen zu lassen.

Eine Stunde später wollte keine neue Vokabel mehr in ihren Kopf und sie beschloss, die unregelmäßigen Verben zu konjugieren. Naomi arbeitete so konzentriert, dass sie zusammenzuckte, als Karsten das Buch mit einem Knall schloss und sie anlächelte.

»Was?«

»Also, dieser Orden ist kein rein christlicher Orden gewesen. Ich verstehe es eher als einen Ritterorden mit gläubigen Männern oder eben solchen, die Ritter werden wollten, aber kein Geld besaßen, um die Ausbildung woanders zu durchlaufen. Sie trugen weiße Mäntel mit dem roten Santiagokreuz auf dem Rücken. Die aufgenähte Muschel bedeutete, dass der Ordensbruder die Pilgerreise gemacht hat. Dieses Santiagokreuz findet man überall auf dem Jakobsweg. Die Ritter beschützten die Pilger auf deren Weg vor den Mauren, und später zogen sie zu den Kreuzzügen aus.« Karsten grinste. »Und jetzt kommt´s. Sie mussten nicht im Zölibat leben. Es wurde zwar empfohlen, keusch und in Armut zu leben, aber es stand jedem frei, zu heiraten und Kinder zu zeugen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Martín vor seiner Ehe in Keuschheit gelebt hat.«

Naomi schloss ihr Vokabelheft, warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. »Verdammt. Ich muss los, sonst verpasse ich das Flugzeug.« Hektisch stopfte sie ihr Handy, die Spanischunterlagen und ein angebissenes Brötchen in ihre Reisetasche. »Über Martín selbst hast du nichts gefunden?«

Karsten verneinte. »Vielleicht habe ich mehr Glück mit den anderen Büchern. Aber hey, was würde eine arme Pilgerin davon abhalten, sich dankbar ihrem Retter hinzugeben? Die Zeiten waren damals anders, und wenn ich mir ansehe, wie fleißig Martíns Vater war ...«

»Ruf mich an, sobald du etwas über irgendwelche dokumentierten Liebschaften herausgefunden hast, okay?« Naomi schulterte ihre Reisetasche. »Ich schnappe mir ein Taxi und rufe am Flughafen Roman an.«

»Pass auf dich auf.« Karsten drückte Naomi an seine Brust, küsste sie auf die Wange und sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Melde dich, sobald du kannst, okay? Sollten wir nämlich zwei Tage nichts von dir hören, kommen wir dich holen. Verstanden?«

Sie wuschelte Karsten durchs Haar und lachte. »Schön zu wissen, dass mir mein persönliches Sondereinsatzkommando zur Verfügung steht. Aber ich pass schon auf mich auf. Keine Sorge.«