27. Kapitel
Ich kann es immer noch kaum glauben«, sagte Essie glücklich, als sie in ihrem Appartement den letzten Karton zumachte. »Ich denke immer noch, gleich wache ich auf, und es war alles nur ein Traum.«
»Tja, ist es aber nicht, Schätzchen.« Slo strahlte sie an. »Der Daimler steht bereit, um dich zu deinem neuen Zuhause zu entführen.«
»Unserem neuen Zuhause«, korrigierte Essie. »Liebe Güte, ich kann es kaum fassen, dass all das endlich wirklich wahr wird. Es hat so lange gedauert, bis die ganzen Formalitäten erledigt waren.«
»Wem sagst du das.« Slo nahm den Klebebandroller zur Hand. »Ich hab die Tage gezählt, seit unsre Constance mir davon erzählt hat, und das war am Tag nach dem Hochwasser. Insgesamt waren es ganze siebenunddreißig, wenn ich richtig gerechnet habe.«
»Nur etwas mehr als ein Monat? Das ist alles? Mir kam es viel länger vor.« Essie schüttelte den Kopf. »Ich hab mir an dem Tag solche Sorgen um dich gemacht, nachdem ich in den Frühstücksnachrichten des Lokalsenders vom Hochwasser in der Winchester Road gehört hatte. Ich war ganz verzweifelt, weil ich dachte, du wärst betroffen, und ich nicht wusste, ob du in Sicherheit bist.«
»So.« Slo hatte den Deckel des letzten Umzugskartons zugeklebt. »Aber uns ist ja nichts passiert, Schätzchen. Und dann bin ich gleich hierher, weil ich dir unbedingt Bescheid sagen wollte – und dir erzählen, was unsre Constance mit den jungen Leuten Rocky und Phoebe über die Wohnungsaufteilungen vereinbart hatte. Echt unschlagbar waren die jungen Leute in jener Nacht, echt unschlagbar.«
»Und all diese armen Menschen, die überflutet wurden – können die immer noch nicht wieder in ihre Häuser zurück?«
»Noch nicht.« Slo sah sich im Zimmer um. »Aber bis Weihnachten sind sie wieder daheim. Und das ist was, worauf ich mich ganz besonders freue. Wir zwei zusammen an Weihnachten. Stell dir das vor, Essie, Schätzchen. Stell dir das nur vor.«
Essie stellte es sich vor und lächelte selig.
Slo küsste sie, dann nahm er Essies Koffer in die Hand und klemmte sich den letzten Karton unter den Arm. »Gut, also, war es das jetzt?«
»Ich denke schon. Ja. Ach, ich bin ja so aufgeregt, und heute Morgen zuzusehen, wie Bert als Erster aufgebrochen ist, war fast mehr, als ich ertragen konnte.«
»Ach, die Mädels haben ihm ein echt fürstliches Willkommen bereitet, das kann ich dir sagen. Bert freut sich wie ein Schneekönig. Hat mein altes Zimmer gekriegt, und die Mädels machen ein Tamtam um ihn wie um niemand sonst auf der Welt. Und natürlich kommt die junge Amber mit Lewis und Jem nach wie vor, die führen ihn aus und machen bei seiner verflixten Papierfalterei mit, ist also alles bestens.«
Und zwischen ihr und Slo war alles mehr als bestens, dachte Essie glücklich. In fünf Minuten, nach dem offiziellen Abschied von der enormen Joy und dem kleinen Tony und ein paar Tränen mit Lilith und Prinzessin – auch wenn sie wusste, dass sie die beiden wahrscheinlich täglich sehen würde -, würden Slo und sie losfahren, um ihr restliches Leben gemeinsam zu verbringen.
Sie warf einen letzten Blick in ihr fades beiges Appartement und der nächste Bewohner tat ihr jetzt schon leid.
Wer auch immer es sein mochte, sie hoffte, er würde in Twilights glücklicher, als sie es gewesen war. Wahrscheinlich war der Betreffende bereits auf dem Weg hierher – nicht wissend, was ihn erwartete und voller Ängste wegen dieser erschütternden Umwälzung am Lebensabend. Wie auch sie damals.
Sie wünschte ihm alles Gute.
Oh, wie sie jenen Umzug gehasst hatte. Aber den hier nicht. Nein, dieser Umzug war, was sie sich gewünscht hatte seit, ach, seit langer, langer Zeit.
Sie schloss die Tür hinter sich ab und hüpfte beinahe den beigen Korridor entlang, fort von ihrer verhassten Gefängniszelle.
»Essie – Mrs Rivers …« Die enorme Joy in blauem Kostüm mit Bluse, komplett mit Schleifenkrawatte und unförmiger Handtasche, streckte die Hand aus. »Es tut uns so leid, Sie gehen zu sehen, aber wir sind enorm erfreut, dass Sie solches Glück haben. Tony, mein Männe, und ich möchten einfach nur sagen, wie sehr Sie uns fehlen werden. Und wir hoffen doch, dass Sie regelmäßig zu Besuch kommen. Und natürlich, dass Sie und Mr Motion enorm glücklich werden in Ihrem, ähm, neuen Zuhause.«
»Werden wir.« Essie entzog ihre Hand und sah strahlend von der enormen Joy zum kleinen Tony. Sie hatte sich allerhand bissige Bemerkungen ausgedacht, die sie in diesem Moment gerne von sich gegeben hätte, aber jetzt behielt sie diese für sich, weil sie einfach nur froh war, endlich fortgehen zu können und regelmäßig zu Besuch kommen zu dürfen. »Und danke, dass Sie mir den Abschied so leicht machen. Auf Wiedersehen.«
»Äh, auf Wiedersehen.« Die Tugwells wussten offensichtlich nicht so ganz, wie sie Essies abschließende Bemerkung deuten sollten. »Und viel Glück, Mrs Rivers. Alles Gute.«
»Ich brauche weder Glück noch gute Wünsche«, brummelte Essie, als sie über den in hellen Herbstsonnenschein getauchten Hof eilte. »Ich habe die Geburtstagsmagie auf meiner Seite, das weiß ich genau.«
Dann umarmte sie Lilith und Prinzessin unter einer Flut von Tränen. »Ach, bitte, weint nicht – ich bin glücklich. Ihr seid glücklich. Ihr habt eure FETA-Freunde und seid zu Besuch in unserer Wohnung jederzeit willkommen, das wisst ihr ja. Und schließlich habt ihr die junge Phoebe, die regelmäßig als Friseurin und Astrologin hierherkommt. Und natürlich gehört Rocky als Gärtner jetzt zum Stammpersonal. Die beiden werden euch auf dem Laufenden halten, wie es so schön heißt.«
Lilith und Prinzessin wischten sich die Augen und putzten sich lautstark die Nasen und nickten einhellig. Dann küsste Essie die beiden noch einmal auf die Wangen, und während alle rüstigen Bewohner von Twilights ein recht wackeliges Ehrenspalier bildeten, schritten Slo und sie Hand in Hand auf den Daimler zu.
»So, Schätzchen.« Slo half ihr auf den Beifahrersitz, bewegte sich für seine Verhältnisse recht flink zur Fahrerseite und setzte den Daimler in Bewegung. »Dann wollen wir mal. Ade, Twilights. Hallo, neues Leben. Wenn ich einen Zahn zulege, Schätzchen, sind wir rechtzeitig für ein spätes Mittagessen zu Hause. Ich dachte an Fisch und Chips – zur Feier des Tages.«
»Ach«, seufzte Essie und lehnte den Kopf gegen das alte Leder. »Das wäre himmlisch.«
»Okey-dokey!«, sagte Pauline, »das ist die letzte Dauerwelle heute Morgen. Was hast du noch?«
»Ich muss nur noch hinter Mrs Sibley aufräumen, dann bin ich auch fertig«, antwortete Phoebe, die gerade mithilfe des Kamms sorgfältige Stufen schnitt. »Und ist es für dich auch wirklich okay, wenn ich den ganzen Nachmittag freinehme? Ich meine, samstags ist immer so viel los und …«
»Natürlich ist es okay.« Pauline nickte. »Du kannst so früh gehen, wie du willst. Die anderen Mädchen werden eben ein bisschen schneller machen, falls irgendwelche Last-Minute-Kunden kommen. Es ist ein wichtiger Tag für dich, Phoebe. Du hast ja lange auf diesen Moment gewartet – und so ein Umzug ist doch immer spannend, nicht wahr?«
Spannend? Phoebe war sich nicht sicher, ob das der richtige Ausdruck war. Aber es stimmte, sie hatte auf diese Station ihres Lebens lange gewartet. Und bestimmt würde es wundervoll werden – wenn sich erst einmal alle daran gewöhnt hätten.
»So, bitte schön.« Sie schwenkte den Handspiegel, damit Mrs Sibley ihren Zickzack-Schnitt bewundern konnte. »Todschick.«
»Umwerfend, Phoebe, vielen Dank. Und jetzt ab mit Ihnen – ich weiß ja, dass Sie darauf brennen, bei sich zu Hause klar Schiff zu machen. Es war ja wochenlang Gesprächsthema hier im Salon.«
Phoebe kicherte, als sie Mrs Sibley den erdbeerroten Umhang abnahm und ihr ein paar vereinzelte Haare von den Schultern bürstete. Vor den Kunden von Cut’n’Curl konnte man aber auch kaum etwas geheim halten.
»Schön, dann wäre ich fertig. Ich geh nur eben noch meine Tasche holen, dann bin ich weg. Bis Montag, Pauline – und vielen Dank.«
»Nichts zu danken, meine Liebe.« Pauline bekam feuchte Augen. »Ich freu mich ja so, dass sich für dich letztlich doch noch alles zum Guten wendet. Du hast dieses Jahr eine echt schlimme Zeit durchgemacht. Jetzt zieh schon los – ab mit dir, bevor ich ganz sentimental werde!«
Phoebe umarmte sie kurz, griff sich ihre Tasche und ihren rosa Pulli und ging.
Während sie auf der High Street von Hazy Hassocks unter dem Laubengang aus Ahornbäumen, die gerade einen lieblichen Farbton herbstlichen Rostrots annahmen, nach Hause ging, klingelte unablässig ihr Handy. Ihre Eltern, Clemmie, YaYa, Amber und Sukie wünschten ihr alle Glück für den Umzug. Sie lächelte vor sich hin. Nicht auszudenken, was los wäre, wenn sie auswandern würde!
Als Phoebe die Abkürzung durch die Gasse neben Big Sava nahm und das letzte Stück des kurzen Weges zur Winchester Road entlangeilte, machte sie einen kleinen Hüpfer und sah sich schuldbewusst um, ob sie auch niemand gesehen hätte. Ihr Leben – knapp vier Monate nach der Hochzeit-die-nie-stattfand – ließ kaum etwas zu wünschen übrig.
Kaum etwas.
Sie bog in die Winchester Road ein und seufzte erleichtert auf. Slos Daimler parkte vor dem Haus. Der erste Teil des Umzugs war also nach Plan verlaufen. Sie konnte sich vorstellen, wie Slo und Essie drinnen aufgeregt durch die Wohnung schlichen, die Veränderungen bewunderten, die für sie durchgeführt worden waren, ihre persönlichen Besitztümer unterbrachten und sich allmählich darauf einstellten, so viel Platz und Privatsphäre zu haben.
Und selbst wenn dies das einzig Gute war, was bei alldem herauskäme, dachte Phoebe, als sie die Haustür aufschloss und dann an ihre eigene Tür klopfte, dann wäre es schon gut genug.
Slo zog die Tür auf. »Du musst doch nicht klopfen, Schätzchen. Das ist immer noch dein Zuhause. Komm doch rein – wir sind ganz überwältigt, was du für uns getan hast.«
»Phoebe!« Essie kam aus der Küche. »Ach, Phoebe! Ich kann’s noch immer nicht glauben! Du erweist uns viel zu viel der Ehre, Liebes. Das ist ja ein richtiger kleiner Palast. Die Einrichtung ist einfach ideal – wie du uns verwöhnst! Ach, und wir sind auch ganz begeistert von dem Kamin, Liebes, so gemütlich!«
Die weiße freistehende Gasfeuerstelle mit den eleganten weißen Kohlen war durch einen schwarzeisernen Kamin mit einer altmodischen Kachelumrahmung und realistischem Gasfeuer hinter künstlichen Holzscheiten ersetzt worden. Damit das Wohnzimmer weniger minimalistisch wirkte und mehr zu Slo und Essie passte, standen anstelle der weißen Sofas nun beidseits des Feuers zwei Ohrensessel und außerdem ein dazu passendes weich gepolstertes Ecksofa – groß genug, damit Slo und Essie sich ausstrecken und in aller Bequemlichkeit fernsehen konnten.
»Und mein Schlafzimmer erst! All die Rüschen und Spitzen! Wie ein Schloss in Rosa!« Essie schlug die Hände zusammen. »So ein hübsches Zimmer habe ich noch nie gesehen – und Slo kann es gar nicht fassen, dass ihr in sein Zimmer sogar Aschenbecher gestellt habt. Er hat noch nie zuvor in seinem Schlafzimmer rauchen dürfen. Ach …« Sie zog Phoebe in ihre Arme. »Wie können wir dir jemals dafür danken? Ist das wirklich dein Ernst?«
»Natürlich ist das mein Ernst.« Phoebe küsste Essie auf die Wangen. »Ich freue mich so sehr für euch beide. Kannst du auch all deine Sachen unterbringen?«
»Aber ja. Ich bin so froh wie eine Maus im Haferstroh. Und gehst du nun nach oben?«
Phoebe nickte. »Hmm. Ich denke, Rocky hat im ersten Stock alles hergerichtet, aber ich muss es mir erst noch ansehen.«
»Gutes Mädchen – wie schade, dass …«
»Nicht doch, Essie, bitte. Besser geht’s nicht. Und außerdem reicht es für mein Glück völlig aus, dass du aus Twilights raus bist und mit Slo zusammen sein kannst.«
»Ich habe es bis jetzt zwar noch nicht angesprochen, Phoebe, aber ich weiß, dass du den Geburtstagszauber auf uns angewendet hast. Als wir das erste Mal hier waren, nicht wahr? Ich bin mir zwar nicht ganz sicher wie, aber …«
»Ihr wart in der Sonne eingenickt«, gab Phoebe zu, weil sie wusste, dass es nun keine Rolle mehr spielte. »Die Gelegenheit war zu ideal, um sie nicht zu nutzen. Du hattest mir ja schon erzählt, dass du Slo die Fünf Fragen gestellt hattest und wusstest, dass er der Richtige für dich ist. Ich habe ja gesehen, wie glücklich ihr miteinander wart, da, ähm, habe ich dem Ganzen nur noch einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gegeben.«
»Gott sei Dank hast du das getan!«, sagte Essie leidenschaftlich. »Du hast mein Leben verändert. Und jetzt verwendest du die Geburtstagsmagie bei deinen Beratungen, nicht wahr?«
»In manchen Fällen, ja.«
Seit ihren bescheidenen Erfolgen beim Sommerfest hatte Phoebe das Kartenlegen und die astrologischen Beratungen ausgebaut und war mittlerweile in der ganzen Gegend sehr gefragt. Seit sie wieder an ihre eigenen Fähigkeiten glaubte, hatte sie den Dreh heraus, die Zukunft ihrer Klienten genau vorherzusagen. Und ja, sie hatte bei mehr als einer Gelegenheit die magische Geburtstagsformel angewendet, aber natürlich nur, wenn die Paare zusammenpassten. Und es hatte jedes Mal funktioniert.
Eine ausufernde Orgie in Gang zu setzen, würde sie allerdings nie wieder riskieren.
»Ich möchte, dass du damit weitermachst, das weißt du ja. Es ist sehr schön für mich zu wissen, dass ich meine Kenntnisse und die Geheimnisse der Roma an jemanden weitergeben konnte, der sie richtig anzuwenden weiß. Nur schade, dass du den Geburtstagszauber nicht an dir selbst ausübst, Liebes. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob man sich überhaupt selbst bezaubern kann, aber einen Versuch wäre es wert«, sagte Essie leise. »Vor allem, weil du ja nun weißt, was du willst. Ich meine, nachdem …«
»Nachdem Ben wieder aufgetaucht ist«, sagte Phoebe. »Tja nun, das war ganz schön scheußlich, aber, hey, Schnee von gestern. Also, dann lass ich euch mal richtig ankommen und geh hoch, um zu sehen, was Rocky so macht.«
»Ihr leistet uns doch nachher im Garten Gesellschaft bei Fisch und Chips, wenn wir uns alle eingerichtet haben, oder? Es ist schön warm draußen für Oktober.« Slo steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Wir laden euch ein, um uns ordentlich zu bedanken.«
»Gerne, danke. Bis später dann.«
Dann holte Phoebe tief Luft und rannte die Treppe hinauf zu ihrem neuen Zuhause.
 
Jener denkwürdige Tag nach dem Hochwasser, als Ben wieder aufgetaucht war wie das sprichwörtliche Unkraut, das nicht vergeht, war eindeutig ein Wendepunkt gewesen, das wusste sie jetzt. Nicht nur war Phoebe klar geworden, dass sie ihr neues Leben weit mehr genoss als das alte und dass sie, was auch immer sie einst für Ben empfunden hatte, ihm nie wieder vertrauen könnte und ganz sicher nicht verzeihen. Sie hatte außerdem gemerkt, dass sie ihn definitiv nicht zurückhaben wollte.
Wegen Rocky.
Nachdem Rocky sie zusammen im Garten gesehen und zwei und zwei zusammengezählt hatte, um ungefähr fünfhundert herauszubekommen, hatte Ben die Botschaft endlich verstanden und war gegangen. Unter Tränen. Das war echt scheußlich gewesen, dachte Phoebe, aber leider unvermeidlich.
Und als Ben Türen knallend gegangen war, hatte Phoebe allein im Garten gestanden und gewusst, dass sie Rocky verloren hatte.
Das hatte viel, viel mehr wehgetan.
Den Buschtrommeln von Hazy Hassocks zufolge wohnte Ben nun wieder bei seinen Eltern, hatte seinen alten Job zurück, und sie hoffte, dass er glücklich war. Aber sie wollte ihn niemals wiedersehen.
»Hallo«, rief sie durch Rockys offene Wohnungstür. »Kann man gefahrlos reinkommen?«
Bon Scott knurrte sich durch einige der zweifelhafteren Texte von AC/DC.
»Ja – ich glaube, ich bin für die Inspektion bereit«, rief Rocky zurück. »Alles eingerichtet, schöne symmetrische Linien im Stil von Hercule Poirot, und jedes Ding an seinem Platz.«
Phoebe betrat die Diele. Seit sie vereinbart hatten, dass Essie und Slo Phoebes Wohnung bekommen sollten und sie in das hier freistehende Zimmer ziehen würde, hatte sich Rocky in Bezug auf seine Renovierungspläne sehr bedeckt gehalten, allerdings hatte sie ihn hinsichtlich des freien Zimmers um etwas Neutrales gebeten, damit sie dem Raum noch ihre persönliche Note aufdrücken könnte, und für das Wohnzimmer hatten sie sich auf Gold als Wandfarbe geeinigt, da dies gut zu ihrer beider Mobiliar passte.
Was dabei herausgekommen war, hatte sie bislang noch nicht gesehen.
»Wow!« Sie sah sich im Wohnzimmer um, wo ihre Sofas und Schränkchen vor den zart goldenen Wänden wunderbar mit Rockys bunt zusammengewürfelter Einrichtung harmonierten. Mit goldfarbenen Läufern auf den lackierten Bodendielen und ihrem neu installierten weißen Gaskamin sah es sowohl modern als auch gemütlich aus.
»Es ist fantastisch. Erstaunlich. Du hast so hart gearbeitet …«
»Um aus einer heruntergekommenen Junggesellenbude etwas Passendes für einen Kontrollfreak als Mitbewohner zu machen?« Rocky grinste sie an. »Ich hoffe doch. Kissen im richtigen Winkel? Die einzelne Blume in der minimalistischen Vase am rechten Platz? Läufer gerade? Deckenstrahler korrekt ausgerichtet?«
»Absolut.« Phoebe lachte. »Rocky, es ist vollkommen. Ich danke dir.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, auch wenn ja um ein Haar nichts draus geworden wäre, stimmt’s?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tja, du hattest die völlig verkehrten Schlüsse aus der Situation gezogen. Und es hat ja echt Ewigkeiten gedauert, dich davon zu überzeugen, dass … nun ja …«
»Ich war so was von angefressen, das kannst du dir gar nicht vorstellen.« Rocky zuckte die Schultern. »Ich war erschöpft, aber irgendwie auch aufgekratzt nach dieser echt irren Nacht, und hatte mich so sehr darauf gefreut, dich wiederzusehen, um über die Wohngemeinschaft zu sprechen und … und dann komm ich nach Hause und sehe dich mit diesem Vollidioten und höre – nach allem, was er dir angetan hat – wie er dir seine unsterbliche Liebe erklärt.«
»Ich habe die Liebeserklärung aber nicht erwidert.«
»Nein, das weiß ich jetzt ja. Entschuldige, Süße, ich hätte wirklich mehr Vertrauen in dich haben sollen. Aber egal, Schwamm drüber, nun bist du frei und ungebunden, Ben gehört der Vergangenheit an, wir sind alle ein gutes Stück weiter – und Essie und Slo …«
»Haben uns nachher zu Fisch und Chips eingeladen und sind über ihre Wohnung vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. Ich staune nur, dass die Mietvertragsänderungen so glatt über die Bühne gegangen sind. Und so schnell. Ach, da fällt mir ein, wenn ich jetzt hier oben wohne, müssen wir meinen Untermietvertrag ja auch noch ausarbeiten und all das, oder?«
»Ja – aber bevor wir uns um diesen langweiligen Kram kümmern, willst du doch sicher erst einmal dein Zimmer sehen. Ich habe all deine Koffer und Sachen dort aufgestapelt, sodass du auspacken kannst, wann immer du so weit bist. Es ist dieses hier – mit Blick auf die Straße.«
Gespannt lugte Phoebe in ihr neues Zimmer.
»Oh …«
Nach der magischen Verwandlung des Wohnzimmers entsprach dieser Raum in keiner Weise dem, was sie erwartet hätte. Fliederfarben, sauber und ordentlich mit einem Polsterbett und spartanischer Möblierung hatte es den Charme eines mittelmäßigen Hotelzimmers.
»Wie du vorgeschlagen hast, habe ich reichlich Raum für eigene Gestaltung gelassen. Wie auch du bin ich, als Mindy ging, aus dem vorderen Schlafzimmer ausgezogen.« Rocky lehnte sich gegen den Türrahmen. »Wie auch du habe ich ein neues Bett gekauft, neue Möbel, habe renoviert – und einen neuen Anfang gemacht. Mein Zimmer geht jetzt nach hinten raus, mit Tür zum Balkon.«
Tja, was sonst? Etwas anderes war ja wohl kaum zu erwarten gewesen, oder?
»Es ist, ähm, sehr hübsch«, sagte Phoebe rasch, um ihn ihre Enttäuschung nicht merken zu lassen, und dachte kurz an ihr herrliches rosa Rüschenzimmer im Erdgeschoss zurück. »Schön – auch wenn ich vielleicht noch ein paar Farbtupfer hinzufügen muss.«
»Das kannst du natürlich machen, wie du willst. Es gibt da allerdings noch etwas anderes, das wir klären sollten, wenn wir nun zusammenwohnen.«
»Ja, ich weiß – die Miete. Und wir haben auch Essie und Slo ihre Mietverträge noch nicht gegeben – ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob ich nicht bei der Hausverwaltung irgendein neues Formular hätte unterschreiben müssen …«
»Essie und Slo müssen keine Miete zahlen. Das werde ich ihnen nachher beim Fisch-und-Chips-Essen sagen.«
»Was? Na ja, ich meine, das ist wirklich großzügig, und natürlich haben die beiden nicht viel Geld, aber können wir uns das wirklich leisten, sie zu unterstützen?«
»Du wirst auch keine Miete bezahlen.«
»Wie bitte? Jetzt versteh ich gar nichts mehr – hast du im Lotto gewonnen oder so was? Oder hast du uns alle auf Kosten der Wohlfahrt als Obdachlose registrieren lassen? Oder …?«
»Du hast deinen Mietvertrag offenbar nie besonders genau durchgelesen, was?«
»Hab ich wohl! Jedes Wort. Weißt du, nur weil ich Friseurin bin und Esoterikerin, heißt das noch lange nicht, dass ich nur Stroh im Kopf hätte.«
»Süße«, sagte Rocky lachend, »du bist so komisch, wenn du selbstgerecht wirst. Und ich bezweifle nicht, dass du in der Lage bist, das Kleingedruckte zu lesen. Aber hast du denn nie nachgesehen, wer der Hauseigentümer ist?«
»Nein, warum sollte ich? Wer ist es denn?«
»Ich bin’s.«
»Was?«
»Meine Eltern haben mir dieses Haus zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Es war bereits in zwei Wohnungen aufgeteilt, und in Ziegelsteine zu investieren, sagten sie, sei im Augenblick der einzige zukunftsweisende Weg. Und so habe ich, als ich eingezogen bin, das Erdgeschoss vermietet, als zusätzliches Einkommen. Aber das Haus ist abbezahlt. Es gehört mir. Voll und ganz.«
»Dir gehört dieses Haus?« Phoebe blinzelte. »Und du willst keine Miete von mir?«
»Ja. Nein. Wir teilen uns die Wohnung, Süße. Wir werden die Nebenkosten teilen, aber das ist alles. Mein Haus ist jetzt unser Zuhause.«
Phoebe wollte ihn küssen. Richtig küssen. Sie wünschte sich schon sehr lange, ihn richtig zu küssen. Wieder einmal riss sie sich zusammen und tat es nicht.
»Ich weiß ehrlich nicht, was ich sagen soll. Ich bin total von den Socken. Ich hatte ja keine Ahnung. Ähm …«
»Dann lassen wir das doch einfach mal so stehen, okay?« Rocky grinste sie an. »Und außerdem, deine Miete und dass mir das Haus gehört, war nicht das, was ich klären wollte.«
»Nicht?«
»Nein. Da war noch eine andere Kleinigkeit, nämlich eine frühere üble Unterstellung gegen mich. Komm mal mit.«
Sie hatte ihm doch nie etwas Übles unterstellt, oder etwa doch? So etwas würde sie doch nie tun? Tja, da war natürlich dieses kleine Missverständnis ganz am Anfang gewesen, dass sie ihn für einen gewalttätigen Kriminellen und Axtmörder gehalten hatte, aber das war doch wohl schon alles vergeben und vergessen, oder etwa nicht?
Völlig verwirrt folgte Phoebe ihm den Flur entlang und gab sich dabei wirklich alle Mühe, nicht ins Schwärmen zu geraten über seine langen Beine in den Jeans oder seine Schultern unter dem Jimi-Hendrix-T-Shirt oder …
»So«, sagte Rocky, als er stehen blieb. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir unterstellt, in meinem Zimmer wären die Wände gepflastert mit Flugzeugbildern, AC/DC-Postern und lebensgroßen Pin-up-Girls, war es nicht so? Nun, sieh selbst …«
Er drückte die Tür des zweiten Zimmers auf.
»Oh.« Phoebe hielt den Atem an. »Oh.«
Mit offener Balkontür und in der warmen Herbstbrise wehenden weißen Gardinen war der ganze Raum in grünes und goldenes Licht getaucht. Ein Raum mit weißen Wänden, abgeschliffenen Bodendielen, hellgrünen Möbeln und dem größten Bett, das Phoebe je gesehen hatte. Ein riesiges schwarzes Eisenbett mit Kissenbergen in weißer Baumwollbettwäsche. Und auf einem der pastellfarbenen Nachttische stand ein riesiger Strauß mit üppigen rosaroten Blumen … und, oh mein Gott, die Zimmerdecke war in hellem Pink gestrichen …
»Nun?« Rocky sah sie an. »Du hast die Wahl.«
»Welche Wahl?« Phoebe schaffte es, Worte hervorzubringen, in etwas, das halbwegs ihrer eigenen Stimme ähnelte. »Ach, du bist bestimmt auch mit dem nüchternen Vorderzimmer sehr zufrieden.«
»Nicht unbedingt meine erste Wahl.« Rocky zog sie an sich und küsste sie. »Versuch’s noch mal …«
 
Ewigkeiten später, nachdem die ordentliche Baumwollbettwäsche total zerwühlt war, drehte Phoebe auf dem Berg dicker Daunenkissen schläfrig den Kopf und küsste Rocky auf die nackte Schulter.
»Und?« Er lächelte zu ihr herab.
»Ach, viel schöner als die Luftmatratze«, flüsterte sie verschlafen, ihr Körper schwebte selig entrückt irgendwo knapp unter der hübschen rosa Zimmerdecke.
Rocky lachte leise und küsste sie. Erneut. Sie wusste, dass sie dieser Küsse nie überdrüssig würde.
»Eigentlich meinte ich – und, glaubst du, diese Art Wohngemeinschaft könnte dir zusagen?«
»Ich denke, ich könnte mich damit arrangieren, ja. Aber …«
Rocky runzelte die Stirn. »Nach alldem gibt es immer noch ein Aber?«
»Hmm – ich muss dich was fragen. Nun, eigentlich sind es Fünf Fragen.«
»Oh nein, nicht wieder dieser alte Hexenkram. Essie hat mich gewarnt.«
»Tu mir den Gefallen.«
Rocky gab einen gespielt tiefen Seufzer von sich. »Ach, na gut, da wir ja zusammenleben müssen – also schieß los.«
In Rockys Arme gekuschelt stellte ihm Phoebe die Fünf Fragen und dachte, ja, wusste zugleich, wenn die Antworten nicht passten, würde sie nichts darauf geben, sondern der magischen Geburtstagsformel für immer abschwören.
Rocky antwortete, und der Klang seiner Stimme vibrierte in ihrem Körper.
Nachdem sie benommen das Datum ermittelt hatte, kicherte sie. »Dein Geburtstag? Ist das wirklich dein Geburtstag? Essie hat dir nichts vorgesagt?«
»Nein, das ist wirklich mein Geburtstag. Und hör auf zu lachen.«
»Erster April! Das hätte ich mir nicht träumen lassen.« Phoebe rollte sich glücklich zu ihm hin. »Ich meine, nach der Formel des geheimen Geburtstagszaubers sind wir total, absolut, ganz und gar wie füreinander geschaffen.«
»Eigentlich«, murmelte Rocky und küsste sie, »hatte ich daran keinen Zweifel. Also, sollten wir jetzt aufstehen, um Essie und Slo bei Fisch und Chips Gesellschaft zu leisten?«
»Schwere Entscheidung«, flüsterte Phoebe gegen seine Brust gewandt und fuhr die Umrisse seines schönen Munds mit den Fingerspitzen nach. »Aber ich glaube, Fisch und Chips können noch einen Augenblick warten, meinst du nicht auch?«