18.
Kapitel
»… und du bereust es wirklich nicht, das Sommerfest
zu verpassen, Schätzchen?« Slo sah Essie, die neben ihm am weichen
moosigen Flussufer saß, fragend an. Ihrer beider Schuhe, Socken und
Sandalen lagen bunt durcheinander, und sie hatten die Hosen bis zu
den Knien hochgerollt. »Ich weiß doch, wie sehr du dich darauf
gefreut hast.«
»Ganz ehrlich, nein, überhaupt nicht. Nicht bei
dieser Alternative.« Essie lächelte und wackelte wohlig mit den
Zehen im Wasser. »Außerdem fahren wir ja rechtzeitig zurück für das
Unterhaltungsprogramm und das Feuerwerk. Allerdings tut es mir
leid, dass ich der jungen Phoebe jetzt nicht beim Wahrsagen helfen
kann. Das hatte ich ihr versprochen.«
»Sie kommt bestimmt bestens zurecht. Sie ist ein
tüchtiges Mädchen. Wahrscheinlich hat sie keine Sekunde an dich –
oder mich – gedacht. Noch Champagner?«
Essie kicherte und hielt ihm ihr Glas hin. »Ja
bitte. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt so verwöhnt worden
bin. Das war eine wundervolle Idee.«
Slo schenkte Essie nach und beugte sich dann
ächzend nach vorne, um die Champagnerflasche wieder in den Fluss zu
tauchen, wobei er sich vergewisserte, dass sie fest an einem
Schnur-um-Baumwurzel-Anker vertäut war. Anschließend setzte er sich
unter heftigem Schnaufen und Keuchen wieder auf und schwenkte die
Füße im kristallklaren Wasser.
Essie hob ihr Glas. »Zum Wohl. Wie schade, dass du
als Fahrer nur ein Glas trinken konntest. Aber dafür hast du ja
reichlich von den Erdbeeren genascht. Welch ein Luxus – Erdbeeren
und Champagner am Fluss und keine Menschenseele weit und
breit.«
»Hmmh.« Slo nickte. »Weißt du, ich dachte mir, wo
alle bei dem Sommerfest sind, dass wir dieses Plätzchen den ganzen
Nachmittag bis zum Abend für uns hätten – und so ist es ja auch.
Wahrscheinlich ist dies der einzige kühle Fleck in der ganzen
Grafschaft. Es war wirklich wundervoll, Essie, Schätzchen.«
Sie lächelten einander an.
Essie nippte an ihrem Champagner, und während sie
müßig beobachtete, wie der Fluss sich langsam und sanft auf das den
Blicken entzogene Wehr zuschlängelte, genoss sie das Prickeln der
Bläschen auf ihrer Zunge und an ihrem Gaumen. Essie hörte, wie die
Strömung außer Sichtweite hinter ihrem schattengesprenkelten
Versteck an Geschwindigkeit gewann, gegen knacksende Äste schlug
und die herabhängenden Weidenzweige in ihrem schaumigen Kielwasser
umherwirbelte.
Die Stadt Winterbrook lag außer Sicht- und
Hörweite, das Bootshaus von Guy und Clemmie Devlin hingegen gleich
hinter der nächsten Biegung, in der Ferne hörte man das Rauschen
und Tosen des Wehrs, und die frühabendliche Hitzewelle war zu
sanfter Wärme gemildert. Hier, an diesem einsamen Flecken Flussufer
war es, als wären sie und Slo die einzigen Menschen auf der
Welt.
Neben ihr zündete Slo sich eine Zigarette an und
blies zufrieden den Rauch in einer kreiselnd aufsteigenden Säule
changierender Grau- und Blautöne nach oben.
»Füße sind schon etwas Komisches, findest du
nicht?« Essie sah auf ihrer beider nebeneinander befindlichen Füße
unter
der Wasseroberfläche hinab. »Besonders wenn man älter wird. Man
bemerkt die Veränderungen gar nicht. Man wacht einfach eines
Morgens auf, und sie sind irgendwie zerfurcht mit blauen knotigen
Äderchen, und auf einmal braucht man einen guten Freund mit einer
Beißzange, um die Zehnägel zu schneiden. Geht’s dir nicht auch so?
Und Beine! Die sind auch über Nacht plötzlich von sichtbaren Adern
überzogen und ganz fleckig geworden, und wenn man älter wird, sind
sie irgendwann glänzend und unbehaart …« Sie brach ab und kicherte.
»Entschuldige, vom Champagner werde ich ganz redselig. Ach, wie ich
das hier genieße!«
Slo, der sein schwarzes Jackett abgelegt und die
Ärmel seines altmodischen kragenlosen gestreiften Hemdes
hochgerollt hatte, berührte zärtlich ihre Hand. »Ich auch, Essie,
Schätzchen. Ich auch.«
Sie seufzten vor Glück.
Natürlich, dachte Essie, war dies nicht von Dauer.
Konnte nicht von Dauer sein. Nicht dieses glückselige Miteinander.
Bald musste sie wie ein Rentner-Aschenputtel nach Twilights zurück
und Slo heim in die Winchester Road, um sich dem Zorn von Constance
und Perpetua zu stellen.
Wieder einmal.
»Die beiden waren stinksauer, Schätzchen«, hatte
Slo mit heiserem Lachen erzählt, als er an diesem Nachmittag in
Twilights angekommen war. »Außer sich wie aufgescheuchte Hühner,
dass wir sie am Samstag an der Nase herumgeführt haben. Aber sie
sind nicht darauf gekommen, wo wir gesteckt hatten. Perpetua
zufolge dachte Constance, als sie den Daimler in der Auffahrt
stehen sahen, dass ich im Haus wäre, so wie wir gehofft hatten. Sie
hat angefangen zu suchen wie ein Hund nach seinem Knochen. Wollte
nicht aufgeben. Trotz der Hitze, hat Perpetua gesagt, ist unsre
Connie stundenlang durchs
Haus gerannt und hat mir nachgespürt wie die Rauschgiftfahndung
bei einer Razzia im Morgengrauen, bloß nicht in kugelsicherer Weste
mit Helm, sondern im Paisleykleid mit toupiertem Haar.«
»Und als du schließlich nach Hause gekommen
bist?«, hatte Essie zögerlich gefragt. »Nachdem wir uns von Phoebe
verabschiedet hatten und du mich wieder in Twilights abgesetzt
hattest? Haben sie dir die Hölle heiß gemacht?«
»Perpetua eigentlich nicht, sie hatte sich nur
ziemlich Sorgen gemacht und war froh, mich wiederzusehen. Constance
hat mir eine Gardinenpredigt gehalten, aber ich bin meinen Mann
gestanden, Schätzchen. Kurz und gut hab ich ihr erklärt, dass ich
mich anfreunde, mit wem ich will, und sie das überhaupt nichts
angeht.«
Darüber hatte Essie sich gefreut. So unangenehm es
ihr auch war, im Haushalt der Motions ein Zerwürfnis zu
verursachen, so glücklich war sie auch, dass Slo für sich einstand.
Und für sie.
»Und heute Nachmittag? Wissen sie Bescheid?«
»Dass ich hier bin, Schätzchen? Nein. Sie machen
sich nichts aus Volksfesten und solchen Sachen – ein bisschen zu
viel Fröhlichkeit für ihren Geschmack. Sie sind zu Hause und
laminieren die Preislisten und putzen den Leichenwagen. Sie haben
nicht gefragt, wo ich hingehe, und ich habe es ihnen nicht gesagt.
Einer der Gründe, warum ich mir dachte, es ist besser, nicht
hierzubleiben. Es gibt viele Leute aus Hassocks, die es den beiden
gleich erzählen würden, wenn sie uns zusammen sehen. Ich hätte da
einen anderen kleinen Plan …«
Was, dachte Essie, ihr im ersten Moment den Boden
unter den Füßen weggezogen hatte, denn so sehr sie auch das
Wiedersehen mit Slo herbeigesehnt hatte, so sehr hatte sie sich
auch auf das Sommerfest gefreut. Aber nun – sie lächelte
träumerisch
– war ihr klar, dass dieser Rückzug ans Flussufer mit Slo und
Erdbeeren samt Champagner viel, viel schöner war als jedes
Fest.
Doch es konnte nicht von Dauer sein.
»Weißt du, Schätzchen«, Slo schnippte seinen
Zigarettenstummel ins Wasser, »ich habe nachgedacht. Seit letztem
Samstag ist irgendwas anders. Zwischen uns. Dir und mir. Ich fühl
mich, tja, anders.«
Essie schwenkte ihre Füße. »Ich auch. Merkwürdig,
nicht wahr?«
Slo hustete und drückte ihre Hand ein wenig
fester. »Ja, das kann man sagen. Hör mal, ich glaube, ich schenk
dir lieber reinen Wein ein. Ich hatte noch einen anderen Grund für
diesen kleinen Ausflug heute Nachmittag.«
»Ach so?« Essie stockte das Herz. Womöglich wurden
ihre Gefühle nicht erwidert? Womöglich hatte Slo beschlossen, er
gehöre zu seinen Cousinen und nicht zu ihr? Womöglich …?
Slo nickte. »Ja, ich wollte dir sagen – ach, was
red ich denn – ist ja wirklich blöd.« Er holte tief Luft, sodass es
unter seinen Rippen pfiff und rasselte. »Also, nun, meine Gefühle,
sind, tja, ich weiß auch nicht. Aber was ich weiß, ist, dass ich
noch nie zuvor solche Gefühle hatte. Ich will immer bei dir sein,
Essie, Schätzchen, das ist eine Tatsache. Ich zähl die Minuten, bis
wir wieder zusammen sein können. So, bitte. Jetzt kannst du mich
auslachen.«
»Ich lache nicht.« Essie wandte den Kopf und sah
ihn an. »Genauso geht es mir auch. Meine Güte, wir klingen geradezu
wie verliebte Teenager.«
»Verliebt … Verliebt. Das ist es, Schätzchen.
Genau das ist es. Ich bin richtig von Herzen verliebt.«
Essie atmete aus. Sie beide! Aber das hatte sie
nicht geplant, oder doch? Sie hatte von der ersten Begegnung an
gewusst,
dass Slo und sie zusammenpassten. Die Fünf Fragen, die ihr sein
Geburtsdatum enthüllt hatten, hatten es ihr verraten.
Aber sie hatte die Geburtstagsmagie bei ihm doch
gar nicht angewandt! Wirklich äußerst merkwürdig.
Und tragisch. Denn es gab so gar keine Möglichkeit
für sie beide, zusammen zu sein. Sie könnte ja wohl kaum bei Slo
und seinen grässlichen Cousinen mit einziehen, und in Twilights
zusammenzuwohnen war auch nicht möglich. Die Doppelappartements
waren nur für Geschwister wie Patience und Prudence, nicht für
freundschaftlich verliebte ältere Paare.
So ein Mist.
»So.« Slo wandte denKopf und sah sie an. »Was
machen wir nun, Essie, Schätzchen? Ich bin noch nie zuvor verliebt
gewesen. In Sachen Liebe bist du mir voraus, da du ja schon
verheiratet warst, aber für mich ist es das allererste Mal.« Er
lächelte schüchtern. »Aber es ist wirklich schön, findest du
nicht?«
»Das ist es.« Essie drückte seine knotige Hand.
»Aber dadurch wird alles so kompliziert. Und ich frage mich immer
noch, warum wir erst seit Samstag so empfinden. Ich meine, ich
hatte dich sehr gern, habe deine Freundschaft sehr genossen, mich
darauf gefreut, dich zu sehen, aber …«
»Ja, ich auch. Und dann auf einmal – wumm! Oh,
nicht sofort. Bloß später am Abend, als ich den Krach mit unserer
Connie hatte, da wusste ich, dass ich sie und Perpetua und die
ganze blöde Firma, wenn es sein müsste, sausen lassen würde, um mit
dir zusammen zu sein.«
Essie schluckte. »Das kannst du nicht machen. Du
weißt, dass du das nicht machen kannst. Wir sind keine
Jugendlichen, die ihr Schicksal in Gottes Hand legen und mit Nichts
einen Hausstand gründen, in der Hoffnung, dass im Lauf der Jahre
schon alles irgendwie werden wird. Wir haben nicht den Luxus von
reichlich Zeit oder Geld. Ich schätze, wir müssen
einfach unter den gegebenen Umständen das Beste daraus
machen.«
»Das ist zu wenig«, sagte Slo kurz und knapp. »Oh,
versteh mich nicht falsch, Schätzchen. Ich meine nicht
irgendwelchen Kamasutra-Kram, sondern einfach nur, die ganze Zeit
beieinander zu sein, unser Leben und unsere Tage gemeinsam zu
verbringen, miteinander Spaß haben und reden und na ja …«
»Zusammen zu sein als liebende Freunde.«
»Genau.« Slo zündete sich noch eine Zigarette an.
»Weißt du, ich bin vielleicht nur ein alter Trottel, aber ich habe
über alles reichlich nachgedacht und sehe einfach keinen anderen
Weg. Ich weiß, dass du kein Geld hast, nach dem, was deine
verdammten Kinder dir angetan haben, und alles, was ich habe,
steckt in der Firma. Das Haus gehört uns zu dritt, und das Geschäft
ebenso. Wir haben also keinerlei Startkapital.«
»Nur unsere Renten«, bestätigte Essie. »Ein
Almosen. Wir sind zu alt, um von Luft und Liebe zu leben, zu alt,
um eine neue Arbeit zu finden oder ein Haus zu kaufen oder, na ja,
irgendwas.«
Schweigend saßen sie eine Weile da, lauschten dem
sanften, beruhigenden Gluckern des Flusses und den über ihren
Köpfen raschelnden Blättern. Essie lächelte wehmütig vor sich hin.
Sie mussten eben aus dem, was sie hatten, das Beste machen. Es wäre
nicht vollkommen, aber sie könnten sich weiterhin treffen und so
viel Zeit wie möglich miteinander verbringen.
Auch wenn sie sich eigentlich beide etwas anderes
wünschten?
»Nachdem das jetzt raus ist«, sagte Slo mit
wohligem Seufzen, während sie sich erneut die Hände drückten, »und
du mich nicht ausgelacht hast, geht es mir schon sehr viel besser.
Jetzt müssen wir nur noch austüfteln, was wir machen sollen.«
Essie gluckste. »Ganz schön knifflige Aufgabe.
Ach, hör
doch. Kommt da ein anderes Auto? Ein Liebespaar auf der Suche nach
einem ruhigen Plätzchen zum Schmusen?«
»Schmusen. Schönes Wort, Schätzchen. Wir haben den
ganzen Nachmittag mit Schmusen verbracht, nicht wahr? Aber du hast
recht – ich glaube, da kommt noch ein Liebespaar im Auto den
Kiesweg entlang.«
»Verflixt. Ich will nicht, dass irgendwer in unser
Paradies eindringt.«
»Ich auch nicht, Schätzchen, aber ich fürchte,
darauf läuft es wohl hinaus. Sich ducken und abtauchen, ausweichen
und verduften, alles geheim halten und – au Backe!«
»Was denn?«
»Es ist der verdammte Leichenwagen! Das Geräusch
von diesem Motor erkenne ich überall. Schnell, Schätzchen!
Schnell!«
Bei einem gemeinsamen Alter von über
hundertfünfzig war schnell ein ziemlich
relativer Begriff. Aber nachdem sie die Füße aus dem Wasser gezogen
hatten, schafften es Slo und Essie, Schuhe und Kleider,
Picknickdecke, Champagnergläser und diverse Überbleibsel
zusammenzuraffen und barfuß ächzend zum Daimler zu humpeln.
»Die Schampusflasche müssen wir dalassen«, keuchte
Slo, als er alles andere auf den Rücksitz warf. »Keine Zeit, sie
loszubinden. Aber sie war ja ohnehin fast leer, oder? Und nun rein
mit dir, Schätzchen. Alles klar? Hast du alles? Angeschnallt? Gut,
und los geht’s – halt dich fest.«
Das Röhren des Daimlers zerriss die ländliche
Idylle, er schlitterte über den Kies und schoss an dem Leichenwagen
vorbei, der gerade ausrollend majestätisch zum Stehen kam. Perpetua
äugte mit reichlich verschrecktem Gesicht zu ihnen herüber.
»Slo!«, brüllte Constance aus dem offenen Fenster.
»Slo Motion!
Auf der Stelle kommst du zurück! Du und dein geldgieriges
Flittchen. Halt an! Sofort!«
Anhalten, dachte Essie übermütig, als der
Vorwärtsschub des schon älteren Wagens und des noch älteren Fahrers
sie in den Beifahrersitz zurückwarf, war ganz sicher das Letzte,
was sie vorhatten.
Slo raste über das Lenkrad gebeugt wie ein Wilder,
bis sie nach Winterbrook in den Feierabendverkehr kamen. Essie
widerstand dem Drang zu kichern, als Slo, ohne auf trötende Hupen
und ärgerliche Handzeichen zu achten, mit dem Wagen in der
Innenstadt durch die Autokolonnen Heimreisender brauste. Jetzt
geht’s wieder rund, dachte Essie vergnügt. Wahrscheinlich werden
wir unser restliches Leben lang von einem Leichenwagen durch
Berkshire gejagt.
»Weiß ja nicht, wie sie uns aufgespürt hat«,
schnaufte Slo, »aber von der lassen wir uns nichts verderben. Zu
mir kann sie ja sagen, was sie will, aber dich wird sie schön in
Ruhe lassen, Schätzchen. Alles okay bei dir?«
»Vollkommen«, sagte Essie matt, als sie in
Windeseile aus Winterbrook hinaus auf die enge Landstraße Richtung
Hassocks fuhren. »Das ist ganz schön spannend.« Sie reckte den Hals
nach hinten. »Oh, sie sind uns noch immer auf den Fersen. Es sind
zwar einige Autos dazwischen, aber manche Leute lassen sie aus
lauter Höflichkeit vorbei.«
»Verfluchter Leichenwagen!«, knurrte Slo. »Die
meisten wohlerzogenen Trottel bremsen für einen Leichenwagen. Ist
ihnen unheimlich, weißt du. Mensch, diese Pedale sind ganz schön
hart an meinen Füßen.«
»Du fährst barfuß!«, kreischte Essie, wobei ihr
Haarsträhnen in Augen und Mund wehten. »Ach, das wird ja immer
besser und besser!«
So war es wirklich, dachte sie leicht schwindelig,
während
die Katz-und-Maus-Jagd weiterging. Es war herrlich aufregend nach
den vielen Monaten des Eingekerkertseins in Twilights und nach dem
Überfall, einfach wunderbar, sich jetzt wieder lebendig zu
fühlen.
Sie liebte Slo, Slo liebte sie, und alles andere
verblasste zur Bedeutungslosigkeit.
Und nun, nach der glückseligen Zweisamkeit bei
Erdbeeren und Champagner war diese verrückte Verfolgungsjagd mit
Slo, bei der sie wie Bonnie und Clyde im Greisenalter im Affentempo
über die Landstraßen sausten, das perfekte Finale ihres
Ausfluges.
»Sie sind noch immer hinter uns.« Essie schob sich
die Haare aus den Augen und linste erneut über die Schulter. »Gib
Gas, Slo! Das ist spitze!«
Er grinste zu ihr hinüber, als der Daimler eine
enge Kurve auf zwei Rädern nahm. »Du bist mir ja eine, Essie! Die
meisten Damen würden hysterische Schreikrämpfe bekommen. Halt dich
fest, Schätzchen! Jetzt kommt der Endspurt.«
Erstaunlich geschickt hatte Slo die Hauptstraße
von Hazy Hassocks umfahren und brauste nun auf Twilights zu.
»Sieh an!« Als sie in einer Staubwolke das Ziel
erreichten, beäugte Essie die zahlreichen Wagenreihen auf dem Feld.
»Sieht aus, als wäre das Fest ein bombiger Erfolg. So viele Autos
stehen noch hier! Und – ach, schau! Drüben bei der Bühne – Massen
von Leuten … Die meisten liegen anscheinend am Boden. Findest du
das nicht ziemlich merkwürdig? Die Show hat wohl schon angefangen,
und, ach, wo fahren wir denn hin?«
»Auf dem Parkplatz bleiben wir jedenfalls nicht,
so viel steht fest«, zischte Slo. »Ich will so weit wie möglich
außer Sichtweite. Wir lassen den Wagen auf der Rückseite von
Twilights stehen und mischen uns dann unter die Menge, okay?«
Essie nickte, und der Daimler raste mit
spritzendem Kies in Richtung Lieferanteneingang.
»Gut«, sagte Slo atemlos, »lass uns Schuhe und
Strümpfe anziehen, Schätzchen, und im Fest untertauchen. Constance
und Perpetua wird es schwerfallen, uns in diesem Getümmel ausfindig
zu machen.«
Bevor sie nach ihren Sandalen griff, beugte Essie
sich hinüber und küsste ihn auf die Wange. »Danke. Ich habe jede
einzelne Minute des heutigen Tages genossen. Du hast mich ins Leben
zurückgeholt.«
Slo errötete und brauchte eine Weile, bis er seine
Socken und Schuhe angezogen hatte. »Und du hast noch viel mehr für
mich getan, Schätzchen. Sehr viel mehr. Also, lass uns
gehen.«
Hand in Hand gelang es ihnen allmählich, sich
einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, die in zahlreichen
Reihen um die Bühne herum saß.
Die Cancan-Tänzerinnen aus Bagley-cum-Russet
tobten Beine schwingend und jauchzend wie üblich reichlich
ungeordnet über das Podium.
»Wir hätten die Picknickdecke mitnehmen sollen«,
murmelte Slo, »sieht aus, als müssten wir uns einfach ins Gras
setzen. Wird nicht gerade sehr bequem. Wirklich ziemlich
ausgedörrt. Gib mir die Hand, ich helf dir runter.«
Unter Schwierigkeiten und vielen verärgerten
Seitenblicken ihrer Nachbarn gelang es Essie und Slo schließlich,
unauffällig in der Menge unterzutauchen. Slo fing an
mitzuklatschen, als Sukie, Roo, Joss und die anderen
Cancan-Tänzerinnen versuchten, zu Offenbachs größtem Erfolg Rad zu
schlagen, ohne sich selbst oder andere ernstlich zu
verletzen.
Essie klatschte nicht.
Sie sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Was
in aller Welt ging hier vor? Wohin sie auch sah, waren Paare auf
dem
strohtrockenen Gras selig hingebungsvoll, tja, am Knutschen. Alte
Paare, junge Paare und Paare aller Altersstufen dazwischen.
Es ging zu wie bei einer mittleren ländlichen
Orgie.
Es ging zu wie an jenem Abend, als sie in
Twilights die vollständige Geburtstagsmagie praktiziert hatte
…
»Die sind super, was?« Essies Nachbar, ein
rotgesichtiger Mann aus Bagley, stupste sie an und nickte zur Bühne
hin.
»Was? Wer? Oh ja, toll.«
»Sie haben die Eröffnungsnummer verpasst. Die
waren auch echt gut, Martin Puseys Hoi-Pollois. Für die sind Sie zu
spät gekommen.«
Na, Gott sei Dank, dachte Essie und beäugte mit
wachsender Sorge das kommunale Love-in um sich her.
»Ich und meine Veronica finden die ja echt
klasse«, fuhr der rotgesichtige Mann fort. »Vor allem denen ihre
›Three Old Maids‹.«
»Es heißt ›Little‹«, korrigierte Essie automatisch
und bemerkte unangenehm berührt, wie seine Veronica mit verklärtem
Lächeln unter dessen Hemd den Bierbauch des rotgesichtigen Mannes
streichelte. »Das Lied heißt ›Three Little
Maids From School‹.«
»Ja, das isses.« Der Rotgesichtige erwiderte nun
bierselig die Aufmerksamkeiten seiner Veronica. »Lustiger Gesang.
Hübsche Lieder. Und diese Cancan-Mädels sind auch prima. Sexy und
das. Aber lange nicht so wie meine Veronica.«
Essie wandte den Blick ab, als das Geknutsche nun
immer heftiger wurde.
Diese Pärchen, dachte Essie, als sie sich
umschaute, wechselten in der Öffentlichkeit sonst wahrscheinlich
nicht einmal Koseworte miteinander, und jetzt konnten sie die
Finger nicht voneinander lassen?!
Entweder hatte man allen einen von Sukie Ambroses
Liebestränken verabreicht, oder …
»Zum Teufel noch mal!«, murmelte Essie, als die
größte Cancan-Tänzerin gerade unter lautem Gejohle von der Bühne
purzelte. »Phoebe! Phoebe hat mit der Geburtstagsmagie
herumgezaubert!«