24. Kapitel
Der Gemeindesaal von Hazy Hassocks war eine Zuflucht voller Wärme und Licht. Zwar tobte das Unwetter draußen noch immer mit unverminderter Kraft: Der Sturm ließ Fenster und Türen klappern und heulte unter dem alten Dach; der Regen peitschte gegen das Gebäude und strömte in prasselnden Sturzbächen an den Fensterscheiben herab. Doch im Inneren war alles ruhig.
Nun, so ruhig es eben zuging bei einer Menschenmenge durchnässter Bürger und ihrer Retter, von den nassen Tieren und ehrenamtlichen Helferinnen des Women’s Royal Voluntary Service, kurz WRVS, ganz zu schweigen.
»Nicht zu fassen, dass es erst vier Uhr früh ist. Ich dachte, wir wären die ganze Nacht lang da draußen gewesen«, sagte Phoebe außer Atem im Foyer des Gemeindesaals, als sie einen Schwall Wasser von der von Rocky geborgten Wachsjacke schüttelte.
»So hat es sich eindeutig angefühlt.« Rocky legte den eigenen Mantel ab und schüttelte den Regen aus seinen kurzen Haaren. »Und du warst wirklich großartig. Vielen Dank für all deine Hilfe.«
»Kein Problem. Was hast du denn erwartet? Dass ich nur girliemäßig mit den Händen wedele und hysterisch kreische?«
»Nein, nicht wirklich. Dazu kenne ich dich viel zu gut. Aber es war eine beängstigende Situation, und wir haben ein prima Team abgegeben, findest du nicht?«
So war es, dachte Phoebe. Sie hatten zusammengearbeitet wie ein aufeinander eingespieltes Paar. Jeder kannte die Stärken des anderen, und man ergänzte sich gegenseitig. Ohne zu zanken oder zu schreien oder in Panik zu geraten. Ein prima Team. Rocky und Phoebe – nicht Ben und Phoebe. Ganz schön merkwürdig. Und noch merkwürdiger: Es war ein richtig gutes Gefühl.
Sie nickte. »Waren wir. Sind wir. Obwohl wir Glück hatten. Mehr Glück als viele andere. Immerhin haben wir nur unsere gestörte Nachtruhe zu beklagen. Wir wissen, dass unser Zuhause unbeschadet bleibt.«
»Stimmt. Aber wenigstens sind nun alle in Sicherheit. Und im Trockenen. Auch wenn die armen Schweine vom unteren Ende der Straße sich um ihre Häuser bestimmt entsetzliche Sorgen machen …« Rocky brach ab, als sie genügend Wasser abgeschüttelt hatten und den Mut aufbrachten, den Saal zu betreten. »Ach, ist gar nicht so übel hier drin. Ich dachte, es wäre ganz grauenhaft.«
»War es auch jahrelang, als niemand den Raum benutzt hat. Mitzi Blessing hat den Saal vor einigen Jahren im Zusammenhang mit ihrem »Fitte-Fünfziger-Projekt« übernommen und wieder zum Leben erweckt. Die hübsche Ausstattung sowie Heizung und Beleuchtung sind ihren Anstrengungen zu verdanken. Ach – es ist herrlich, im Warmen zu sein.« Phoebe lachte. »Wie schräg ist das denn? Da habe ich den ganzen glutheißen Sommer lang um kühlen Regen gebetet, und jetzt bin ich völlig durchgefroren.«
»Das kommt von Schreck, Müdigkeit und Nässe«, sagte Rocky. »Was Heißes zu trinken und ein bisschen Schlaf, dann geht’s dir bald besser.«
»Tee und Kaffee!«, rief eine schlanke Frau in eleganten Beigetönen wie aufs Stichwort mit durchdringender Stimme von einem riesigen dampfenden Wasserkocher her. »Sandwiches, Kekse und Obstkuchen! Genug für jedermann! Herkommen und hier eine Warteschlange bilden! Jetzt!«
»Oberlehrerin«, murmelte Rocky. »In der Grundschule. Da wett ich drauf.«
Elegant-Beige peilte noch einmal kurz die Lage. »Für die Tierhalter können wir Wasser und ähm, Gebäck und ähm, Schinkenreste anbieten. Die Warteschlange für Tiere bitte auf diese Seite des Teekochers. Nein! Nein! Hier drüben!«
Phoebe lachte und zog, auf Rocky gestützt, ihre Gummistiefel aus. Mini-Niagarafälle ergossen sich daraus. Angewidert pellte sie die triefenden Socken von den Füßen und wackelte mit den klammen, nassen Zehen.
»Ein schönes Paar Hausschuhe könnte ich brauchen, und, ach herrje, meine Jeans sind total durchweicht. Obenrum ist alles okay, aber schau dir meine Jeans an.«
»Zieh sie aus«, sagte Rocky. »Mich stört es nicht.«
Phoebe knuffte ihn.
»Und jetzt – herhören! Alle mal herhören! Die dritte Schlange ist ausschließlich für Kleidung, Handtücher und Bettzeug!«, rief Elegant-Beige gebieterisch, während die Bürger von Hazy Hassocks Warteschlangen bildeten, um die Verpflegung in Empfang zu nehmen. »Wer sein Essen hat, stellt sich dort drüben an, auf der anderen Seite des Teekochers, und holt bei Irene sein Bettzeug ab und was sonst noch gebraucht wird. Auf der anderen Seite, meine Gute! So ist es richtig! Und für diejenigen, die mit dem Gemeindesaal nicht vertraut sind, zu den Örtlichkeiten geht es durch den Bogengang und dann links – links, meine Liebe – ja, da entlang.«
Phoebe kicherte.
»Tee oder Kaffee?« Rocky hatte nun auch die Stiefel ausgezogen, und seine Jeans, gleichfalls tropfnass, klebten an seinen Beinen. »Irgendwas zu essen?«
»Kaffee, bitte. Und ja, leider hätte ich wirklich gern ein Stück Obstkuchen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach den Spaghetti Bolognese noch irgendetwas essen könnte, aber von all der Bewegung habe ich Appetit bekommen.«
»So geht’s mir auch«, sagte Rocky grinsend und schlängelte sich dann durch die Scharen der Vertriebenen.
Phoebe starrte ihm nach und versuchte, das merkwürdige Prickeln in ihrem Inneren zu ignorieren.
Mist, Mist, Mist … War sie so oberflächlich? Es war noch nicht einmal drei Monate her, dass sie sitzen gelassen worden war. Nicht einmal drei Monate, seit ihr Herz unwiederbringlich gebrochen war.
Neeiin! Das konnte und durfte nicht sein.
Und schon gar nicht Rocky, der nie wieder eine Beziehung eingehen wollte.
Es lag sicher nur an den außergewöhnlichen Ereignissen dieser Nacht, dachte sie, und versuchte vernünftig zu sein. Hieß es nicht immer, dass die Leute sich unmittelbar nach niederschmetternden Tragödien wie aus Lebenshunger in die unpassendsten Affären stürzten?
Nichts anderes war es, sagte sie sich streng, ihr Körper wollte sie auf diese Weise nur davon überzeugen, dass sie lebendig und in Sicherheit war, weiter nichts.
Puh.
Und genau genommen konnten wohl keine zwei Männer auf der Welt unterschiedlicher sein als Rocky und Ben. Lieber Himmel, dachte sie, wenn ich mir vorstelle, Ben und ich wären in dieser Nacht noch immer zusammen gewesen. Was das für ein Affentheater gewesen wäre! Ben wäre total durchgedreht. Er hätte sich schrecklich aufgeregt und keine andere Sorge gehabt, als seine Stereoanlage von Bang & Olufsen zu retten und seine weißen Ledersofas und seine Designerklamotten und seinen Laptop und seinen Blackberry und diverse andere Handys und die frisch tapezierten Wände …
»Kaffee, Kuchen und Kekse.« Rocky kehrte zurück und hatte alles säuberlich in Kunststoff verpackt auf einem Tablett. »Die Damen da drüben sind großartig. Und mit Begeisterung bei der Sache. Anscheinend üben sie die ganze Zeit für solch einen Notfall, kommen aber kaum je dazu, es in echt auszuprobieren.«
»Dem Himmel sei Dank.« Phoebe sah sich nach einem freien Platz um. »Sollen wir versuchen, uns dort drüben reinzuquetschen?«
Das taten sie. Auf dem Boden war es zwar nicht übermäßig bequem, aber es war herrlich, endlich warm und halbwegs trocken zu sein. Und ganz in der Nähe befand sich ein Heizkörper.
»Wie ich vorhin schon sagte, genau wie im Blitzkrieg.« Neben ihnen lächelte Constance Motion hinter einem Stück Obstkuchen. Johannisbeeren klebten ihr rings ums Kinn. »Wir haben hier vom Blitzkrieg natürlich nicht viel abbekommen, aber Sie wissen schon, was ich meine.«
Phoebe lächelte Perpetua ermutigend zu, die schon ein bisschen munterer wirkte und sich die Hände an einem Kunststoffbecher mit Tee wärmte. Slo war nirgends zu sehen.
»Er ist draußen im Vorraum mit seiner Marlboro«, sagte Rocky, der einen eingetunkten Doppelkeks in Arbeit hatte. »Es geht ihm gut.«
Phoebe lehnte sich an die Wand und besah sich die Dorfbewohner, die alle in etwa dasselbe taten. Nass, aufgewühlt und verwirrt brachten sie eine ähnlich gefasste Haltung auf wie in Kriegszeiten und versuchten, aus der schwierigen Situation das Beste zu machen. Selbst alle Tiere hatten sich müde und resigniert in der ungewohnten neuen Behausung niedergelassen. Die Atmosphäre war überraschend fröhlich, als Nachbarn und Freunde einander Schauergeschichten erzählten und sich ohne große Hemmungen nasser Kleidung entledigten, um die ausgegebenen warmen, trockenen Sachen anzuziehen.
Da die Kleiderspenden größtenteils aus Sportsachen bestanden, sahen die Leute aus wie verirrte Feierabend-Prolls. Ein oder zwei hatten Baseballkappen auf.
»Habt ihr schon Bettsachen?« Eine umhermarschierende untersetzte Dame in Reißverschluss-Stiefeln blieb vor ihnen stehen. »Nein? Tja, wartet lieber nicht allzu lange. Die besten Decken sind bald weg. Hier ist eure Luftmatratze. Ihr jungen Leute müsst vielleicht einigen Älteren beim Aufblasen helfen. Wir haben Fußpumpen – ihr müsst nicht pusten. Und ihr solltet aus den nassen Sachen raus. Wir wollen ja nicht, dass ihr euch erkältet. Irene hat da drüben ein paar schöne warme Trainingsanzüge.«
»Sie hat uns nur eine Luftmatratze gegeben«, sagte Phoebe, nachdem die Stiefel weitermarschiert waren. »Sie dachte wohl, wir wären, ähm, tja, zusammen.«
»Sind wir ja. Zumindest heute Nacht«, sagte Rocky. »Und ich werde vor all diesen Leuten ja wohl kaum einen auf Don Juan machen. Ich mag ja leicht exhibitionistische Neigungen haben, aber, na ja, ich habe es noch nie vor Publikum getan. Soll ich mal losziehen und schauen, ob es irgendwelche passenden Trikot-Unterteile gibt?«
»Was?«, nuschelte Phoebe mit Obstkuchen im Mund. »Bist du irgendwie pervers?«
»Ich meine Trainingshosen. Sie hat Recht. Wir können schließlich nicht die ganze Nacht in nassen Jeans schlafen.«
»Eher nicht. Okay. Hör mal, geh du doch Kleider holen und Bettzeug, und hilf in dieser Hälfte des Saals Luftmatratzen aufblasen, dann gehe ich da drüben den Leuten, die Unterstützung brauchen, mit ihren Luftmatratzen zur Hand.«
Als endlich sämtliche Luftmatratzen aufgepumpt, Bettzeug verteilt und noch mehr Tee und Kekse ausgegeben waren, wurden die Hassocker schläfrig. Das Geschrei von vorher war zu gedämpften, von Gähnen unterbrochenen Gesprächen und leisem, verhaltenem Lachen abgeebbt.
Die Motions auf der einen Seite neben Phoebe sowie Mary Miller mit ihren Eltern auf der anderen, hatten alle warme Kleidung angezogen und richteten sich für die Nacht ein.
»Zwei Paar Jogginghosen«, sagte Rocky triumphierend. »Zwei Kopfkissen, ein Handtuch und eine Decke. Du kannst den Anfang machen. Ich halte das Handtuch und verspreche, nicht zu gucken.«
Phoebe stand auf, und während Rocky als Blickschutz das Handtuch hielt, zerrte sie an ihren durchnässten Jeans. Sie waren wie festgeklebt. Sie wand und krümmte sich, aber der nasse Stoff haftete an ihr wie eine zweite Haut.
Rocky grinste. »Setz dich hin, und ich zieh von unten.«
»Du bist ja total fixiert auf Unterteile«, grummelte Phoebe, setzte sich aber dennoch hin, hüllte sich in das Handtuch und hob die Füße. »Okay, dann mal los.«
Es dauerte fünf Minuten voller Zerren, Kichern, Umfallen und Pausen, um nach Fassung zu ringen, bis Phoebe und ihre Jeans voneinander getrennt waren.
»Nicht hinschauen!«, murmelte sie, nahm sich die hellgrauen Trainingshosen und zog sie über den feuchten Körper. »Oh wie hübsch.« Hauteng reichten sie ihr bis unter die Achseln und baumelten von ihren Fußspitzen wie Schwimmflossen. »Jetzt bist du dran. Soll ich dir – ach, du Spielverderber. Du hast scheinbar Übung darin, dich in der Öffentlichkeit umzuziehen.« Sie schmunzelte, als Rocky sich das Handtuch um die Hüften band und es ihm offenbar ohne große Umstände gelang, sich aus den eigenen Jeans und in die Jogginghosen zu schlängeln. Dann lachte sie lauthals los. »Ogottogott! Wie du aussiehst!«
Rockys Trainingshosen endeten auf halber Höhe seiner Beine. Seine Beine allerdings, das musste sie zugeben, waren ziemlich sehenswert: kräftig, muskulös und gebräunt, wie alles andere an ihm.
Sie riss den Blick von ihm los. »Jetzt brauchst du nur noch einen karierten Schal, dann kannst du als einer von den Bay City Rollers gehen.«
»Du brauchst gar keine großen Töne zu spucken – du siehst aus wie eine magersüchtige Robbe.«
Sie schauten einander an und brachen erneut in Lachen aus.
»Pst!«, machte Constance Motion, sodass ihre Haare wippten, die der Südwester unvorteilhaft platt gedrückt hatte. »Einige von uns versuchen, ein Auge zuzutun.«
An Schlaf, so schien es, war nur unter Schwierigkeiten zu denken. Alle Lichter waren noch an, und die Rettungshelfer strömten hinein und hinaus, holten sich dringend benötigten Tee mit Keksen, brachten aktuelle Informationen über das Hochwasser und scherzten fröhlich mit den Damen der WRVS.
Außerdem mussten scheinbar alle paar Minuten mindestens zwei Hassocker aufs Klo. Die unverbesserlichen Raucher wie Slo lief schnaufend und keuchend hin und her auf dem Weg hinaus in den Vorraum. Und mehrere Damen fanden, nachdem sie sich beruhigt hatten, dies sei eine ideale Gelegenheit, die dörflichen Buschtrommeln zu schlagen, und waren laut in Klatsch und Tratsch vertieft.
»Wir könnten Karten spielen«, sagte Rocky, als sie sich wackelig Seite an Seite auf die Luftmatratze gequetscht hatten, »wenn wir irgendwelche Karten hätten. Du hast wohl nicht zufällig ein kleines Tarotset dabei?«
»Nö.«
»Mist. Und was ist mit deinem Hexenkram in Sachen Geburtstagszauber?«
»Auf gar keinen Fall. Nicht hier. Nicht jetzt. Nie wieder. Nicht nach diesem Sommerfest.«
»Wieder Mist. Dabei wäre es großartig. Wir könnten alle dazu bringen, Händchen zu halten, während du diesen Romani-Zauberspruch aufsagst, und dann aus dem Hintergrund beobachten, was passiert.«
»Wir wissen, was passieren würde. Nur zu gut.«
»Hmm.« Rocky sah sich im Gemeindesaal um, wo alle versuchten, aus dem provisorischen Nachtlager das Beste zu machen. »Ach, denk doch noch mal drüber nach – sie müssten sich nur irgendwie anfassen, und schon könntest du die Beschwörung anstimmen – wie war das gleich noch mal – ach, ja.
Geburtstagsglück für Chal und Chie,
Misto rommerin mein Geschenk.
Dukker dokker ruw nicht beng,
Misto kooshti rommer und rye.«
»Psst! Das darfst du hier nicht sagen – aber, Teufel auch!«, sagte Phoebe erstaunt. »Wann hast du das denn auswendig gelernt?«
»Ewig her. Du hattest es überall aufgeschrieben, jedes Mal, wenn wir im Garten waren. Es fällt mir leicht, solche Sachen zu lernen. Ich war in der Schule ziemlich gut in Lyrik.«
»Ach ja? Wir haben nicht viel Lyrik gemacht in der Gesamtschule von Winterbrook. Warst du auf einer Nobelschule?«
»Mittel-nobel. Aber egal … Wollen wir nicht all diese Leute mit der Geburtstagsformel verzaubern und abwarten, was geschieht?«
»Nein.«
»Schade. Okay – wie wäre es mit ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹?«
»Das kenn ich!«, antwortete Phoebe strahlend. »Ich sehe was, was du nicht siehst, und es beginnt mit NR.«
»Nasse Rentner.«
»Verdammt.«
Wieder kicherten sie. Perpetua auf der einen Seite und das Miller-Trio auf der anderen schnarchten.
Als Slo wieder zur nächsten Zigarettenpause davontrottete, beugte sich Constance herüber. »Da an Schlaf nicht zu denken ist, möchte ich mal mit euch über unsren Slo und Essie Rivers reden.«
Phoebe atmete scharf ein. »Ich weiß ja nicht, ob das der richtige Zeitpunkt ist.«
»Ach, es ist ja alles geklärt, weitgehend zumindest.« Constances plattgedrückte Frisur wippte nickend auf und ab. Dank der vereinten Kräfte von Südwester und ultrafestigendem Haarspray sah es aus, als trüge sie zwei große Pfannkuchen auf dem Kopf. »Immerhin wird sie künftig keinen Zugriff auf unser Geld haben. Sie wird Ihnen sicher alle Einzelheiten schildern. Warum in aller Welt unser Slo allerdings meint, er bräuchte in seinem Alter noch eine Freundin, das wissen nur die Götter, aber so ist es nun eben mal.«
Phoebe lächelte aufmunternd, erleichtert, dass sie wegen der Sache mit dem Geburtstagszauber bei Slo und Essie nicht ihr restliches Leben lang Gewissensbisse haben musste. »Ich bin nur froh, dass sich alles zum Guten gewendet hat. Ich finde, wir sollten uns alle mit ihnen freuen – schließlich hat Essie eine schwere Zeit durchgemacht, und in Twilights zu leben ist sicher nicht leicht für sie, wo sie ja an ein eigenes Haus gewöhnt war und innerlich so jung geblieben ist.«
»Wir haben Slo erklärt, dass er sie nicht bei uns einziehen lassen kann«, sagte Constance mit wild entschlossenem Blick. »Allein bei der Vorstellung würden sich unsere Eltern in ihrem Sarkophag umdrehen. Und ich wünsche nicht, junge Dame, dass Sie die beiden darin noch irgendwie ermutigen. Ich weiß, Sie wollten nur behilflich sein, und ich habe nichts dagegen, wenn die zwei Sie besuchen, aber bitte setzen Sie ihnen keine Flausen über ein Zusammenleben in den Kopf.«
»Das habe ich nicht! Na gut, ich habe gesagt, Essie könne bei mir einziehen, aber …«
»Ja glauben Sie denn, das würde Slo nicht auf dumme Gedanken bringen? Wenn Essie nur ein paar Häuser weiter wohnt? Er wäre doch von früh bis spät drüben.«
»Genau das habe ich auch gesagt«, warf Rocky hilfsbereit ein.
»Aber dazu kommt es nun ja gar nicht, nicht wahr?« Phoebe funkelte Rocky zornig an. »Essie bleibt in Twilights, ob sie will oder nicht, und Slo bleibt bei Ihnen.«
»Slo will immer noch ein kleines gemeinsames Heim finden. Das weiß ich. Und auch wenn ich ihn das sicher nie wissen lasse, ich kann ihn verstehen. Aber wir wollen ihn auch nicht verlieren. Wir brauchen einen Mann, wissen Sie. Slo hat wichtige Aufgaben in der Firma und zu Hause, und wir schlafen bei Nacht ruhiger in unseren Betten, wenn wir wissen, dass ein Mann da ist, um uns zu beschützen.«
Phoebe schaffte es, keine Miene zu verziehen. Slo war im Kampf gegen jugendliche Kapuzentypen sicher kein ebenbürtiger Gegner, aber wenn es Constance glücklich machte, bitte sehr.
»Es gibt eine Lösung«, sagte Rocky und streckte sich.
»Ach ja?« Phoebe sah ihn fragend an. Sie wünschte, er würde sich nicht so räkeln. Schon gar nicht so dicht neben ihr. »Ich wüsste keine.«
Er strahlte Constance an. »Slo und Essie könnten in Phoebes Wohnung einziehen.«
»Was?«, kreischte Phoebe. »Nach all den Vorträgen, die du mir gehalten hast? Außerdem geht das nicht – es ist nicht genug Platz.«
»Ich glaube kaum.« Constance sah furchterregend aus. »Ich lasse nicht zu, dass unser Slo in wilder Ehe lebt. Ich weiß, es gibt nur zwei Schlafzimmer, und wenn Phoebe eines davon hat, dann bedeutet das, wenn ich richtig rechne, dass Slo und Essie Rivers das andere miteinander teilen würden.«
»Nicht wenn Phoebe meine Wohnung mit mir teilt.«
»Was?«, kreischte Phoebe schon wieder. »Du willst, dass ich in den ersten Stock ziehe? Zu dir?«
Constance schüttelte missbilligend den Kopf angesichts dieses rasanten Verfalls jeglicher Moral, dessen Zeuge sie wurde.
»Nicht wie du jetzt meinst«, sagte Rocky. »Als Wohngemeinschaft. Warum denn nicht? Wir sind doch gute Freunde. Wir verstehen uns wirklich prima, mein freies Zimmer ist größer als deins, und dank der, äh, außergewöhnlichen Ereignisse heutigen Nacht sind die meisten deiner Sachen sowieso schon oben. Der Rest wäre auch mühelos umzuräumen. Ich würde dir sogar helfen, die Wände rosa zu streichen.«
Phoebe schüttelte den Kopf. War er übergeschnappt? War sie übergeschnappt? Träumte oder wachte sie?
Sie sah ihn fragend an. »Entschuldige, aber wann genau ist dieser kleine Plan in deinem Kopf gereift?«
»Ach, ich habe schon seit einiger Zeit darüber nachgedacht. Es würde durchaus Sinn machen. Deine Sofas sind sehr viel schöner als meine, mein Fernseher ist größer als deiner, wir könnten all unsere Sachen zusammenschmeißen, also, zumindest das, was Ben und Mindy uns hinterlassen haben, und es bliebe noch jede Menge übrig, als Grundausstattung für Essie und Slo, meinst du nicht? Vor allem, wo Essie ja keine eigenen Möbel mehr hat und die Sachen von Slo offenbar zum Familienwohnsitz gehören.«
Constance, die einen Weg witterte, Geld zu sparen, sah ganz begeistert aus. »Und ihr jungen Leute wärt da, um die beiden im Auge zu behalten, nicht wahr? Nur für den Fall, dass einer von beiden irgendwelche komischen Anwandlungen bekommt oder so? Ich finde, das klingt nach einem ganz patenten Vorschlag.«
»Ich weiß ja nicht«, murmelte Phoebe, von der Wendung der Ereignisse vollkommen überrascht. »Im Grunde habe ich mich gerade erst daran gewöhnt, allein zu leben, und …«
Rocky grinste. »Hör mal, wenn du nicht willst, dann sag es einfach. Ich dachte bloß, dass wir beide Essie ja helfen wollten, aus Twilights zu entkommen, und auf diese Weise wäre Slo sowohl seinen Cousinen nahe wie auch der Firma, und die beiden könnten auch jeweils eigene Zimmer haben wie in einer Wohngemeinschaft. Wie wir.«
Constance nickte. Ihre Haare nickten nicht mit. »Wissen Sie, junger Rocky, je mehr ich davon höre, umso mehr finde ich, das ist wirklich gar keine so schlechte Idee. Ich bin nicht so engstirnig, als dass ich etwas dagegen hätte, wenn Männer und Frauen auf hübsch anständige Art und Weise unter einem Dach wohnen. Und es würde bedeuten, dass unser Slo nicht allzu weit weg von zu Hause ist – auch wenn wir nachts ohne seinen Schutz schlafen müssten.«
»Ach«, sagte Phoebe leichthin, »seien Sie unbesorgt. Ich bin sicher, Rocky hat schon einen Plan, wie er Ihnen einen Ersatz-Leibwächter ins Haus schafft.«
»Hör mal«, sagte Rocky grinsend, »wenn du das für eine Schnapsidee hältst, dann sag es einfach.«
»Ich finde, es ist eine Schnapsidee. Meine CDs von Take That und deine von AC/DC. Mein Ordnungs- und Organisationsfimmel und dein Verzicht auf jegliche Struktur. Deine Freunde und meine alle gleichzeitig zu Besuch. Meine …«
»Okay, vergiss es. Ich dachte nur, man könnte so viele Probleme auf einmal lösen.«
Und jede Menge neue schaffen, dachte Phoebe. In derselben Wohnung leben wie Rocky. Ihr Leben mit ihm teilen. Die ganze Zeit mit ihm zusammen sein. So nah und doch so fern. Wie Bruder und Schwester …
Das konnte sie einfach nicht. Das wäre zu viel verlangt, bei Weitem zu viel. Vor allem, wenn er irgendwann über Mindy hinwegkäme und anfinge, hübsche Mädchen mit nach Hause zu bringen.
Sie blinzelte. Sie wäre eifersüchtig. Sie wäre wirklich eifersüchtig. Sie wäre in der Tat ganz wahnsinnig eifersüchtig.
Dann wieder, andererseits, war da die Miete, die ab November in voller Höhe drohte. Und dann müsste sie ihre Wohnung schließlich sowieso mit irgendwem teilen. Und mit Slo und Essie im Erdgeschoss wüsste man zumindest, dass sie weder wilde Partys veranstalten noch das Haus demolieren würden.
»Okay, ich werde darüber nachdenken.« Oh Gott – sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, was Clemmie und YaYa daraus machen würden. »Aber ich finde, wir sollten diesen Plan Slo und Essie gegenüber vorerst noch nicht erwähnen. Ich muss mir das erst noch gründlich überlegen. Und dann sind da ja auch noch unsere Mietverträge – wir müssten das alles schließlich auch von der Hausverwaltung und dem Eigentümer absegnen lassen, oder?«
»Stimmt.« Rocky nickte. »Aber das ist sicher überhaupt kein Problem.«
»Da draußen schüttet es wie aus Eimern«, sagte Slo, der windzerzaust und mit im Haar glitzernden Regentropfen von seiner Zigarettenpause zurückkam und schmatzende nasse Fußstapfen auf dem schön polierten Boden des Gemeindesaals hinterließ. »Und was ist sicher überhaupt kein Problem? Was hast du ausgeheckt, unsre Constance?«
»Gar nichts.« Constance zwinkerte Phoebe und Rocky alles andere als unauffällig zu. »Überhaupt nichts. Komm her, ich finde, es wird Zeit, dass wir alle versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.«
Hah!, dachte Phoebe. Schlafen? Keine Chance! Nicht jetzt. Wahrscheinlich nie wieder.