13.
Kapitel
Im
Hof war es an diesem Abend herrlich duftig und schattig, und der
Kennet rauschte hinter den ummauerten Gärten der Winchester Road
sanft auf seinem den Blicken verborgenen Weg dahin. Nach dem
hektischen Tag bei Cut’n’Curl hatte Phoebe
ihr Make-up entfernt, ausgiebig kühl geduscht, über die Unterwäsche
nur ein weites Hemd angezogen, die nassen Haare nach hinten gekämmt
und einen fertig zubereiteten Käsesalat von Big
Sava direkt aus der Packung gegessen.
Nun saß sie mit einem großen Glas eisgekühlten
Chardonnay und der mit Kondenswasser beschlagenen Flasche erfrischt
und entspannt im Freien und fing an, mit ihrem Lieblingsnotizbuch
die noch vor ihr liegende Woche zu organisieren. Sie plante einen
Tag nach dem anderen, wie sie YaYa erklärt hatte. Auf diese Weise
würde sie schon über die Runden kommen.
Listen anzulegen war doch überhaupt nicht
zwanghaft, dachte sie, während sie eine unbefleckte Seite rasch
vollkritzelte. Listen anzulegen war vernünftig und ordentlich. Und
als Jungfrau war sie nun einmal Perfektionistin. Also war diese
Vorgehensweise für sie das Selbstverständlichste der Welt.
Wenn sie vorausschauend plante, dann müsste das
Sommerfest in Twilights natürlich ein oder zwei eigene Seiten
bekommen. Und es wäre sicher sinnvoll, sich schon ein paar erste
Notizen dazu zu machen, oder? Sie nickte im Stillen, blätterte
zu einer leeren Doppelseite und schrieb säuberlich SF/ Twilights
an den oberen Rand, sorgfältig unterstrichen. Na also! Nun würde
sie mehrere Spalten anlegen, mit passenden Überschriften versehen
…
Oooh, es gab ja reichlich viel zu planen für das
Fest – zum Beispiel, ob sie nur grundlegende Astrologie verwenden
wollte oder ob sie es wagte, auch mit Tarot zu arbeiten? Sie
knabberte am Ende ihres Stiftes, kritzelte ein bisschen und machte
weitere Notizen. Amüsiert stellte sie fest, dass all ihr Gekritzel
sich mit dem geheimen Geburtstagszauber beschäftigte. Sie hatte in
verschiedenen Schrifttypen immer wieder »Happy Birthday« gemalt und
sogar mehrere Male Essies bizarre Roma-Beschwörung
niedergeschrieben.
Lächelnd stellte sie fest, wie sehr dieser
Geburtstagszauber ihr Unterbewusstsein offenbar beschäftigte, und
merkte, dass sie nun wirklich ein oder zwei passende
Versuchskaninchen bräuchte. Eine Theorie musste man schließlich in
der Praxis erproben! So fasziniert sie auch sein mochte, und von
Essies Beispielen beeindruckt, war sie aber doch nicht wirklich
überzeugt, bis sie nicht mit eigenen Augen sah, dass dieser Zauber
tatsächlich wirkte.
Wenn doch nur nicht all ihre Freundinnen bereits
glücklich verbandelt wären! In den letzten Tagen hatte sie anhand
der Daten alle Paare, die sie kannte – einschließlich ihrer Eltern
-, die Fünf Fragen-Formel ausprobiert, und hatte ausnahmslos jedes
Mal die zutreffenden Geburtsdaten herausbekommen. Doch solange sie
kein echtes potenzielles Liebespaar hatte, an dem sie die
Beschwörung anwenden konnte, hätte sie weiterhin diese nagenden
Zweifel, was den Rest anging – die Feuerprobe des paarbildenden
Geburtstagszaubers. Also müsste sie eben mit Adleraugen nach
geeigneten Kandidaten Ausschau halten.
Sie trank einen Schluck Wein und wandte sich
wieder der Seite zum Sommerfest zu. Dann zog sie sorgfältig den
Strich für eine weitere Spalte. Gut. Also, sollte sie aufs Ganze
gehen und sich irgendwo eine Kristallkugel ausborgen? Sollte
sie?
Die träge, schläfrige Abendstille wurde
urplötzlich durchbrochen von einem lauten Schwall Musik der Band
Rainbow mit ihrem Song »Since You’ve Been Gone«.
»Zum Teufel noch mal!« Phoebe reckte den Hals in
Richtung Obergeschoss. Rockys Balkontür stand sperrangelweit offen.
»Hey!«, schrie sie. »Rocky! Das ist zu laut!«
»Was?« Rocky lehnte sich über die Brüstung.
»Sorry, ich kann dich nicht verstehen. Muss erst die Musik leiser
machen.« Er verschwand einen Augenblick. »So, jetzt geht’s besser.
Sorry, was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, es ist zu laut.«
»So? Ich kann kaum etwas hören.«
»Nicht jetzt. Vorher …« Gerade noch rechtzeitig
fiel Phoebe auf, wie Rocky lachte. »Ach ja, sehr komisch. Lass den
Ton einfach leise, bitte.«
»Okay.« Und er verschwand wieder nach
drinnen.
Mit angehaltenem Atem wartete Phoebe auf weiteres
ohrenbetäubendes Bombardement, aber es kam nichts. Sie lächelte vor
sich hin. Rocky Lancaster wurde allmählich beinahe handzahm.
Sie widmete sich wieder ihren Listen.
»Entschuldige«, rief Rocky im Flüsterton von oben
herab. »Kann ich dich etwas fragen?«
Phoebe legte den Stift weg und nickte.
»Ist der Garten immer noch Sperrgebiet, oder wäre
es okay, wenn ein paar Flaschen Bier und ich uns
dazugesellen?«
Phoebe seufzte. Da konnte sie ja wohl kaum Nein
sagen. Es war schließlich ihr gemeinsamer Garten, und immerhin
hatte
er hervorragende Arbeit geleistet, indem er ihn durch Schneiden
und Harken und Mähen auf Hochglanz gebracht hatte. Die Tatsache,
dass sie nicht gern mit ihm allein sein wollte, weil sie wegen
ihres Missverständnisses so ein schlechtes Gewissen hatte, änderte
daran nichts.
»Es ist genauso dein Garten wie meiner, aber es
wäre mir lieber, wenn du die Musik auf Zimmerlautstärke lässt und
mich nicht ansprichst.«
»Mensch, du klingst ja wie meine Mutter. Meckern
und Nörgeln, das konnte sie. Jetzt ist damit natürlich Schluss.
Jetzt spricht sie überhaupt nicht mehr mit mir.« Er kam die
Eisentreppe heruntergeklappert. »Aber du hast in beiden Punkten
recht. Musik lohnt sich nur, wenn die Wände wackeln, und reden will
ich gar nicht mit dir. Ich will einfach nur im Garten sitzen und
hoffe, es ist eine ganze Ecke kühler als in der Wohnung.«
Phoebe zog das Notizbuch und den Wein näher zu
sich heran, als er sich auf den gegenüberstehenden gusseisernen
Stuhl plumpsen ließ. Sosehr sie auch versuchte, sich weiter auf
ihre Aufgabenliste zu konzentrieren, es war ein Ding der
Unmöglichkeit. Tja, mehr als eins achtzig unbestreitbar schöner
Mann in allernächster Nähe, wenngleich völlig desinteressiert,
dürften ausreichen, um jede Frau aus dem Konzept zu bringen. Sogar
eine, die den Männern auf immer und ewig abgeschworen hatte.
»Hat das mit deiner Arbeit zu tun?«, fragte Rocky
nach etwa fünf Minuten mit Blick auf ihr Notizbuch. »Nein,
entschuldige, ich will dich ja nicht stören.«
»Nein, das hat nichts mit Arbeit zu tun. Ich
versuche die nächsten paar Tage zu planen, um meine Zeit im Salon
und die Termine in Twilights und Verabredungen mit meinen
Freundinnen unter einen Hut zu bringen. Du weißt ja – alles
Symptome
meiner Zwangsneurose. Über das Thema bist du ja bestens
informiert.«
»Nur aus Mindys Erzählungen.« Rocky nickte. »Und
die haben sich als ebenso unzuverlässig erwiesen wie langfristige
Wettervorhersagen. Mach nur weiter.«
Phoebe kaute am Ende ihres Stifts herum und
versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendwie war sie nicht mehr so
richtig in Schwung.
Rocky nahm einen Schluck Bier. »Wir gehen mit den
Veränderungen in unserem Leben auf völlig verschiedene Art und
Weise um, was? Du hältst nach wie vor an geordneten Strukturen
fest, während ich mich einfach nur noch treiben lasse. Ich frage
mich, was wohl ein Psychologe dazu sagen würde?«
»Wahrscheinlich würde er sich Wochen oder Monate
oder Jahre damit befassen und ein Vermögen kassieren, um
festzustellen, dass ich klinisch zwanghaft bin und du nicht.«
Als Rocky daraufhin einfach nur lachte und sich im
Stuhl zurücklehnte, um in den durch das duftende Blattwerk
schimmernden endlos blauen Himmel hinaufzuschauen, schrieb Phoebe
auf eine weitere Seite eine neue Überschrift.
Rocky wandte den Blick vom Himmel und spähte über
den Tisch neugierig auf ihr Notizbuch. »Was steht da? FETA? Ist das
großgeschriebener Schafskäse?«
»Das ist eine Abkürzung für ›Führ einen Twilighter
aus‹.«
»Ach so.« Rocky überlegte, dann sah er sie finster
an. »Meinst du Gassi gehen wie mit einem Hund an der Leine?«
Phoebe rümpfte die Nase. »Kein bisschen
komisch.«
»Entschuldige, du meinst wohl, jemanden finden,
der bereit wäre, mit einem Twilighter ins Pub oder ins Kino oder zu
einem Spaziergang oder zum Fußball oder zum Einkaufen zu
gehen?«
»Ganz genau. In der Tat …«, Phoebe blätterte in
ihrem Notizbuch, »habe ich hier ein paar Ideen aufgeschrieben
…«
»Das glaub ich gern, aber bevor du mir alles über
FETA erzählst und deine Pläne, alle Twilighter freizulassen, würde
ich dich gern noch etwas anderes fragen, okay?«
Phoebe nickte. Sie wohnten im gleichen Haus. Da
konnten sie ruhig miteinander sprechen. Bislang ging es ja ganz
zivilisiert zu. Auch wenn es sie amüsierte, dass Rocky gerade
vorhin noch gesagt hatte, er wolle nicht
mit ihr reden. Vielleicht, dachte sie, war er genauso einsam wie
sie; genauso verloren in der leeren Wohnung; genauso froh, am Ende
eines heißen anstrengenden Tages eine freundliche menschliche
Stimme zu hören.
»Warum verwendest du Notizbuch und Stift für all
deine Listen? Warum nicht einen Laptop oder dein Handy oder irgend
ein anderes kleines elektronisches Organizerding? Ich hätte
gedacht, jemand, der so kontrolliert ist wie du, hätte alles auf
Knopfdruck parat.«
Phoebe überlegte einen Moment. Sie war sich nicht
sicher, ob ihr das Wort »kontrolliert« wirklich gefiel. »Das hab
ich alles ausprobiert. Ist aber nicht das Richtige für mich.
Wahrscheinlich, weil ich schon von klein auf immer alles auf Papier
festgehalten habe. Jahrelange Gewohnheit. Wenn ich etwas nicht
handschriftlich notiere, fühlt es sich für mich irgendwie nicht
richtig an.«
»Ja, ich glaube, das verstehe ich. Ich ziehe immer
erst die rechte Socke an und dann die linke. Die meisten Leute
machen es andersrum. Wenn ich versuche, es in der allgemein
üblichen Reihenfolge zu tun, fühlt es sich seltsam an und mir ist
den ganzen Tag lang irgendwie unbehaglich.«
»Das hätte ich nicht gedacht.« Phoebe lächelte.
»Du bist also auch ein heimlicher Zwangsneurotiker?«
»Keine Spur! Ich dachte nur, ich vertraue dir als
versöhnliche Geste eine kleine Macke an.«
»Danke.«
»Gern geschehen.«
Jetzt oder nie, dachte Phoebe. »Eigentlich wäre
das wohl die passende Gelegenheit, dich in aller Form um
Entschuldigung zu bitten.«
»Nicht nötig. Das haben wir doch schon geklärt.
War ja genauso auch meine Schuld – ich hätte mich ja nicht so affig
aufführen müssen und dir die Wahrheit sagen können. Aber
irgendwie«, er sah sie über den Tisch hinweg an, »war es doch echt
ziemlich lustig, findest du nicht?«
»Nein. Aber es tut mir leid. Ehrlich.«
Er lächelte und sagte nichts. Zumindest einige
Minuten lang. Dann hob er wieder seine Bierflasche. »Was planst du
denn? Oh,’tschuldigung. Wir wollten ja nicht miteinander sprechen.
Beachte mich nicht, und schreib ruhig weiter. Ich lese nicht mit,
versprochen.«
Phoebe bemühte sich, während die Winchester Road
in der drückenden Abendhitze brütete. Sie versuchte es wirklich.
Sie trug ihre Twilights-Termine ein, sowohl für den Friseurservice
wie auch für die Astrologie, schuf Zeitfenster für Verabredungen
mit Clemmie, Amber und Sukie, merkte einen Sonntagsbesuch bei ihren
Eltern vor, schrieb sich eine Merkhilfe, YaYa wegen des Sommerfests
Bescheid zu sagen, und versuchte zu vergessen, dass Rocky überhaupt
da war.
Es ging nicht.
Als Rocky den Verschluss seiner zweiten
Bierflasche zurückschnalzen ließ, warf er einen Blick auf ihr
Notizbuch. »Ach, lernst du auch noch eine Fremdsprache? Dank einer
anständigen Schulbildung und meines Jobs bei der Fluggesellschaft
bin ich in den meisten europäischen Sprachen ganz gut, aber die da
erkenne ich nicht. Auch wenn es natürlich auf dem Kopf steht, aber
trotzdem …«
»Was? Ach das, das ist, ähm, Romani.« Phoebe hätte
am liebsten wie damals in der Schule schützend die Arme um ihr Heft
gelegt. »Tja, ein Romani-Dialekt anscheinend. Das ist, ähm, ein
Vers von Essie.«
»Hat wohl mit deinem magischen Wahrsagekram zu
tun? Ja, richtig. Ich weiß Bescheid – auch wenn ich nichts davon
verstehe und auch nicht daran glaube. Sie hat mir erzählt, dass
eine verkappte Star-Astrologin in dir steckt, und dass ihr beide
irgendeinen neuen magischen Kristallkugeltrick ausheckt. Klang
wirklich interessant, wenn auch für einen Pedanten wie mich ein
bisschen zu sehr nach New-Age-Hippiekram. Es freut mich, dass du,
na ja, etwas gefunden hast, was dich begeistert.«
»Nachdem ich sitzen gelassen wurde, meinst
du?«
»Nun, wenn du es so brutal ehrlich formuliert
haben willst, ja. Ich denke, das ist so ähnlich wie bei mir mit dem
Gärtnern. Früher hätte ich kaum einen Spaten von einer Harke
unterscheiden können …« Er stockte. »Meinst du, Essie ist uns
irgendwie geschickt worden, um unser Leben wieder auf die Reihe zu
bringen?«
»Wie ein Schutzengel?«
»Nicht ganz so abgehoben. Bei der
Zigeuner-Wahrsagerei komm ich so eben noch mit – viele Leute
schwören ja darauf -, aber an Engel glaube ich nicht. Nein, ich
meine, wie vom Schicksal geschickt. Du sagst ja selbst, dass sie in
deinem Leben für frischen Wind gesorgt hat, und nachdem ich im
Gefängnis reichlich Zeit hatte, darüber nachzudenken, wurde mir
klar, dass die Begegnung mit Essie der Wendepunkt war, um meinem
Leben eine neue Richtung zu geben.«
»Schöner Wendepunkt. Wenn du Essie nicht begegnet
wärst, wärst du ja gar nicht im Gefängnis gelandet und …«
»Ohne Regen kein Sonnenschein, wie meine Mutter
mit ihren
heiter-abgedroschenen Phrasen immer sagt.« Rocky lachte. »Ja gut,
es war vielleicht ein bisschen krass, aber vor Essie war ich mit
Mindy unglücklich und von meinem Job angeödet, sah aber keinen
Ausweg – und jetzt bin ich mein eigener Boss, kann nachts gut
schlafen und lasse jeden Tag neu auf mich zukommen.«
Phoebe war noch immer erstaunt, dass er nicht über
das Konzept magischer Astrologie spottete, und nickte. »Essie ist
wunderbar, ja, und du hast Recht, die Begegnung mit ihr hat auch
mein Leben verändert. Hast du eine Ahnung, warum sie in Twilights
lebt?«
»Nein, ich nehme an, dass sie ihr Zuhause aus
irgendeinem Grund verlassen musste. Ich habe nie gefragt, und sie
hat es mir nie erzählt.«
Phoebe goss sich ein neues Glas Wein ein. Am
Himmel über den Baumwipfeln sah man Streifen in Lila, Gold und
Rosa. »Und bereust du nicht irgendwie, na ja, was geschehen
ist?«
»Im Hinblick auf Essie, ja.« Rocky äugte durch
seine Bierflasche zum Himmel empor. »So etwas hätte ihr niemals
passieren sollen. Niemand sollte das durchmachen. Aber was mich
angeht, nein. Ich fand es schrecklich im Gefängnis. Die meiste Zeit
hatte ich Angst, und zwar richtig Angst, und es war echt übel. Und
dass ich hinterher meinen Job los war, und Mindy ebenso, und dass
meine Eltern mich kaltgestellt haben und auch viele meiner Freunde
… Aber dass ich den Mistkerl zusammengeschlagen habe, der Essie
wehgetan und erschreckt hat, bereue ich nicht. Das werde ich
niemals bereuen. Er hat es verdient. Und was auch immer der Richter
gedacht haben mag, wir waren einander in Größe und Kraft durchaus
ebenbürtig, und er hatte deutlich mehr Übung in Faustkämpfen als
ich.« Er sah Phoebe an. »Offen gestanden bin ich kein Kämpfer. Bin
es nie gewesen. Wusste gar nicht, was in mir steckt. Es
war eine ganz instinktive Reaktion. Ich war einfach so wütend über
das, was er ihr angetan hatte, und dass er dazu noch feixte und
grinste …«
Phoebe schluckte. Sie konnte sich nicht einmal
annähernd vorstellen, durch welche Hölle Rocky gegangen war. »Hör
mal, wahrscheinlich willst du über deine Zeit im Gefängnis nicht
gerne reden, aber wenn doch, und wenn es eine Hilfe wäre, ich bin
eine gute Zuhörerin.«
»Danke. Das ist wirklich nett, und vielleicht
komme ich darauf zurück – eines Tages. Momentan ist es einfacher,
gar nicht daran zu denken, und niemand, den ich kenne, will gerne
darüber sprechen, also tue ich irgendwie so, als wäre das alles
einem anderen passiert.«
»Du hast ja gesagt, deine Eltern wollen nichts
mehr mit dir zu tun haben, was ich übrigens wirklich ganz
scheußlich von ihnen finde, aber deine Freunde haben doch sicher
Verständnis?«
»Die wahren Freunde schon, ja – noch so ein
abgedroschener Spruch meiner Mutter bewahrheitet sich hier – wenn
so etwas passiert, merkst du, wer wirklich deine Freunde sind,
nicht wahr?«
»Ja, meine waren echt umwerfend nach der Hochzeit
und sind es noch …«
»Siehst du«, sagte Rocky und lächelte, »du hast
genauso etwas Schlimmes durchgemacht wie ich. Und du hast überlebt.
Und inzwischen hast du aufgehört zu weinen, oder?«
»Was?«
»Na ja, vielleicht … ich habe dich jedenfalls
nachts immer weinen hören, jede Nacht, und es hat mir fast das Herz
zerrissen.« Rocky seufzte. »Herrgott, wenn ich mich so reden höre …
Wir bräuchten nur noch eine Scheibe von Joy Division oder Morrissey
aufzulegen, dann würden wir uns wohl bald um die Schlaftabletten
und eine Flasche Whisky prügeln.
Lass uns lieber das Thema wechseln, zum Beispiel, öhm, ach ja,
erzähl mir doch etwas über FETA.«
Phoebe, die leicht betreten war, weil Rocky ihren
Liebeskummer mit angehört hatte, blätterte in ihrem Notizbuch, um
Zeit zu schinden, und versuchte währenddessen, sich wieder zu
fassen.
»Gut, okay – also, ich finde es grässlich, wie die
arme Essie in Twilights festsitzt wie, äh, eine Gefangene. Sie ist
nett und quicklebendig und fit und sollte selbstbestimmt leben
können. Und auch so wunderbare Menschen wie Lilith und Prinzessin
und viele andere dort. Weißt du, dass sie das Heim nicht
unbegleitet verlassen dürfen? Und so hocken sie den ganzen Tag dort
vor dem Fernseher und werden in all ihrem Tun und Lassen von den
schrecklichen Tugwells herumkommandiert. Außerdem glaube ich, dass
Essie einen Typ hat, auf den sie steht – einen Kavalier, wie sie es
nennt -, aber ich glaube nicht, dass es einer aus Twilights ist,
also wie soll sie sich dann mit ihm treffen können?«
»Keine Ahnung.« Rocky zog die Augenbrauen hoch.
»Darüber habe ich wirklich noch nicht nachgedacht, über keine
dieser Fragen.«
»Dann denk jetzt mal darüber nach. Wie ginge es
dir, wenn du mit siebzig oder achtzig oder neunzig einfach in ein
Heim abgeschoben wirst? Weil du, was die Gesellschaft betrifft,
ausgedient hast? Ich spreche nicht von denjenigen, die im Heim
untergebracht werden müssen, weil sie nicht mehr selbst für sich
sorgen können, oder von denjenigen, die gerne dort sind, weil sie
es genießen Gesellschaft zu haben. Ich meine Leute wie Essie, die
weitere zwanzig Jahre zufrieden hätten leben können, wenn man sie
nicht in einen dieser öden Kaninchenställe gepfercht hätte und
…«
»Okay. Ja, nachdem ich im Gefängnis war, fände ich
die Vorstellung
entsetzlich, meinen Lebensabend erneut in Gefangenschaft zu
verbringen. Aber was sollen wir tun? Du kannst ja nicht einfach
anfangen, die Leute umzusiedeln, Phoebe. Sie sind doch keine
kleinen Kätzchen. Man kann nicht einfach Leute überreden, mit einem
gemischten Sortiment Whiskas und einem Katzenklo in Twilights
aufzukreuzen und sich die Niedlichsten auszusuchen.«
Phoebe kicherte. »Eigentlich dachte ich mehr
daran, eine Art Einsatzplan aufzustellen, mit Freiwilligen aus dem
Bekanntenkreis, die vielleicht mit dem einen oder anderen
Twilighter irgendetwas gemeinsam haben und die Betreffenden ab und
zu eine Weile da rausholen, zum Vergnügen oder als Abwechslung oder
na ja, einfach so.«
»Netter Gedanke, aber ob die Tugwells dem
zustimmen? Und die Kommune? Wahrscheinlich gibt es irgendeine
europäische Richtlinie, die es verbietet, ältere Leute von Fremden
ausführen zu lassen.«
»Nun, es wären ja aber keine Fremden«, beharrte
Phoebe. »Wir würden ein Programm gestalten, bei dem vorab in
Twilights ein unverbindliches Kennenlern-Treffen stattfände. Ach,
ich weiß auch nicht. Ich will ja nur helfen.«
»Und wie findet Essie diesen Plan?«
»Sie weiß nichts davon. Ich werde mit ihr darüber
sprechen – und hören, was sie meint -, bevor ich der enormen Joy
und dem kleinen Tony irgendwas sage, und dann könnten wir
vielleicht unsere Adressbücher abgleichen und all unsere Freunde
als Begleiter beteiligen. Übrigens, wofür bist du denn beim
Sommerfest eingeteilt worden?«
Rocky zog eine Grimasse. »Für den
Raritäten-Stand.«
»Ach, du Glückspilz!« Phoebe lachte. »Da hast du
ja das ganz kurze Hölzchen gezogen! Hättest du nicht Nein sagen
können?«
»Glaube kaum.« Rocky reckte sich träge. »Außerdem
würde ich für Essie so gut wie alles tun.«
»Ich auch. Ich gebe die Wahrsagerin – lach bitte
nicht.«
»Würd mir im Traum nicht einfallen.« Rocky schob
den Stuhl zurück und stand auf.
Phoebe spürte einen überraschenden Anflug von
Bedauern, dass er schon gehen wollte. Es war nett gewesen, mit ihm
zu plaudern. Wirklich nett. Komisch, dachte sie, er war
wahrscheinlich einer der seltenen Männer, mit denen sie sich jemals
rein freundschaftlich längere Zeit unterhalten hatte. Sonst immer
nur mit Ben. Ihr ganzes Leben lang hatte es immer nur Ben
gegeben.
»Ich hol mir noch ein Bier«, sagte Rocky. »Die
zwei haben meinen Durst noch nicht ganz gestillt. Es ist immer noch
dermaßen heiß. Möchtest du auch eines?«
»Nein danke«, antwortete Phoebe, und freute sich
ganz blödsinnig, dass er wieder zurückkommen wollte. »Ich hab noch
Wein, auch wenn ich neue Eiswürfel bräuchte. Ach – ist das deine
Türklingel oder meine?«
»Deine.« Rocky blieb auf halber Höhe der
Freitreppe stehen. »Wenn du Besuch bekommst, bleib ich oben in
meiner Wohnung.«
»Nein – ich meine, nicht nötig. Ich erwarte
niemanden. Geh und hol dein Bier, ich bringe Chips und Erdnüsse
raus, oder?«
»Super!«, rief Rocky und verschwand auf seinem
Balkon. »Ich steh auf Frauen, die was Leckeres zum Knabbern auf den
Tisch zaubern.«
Mit albernem Lächeln tappte Phoebe nach drinnen
und öffnete die Wohnungstür.
»Hi, ach, du siehst ja, ähm, ziemlich abgeschminkt
aus.« Clemmie schmunzelte. »Haare nicht gemacht, kein Make-up, und
hast du unter diesem Hemd überhaupt irgendetwas an?«
Oooh … Phoebe stöhnte. Da hatte sie sich ewig lang
mit Rocky unterhalten und lief herum wie eine abgerissene Pennerin.
Nicht etwa, dachte sie rasch, dass das irgendeine Rolle spielte,
aber …
»Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Sie grinste
Clemmie an. »Willst du reinkommen?«
»Nur kurz, wenn es dir recht ist. Ich war gerade
in der Gegend.« Mit wallendem buntem Folklorerock rauschte Clemmie
in die Wohnung. »Ich war zur Schwangerschaftsvorsorge in der
Dovecote-Praxis. Es ist herrlich, wieder
dorthin zu gehen. Da ich dort ja mal an der Rezeption gearbeitet
habe, werde ich behandelt wie eine königliche Hoheit.«
»Ich dachte, die wollten dich damals unbedingt
loswerden?«
»Diesen Fehler haben sie bald bereut«, erwiderte
Clemmie unbekümmert. »Hätten mich mit Handkuss wieder
zurückgenommen, wenn ich zur Verfügung gestanden hätte, was aber« –
sie tätschelte ihren Bauch – »nicht der Fall ist und auch nie
wieder sein wird.«
»Ich sitze draußen im Garten.« Phoebe suchte in
der Küche Eiswürfel, Chips und Erdnüsse zusammen. »Möchtest du ein
Tonicwater? Mit Eis und Zitrone?«
»Und Oliven?«, fragte Clemmie eifrig. »Du hast
doch Oliven da oder nicht?«
»Aber sicher. Nicht, dass ich je welche äße. Hier,
bedien dich einfach aus dem Glas, einmal grüne, einmal schwarze und
einmal Cocktailstäbchen.«
»Toll, danke Phoebe.« Clemmie griff sich alles,
rauschte mit wehendem Rock durch die Terrassentüren ins Freie und
ließ sich am Gartentisch nieder. »Ach, dein Lieblings-Notizbuch.
Was machst du denn für Pläne? Darf ich mal sehen?«
»Gar keine und nein.« Phoebe stellte Eiskübel,
Chips und Erdnüsse auf den Tisch. »Ich organisiere nur ein paar
Dinge
– aber du ersparst mir einen Anruf, denn Twilights macht am
Augustfeiertag ein Sommerfest, und sie hätten gerne ein Feuerwerk.
Ach, und könntest du YaYa ausrichten, dass außerdem definitiv ein
oder zwei Cabaret-Nummern gewünscht werden?«
»Mensch.« Clemmie zog eine Grimasse. »Ganz schön
mutig von denen.«
»Ich hab ihr gesagt, es muss etwas Jugendfreies
sein.«
»Ha, mach dir da mal lieber keine allzu großen
Hoffnungen.« Clemmie spießte mehrere Oliven auf einmal auf und
kaute mit offensichtlichem Genuss. »Ach, köstlich, vielen Dank. Guy
wird gerne ein schönes Feuerwerk für die Altchen machen. Ich sage
ihm, dass er sich den Tag freihalten soll – und selbst wenn er
schon irgendwas ausgemacht hat, kann er das sicher auch Syd und den
anderen von der Pyro-Crew überlassen und selbst nach Twilights
kommen. Für dich würde er so gut wie alles tun, das weißt du ja.
Also, und wie läuft es mit deinem neuen Projekt?«
»Bestens, danke der Nachfrage. Es macht mir Spaß
und lenkt mich von allem anderen ab. Die Twilighter sind viel
schlimmer dran als ich – ehrlich. Sie freuen sich riesig über die
astrologische Beratung und den Friseurservice und so weiter. Im
Grunde wollen sie einfach mal ein anderes Gesicht sehen und
jemanden zum Reden haben. Meinst du, du könntest auch mal hingehen
– vielleicht mit Suggs, denn der kommt ja immer gut an – und ein
oder zwei der Bewohner adoptieren? Ich dachte mir …«
»Adoptieren? Meinst du, mit heim nach Winterbrook
nehmen? Verrückte alte Leute im Gästezimmer einquartieren? Teufel
auch, Phoebe, das ist aber viel verlangt. Natürlich werde ich
darüber nachdenken, aber mit Guy und mir und Suggs und YaYa im Haus
und Guy junior unterwegs weiß ich ja nicht …«
»Aber nein!« Phoebe ließ Eiswürfel in ihr Glas
klimpern. »Ich meine doch bloß, welche kennenlernen und dann
vielleicht mal für eine Fahrt ins Grüne mitnehmen oder zum
Einkaufen oder so etwas.«
»Ach so. In regelmäßigen Abständen? Können wir uns
denn jemanden aussuchen, den wir mögen?«
Phoebe kicherte beim Gedanken an Rockys
Bemerkungen über kleine Kätzchen. »Hoffentlich in regelmäßigen
Abständen, ja. Damit sie sich auf etwas freuen können. Und was das
Aussuchen von jemand Nettes betrifft – tja, ich weiß nicht recht,
aber ich hoffe doch, dass die Tugwells in der Lage wären,
Gleichgesinnte zusammenzubringen, sofern das überhaupt möglich ist.
Die Twilighter brauchen einfach ein bisschen mehr Spaß im Leben,
Clemmie. Wir haben es gut – aber die nicht.«
Clemmie schaufelte noch mehr Oliven in sich
hinein. »Ja, du hast Recht. Das klingt nach einem echt coolen
Projekt. Ich sehe unsere anderen Freundinnen bald, dann hole ich
sie mit ins Boot. Das wird spitze, als hätte man
Adoptiv-Großeltern, nur besser, weil man sie abends zurückbringen
kann und sich nicht endlos die Geschichten anhören muss, wie
großartig es im Jahr neunzehnhundertfünfunddreißig noch war.«
Phoebe nickte lachend. »Prima, danke.«
»Freut mich, dass du wieder Appetit hast«, sagte
Clemmie mit Blick auf die Berge von Chips und Erdnüssen.
»Allerdings übertreibst du es vielleicht ein bisschen – selbst mir
würde es schwerfallen, das alles aufzuessen.«
»Ein Teil davon ist für mich.« Rocky kam die
Treppe herab. »Hi, ich bin Rocky – wir sind uns schon mal über den
Weg gelaufen, oder?«
»Stimmt.« Clemmie strahlte. »Ich bin Clemmie
Devlin.«
»Ach ja«, Rocky ließ sich auf den dritten Stuhl
sinken und
nahm ein Päckchen Chips in Angriff, »die mit dem tollen Frettchen
und dem ebenso tollen Transvestitenfreund. Die haben mich beide zum
Lachen gebracht. Oh, und danke für das Futter, Phoebe. Das ist ja
wie im allerbesten Pub.«
Mit weit aufgerissenen Augen sah Clemmie fragend
von Phoebe zu Rocky und wieder zurück, dann kicherte sie und
steckte die Nase in Phoebes Notizbuch.
»Mensch!«, stieß sie einen Moment später hervor.
»Was um Himmels willen ist das denn, Phoebe? Was soll denn all
dieses Happy Birthday? Und was zum Teufel ist die geheime
Geburtstagsmagie?«
Phoebe wurde rot. »Ach, ähm, das ist nur etwas,
das ich in Twilights mit Essie mache. Alte Zigeunerweisheit und so.
Sie ist wirklich fantastisch in allem, was mit Astrologie zu tun
hat – und hat über jede Art von Esoterik mehr vergessen, als ich je
wusste. Wir, äh, hoffen, es bald ausprobieren zu können.«
Rocky nahm sich eine Hand voll Erdnüsse. »Sag
nichts – die beiden haben unheimlich viel drauf in Sachen
Wahrsagerei. Essie ist so was Ähnliches wie eine gute Hexe, und
Phoebe steht ihr, wie ich höre, nicht viel nach.«
»Ach, ich würde Phoebe nicht als Hexe bezeichnen.
Aber es freut mich echt, dass sie zur Astrologie zurückgefunden hat
– oder um welche Geheimwissenschaft auch immer es gehen mag. Und
was Hohn und Spott betrifft: Keine Sorge! Ich meine, angesichts der
vielen verschiedenen magischen Praktiken in den Dörfern dieser
Gegend und der Tatsache, dass ich mich Ewigkeiten lang damit
beschäftigt habe, ein magisches Feuerwerk auszutüfteln, bin ich
sicher die Letzte, die über so etwas lästern würde.« Clemmie
strahlte Rocky an. »Aber ich finde es echt süß, dass du sie in
Schutz nimmst.«
»Hat er gar nicht«, warf Phoebe rasch ein. »Er
wollte es nur erklären. Stimmt’s?«
»Stimmt.« Rocky lehnte sich im Stuhl zurück und
hob die Bierflasche. »Erklärungen waren offenbar gar nicht nötig.
Beachtet mich einfach nicht.«
Clemmie gluckste, dann spießte sie eine weitere
Reihe Oliven zu einem Minikebab auf und vertiefte sich wieder in
das Notizbuch. »Liebe Güte, Phoebe! Was ist denn das für ein
Hokuspokus?
Geburtstagsglück für Chal und Chie,
Misto rommerin mein Geschenk.
Dukker dokker ruw nicht beng,
Misto kooshti rommer und rye.
Misto rommerin mein Geschenk.
Dukker dokker ruw nicht beng,
Misto kooshti rommer und rye.
Was zum Teufel soll das denn heißen?«
»Leg das Buch weg!« Phoebe schüttelte den Kopf.
»Das ist, ähm, persönlich.«
»Es ist ein Romani-Dialekt«, warf Rocky
hilfsbereit ein. »Hat mit dem Geburtstagszauberzeug zu tun. Ich
glaube, Phoebe wird das vielleicht beim Sommerfest in Twilights
verwenden. Sie macht dort die Wahrsagerin.«
»Ist nicht wahr?« Clemmie quietschte vor Lachen.
»Stimmt das, Phoebe? Wirst du zu guter Letzt doch noch eine
richtige Madame Suleika? In aller Öffentlichkeit? Und zauberst auch
noch? Ui, ui, ui, ich glaube, das wird ein Sommerfest, das man
nicht so bald wieder vergessen wird!«