12. Kapitel
Dann ist also alles gut gelaufen, Schätzchen?« Slo sah Essie beim Kaffeetrinken in Patsy’s Pantry tief in die Augen. »Mit dem jungen Rocky und auch mit der kleinen Phoebe? Ich mag sie, so ein nettes Mädchen. Sie wohnt in meiner Nachbarschaft – hab ihr gesagt, wir möchten alle, dass sie in der Winchester Road bleibt, nachdem dieser Blödmann sie vorm Altar hat stehen lassen. Ich bin froh, wenn sich für die beiden alles zum Guten wendet. Und ich bin auch froh, dass du mir alles über deine eigenen Schwierigkeiten erzählt hast.«
Essie lächelte. »Du weißt ja wie man sagt: Geteiltes Leid ist halbes Leid und so weiter. Danke fürs Zuhören und für deinen Beistand. Eines Tages werde ich mich vor lauten Stimmen und Horden junger Männer sicher nicht mehr fürchten. Jedenfalls, ja, alles andere entwickelt sich bestens. Rocky hat den Zuschlag für regelmäßige Arbeiten in Twilights – und weitere Aufträge in Aussicht. Er wird also zurechtkommen. Und Phoebe hat mehr Anfragen als Friseurin und Astrologin, als sie bewältigen kann.«
Phoebe, dachte Essie, hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, welches Talent sie besaß und was sie damit bewirken konnte, doch bei den drei gemeinsamen Sitzungen seit dem ersten Gespräch über den Geburtstagszauber hatte sie sich als gelehrige und willige Schülerin erwiesen.
Phoebes anfängliche Zweifel waren zerstreut, und nun, dachte Essie froh, brannte sie geradezu darauf, etwas dazuzulernen.
»Tut mir leid, dass wir uns heute nur kurz sehen können, Schätzchen.« Slo wischte sich mit dem Taschentuch den Cappuccino-Schaum vom Mund. »Wir haben heute Mittag ein Begräbnis.«
»Ich finde es sehr mutig von dir, dass du dich am helllichten Tag mit mir in Hassocks auf der High Street blicken lässt.«
»Genau genommen denken unsere Constance und Perpetua, dass ich die letzten Blumenspenden für die heutige Beisetzung arrangiere. Falls ihnen irgendwer etwas erzählt, sage ich einfach, dass wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind und, äh, na ja, mir wird schon was einfallen.«
Essie lächelte. »Wird dir bestimmt. Wie du weißt, bin ich angeblich wieder mal beim Arzt. Weiß der Henker, was die enorme Joy und der kleine Tony mir für eine Krankheit andichten, aber bestimmt etwas Unheilbares, bei den zahlreichen Terminen, die ich im Lauf der letzten Wochen hatte.«
»Wir sind fast wie Romeo und Julia im Rentenalter, nicht wahr?« Slo gluckste. »Na ja, ich meine nicht …«
»Ich weiß, wie du es meinst«, sagte Essie besänftigend und trank ihren Cappuccino aus. »Und irgendwie finde ich diese ganze Heimlichtuerei auch ganz schön spannend. Im Grunde fände ich jede Art von Abwechslung ganz schön spannend.«
»Darum hast du wohl auch die jungen Leute Rocky und Phoebe unter deine Fittiche genommen, was, Schätzchen? Und vielleicht auch, weil die beiden sehr viel netter sind als deine eigenen Kinder.«
»Du bist sehr einfühlsam.« Essie gluckste. »Und wahrscheinlich hast du Recht. Aber meine Kinder sind jetzt schon lange keine Kinder mehr. Sie gehen beide schon auf den Ruhestand zu. Kaum zu glauben, aber so ist es. Jetzt lass dich von mir nicht länger aufhalten. Ich will deine Cousinen nicht gegen mich aufbringen.«
»Garantiert nicht!«, sagte Slo schaudernd. »Sie würden ein unglaubliches Tamtam machen, wenn sie von uns erfahren, auch wenn wir nur gute Freunde sind, das kann ich dir sagen. Das hat nichts mit dir persönlich zu tun, Schätzchen, sondern es geht ums Geschäft. Um das Bestattungsunternehmen. Wie ich den beiden dauernd sage, wird die Firma mit uns aussterben, da keiner von uns Kinder hat, aber vorläufig ist das Geschäft unserer Connie und Perpetua ihr Herzblut. Vor allem für Constance, sie hat diesen Dickkopf, dass es unsere Firma ist, und einzig allein unsere, so wie es immer war. Ich hab ihr schon oft erklärt, dass wir junge Leute einstellen sollten, die nach uns den Betrieb übernehmen. Aber davon will sie nichts wissen. Das Unternehmen gehört den Motions und keinem sonst. Kein frisches Blut. Sie hat mich und Perpetua immer davor gewarnt, ›Bekanntschaften‹ zu knüpfen, wenn du verstehst, was ich meine. Sie denkt, jeder, der von außen dazukäme, würde ihr entreißen wollen, was ihr das Liebste ist.«
»Dich? Oder die Firma?«
»Die Firma, Schätzchen. Tut mir leid, Essie, aber sie wäre überzeugt, dass du nur auf unser Geld aus bist.«
Essie lachte. »Öfter mal was Neues. Das hat mir bislang noch niemand vorgeworfen.«
»Weißt du, Schätzchen, es ist nicht so, dass es mir peinlich wäre, mit dir befreundet zu sein, ganz im Gegenteil, aber …«
»Ist schon gut.« Essie stand auf. »Nein, diesmal bin ich mit Bezahlen an der Reihe – und du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich weiß ja, wie es ist, wenn man mit Adleraugen beobachtet wird und über jeden seiner Schritte Rechenschaft ablegen muss. Außerdem wäre es mir schrecklich unangenehm, wenn es meinetwegen bei euch zum Familienkrach käme. Ich weiß nur zu gut, wie scheußlich so was ist. Geh du nur und mach deine Beisetzung – und ich mache mich auf den Rückweg nach Twilights.«
»Nicht ganz allein, Schätzchen. Das kann ich nicht zulassen.«
»Doch, doch, es ist alles bestens. Ich muss eben noch in Paulines Cut’n’Curl reinschauen, um Phoebe etwas auszurichten, und dann treffe ich mich mit Rocky. Er nimmt mich im Auto mit zurück zum Zellenblock H. Heute ist einer seiner festen Arbeitstage. Vielen Dank noch mal, Slo, es war wirklich nett hier.«
»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, das kannst du mir glauben. Wir sehen uns doch bald wieder, Schätzchen, oder?«
»Natürlich.« Essie kramte in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel. »Wir gehen wie üblich vor: Bei einem deiner geschäftlichen Termine in Twilights brauche ich ›zufällig‹ eine Mitfahrgelegenheit ins Dorf. Das macht mir unheimlich Spaß. Die enorme Joy würde einen Anfall kriegen, wenn sie wüsste, dass ich sie hinters Licht führe.«
»Oh Gottogott!« Slo äugte durch den Spitzenvorhang des Konditoreifensters. »Unsere Perpetua! Sie steuert auf den Supermarkt zu – wenn ich jetzt rausflitze, sieht sie mich vielleicht nicht. Hör mal, Schätzchen, ich muss Reißaus nehmen. Wenn wir richtig einen auf Millennium machen würden und uns mit diesen neumodischen Telefondingern ausrüsten, könnten wir uns dieses ganze Versteckspiel leicht sparen, glaubst du nicht? Mach’s gut, Schätzchen!«
Lachend winkte Essie ihm Lebewohl, als Slo aus der Tür zischte und in entgegengesetzter Richtung zu Perpetua auf der High Street verschwand.
»Das gehört sich aber nicht!«, maulte Patsy, als sie Essies Geld für zwei Cappuccinos mit Toast entgegennahm. »Ein Bestattungsunternehmer, der hier rausrennt, als wären ihm die Höllenhunde auf den Fersen. Ein Bestattungsunternehmer sollte sich jederzeit würdevoll betragen. Vor allem, wenn die Außentemperatur sich schon der Vierzig nähert. Ich wünschte, diese verdammte Hitzewelle hätte bald ein Ende – sie ruiniert mir all meine Eistörtchen.«
Essie hatte dieser Tirade kaum noch etwas hinzuzufügen, daher nahm sie ihr Wechselgeld in Empfang und lächelte unverbindlich.
Also, erst Phoebe, dann Rocky. Slo hatte Recht, dachte sie, als sie in die drückende Hitze auf der Hauptstraße hinaustrat. Solche Kinder wie Phoebe und Rocky hätte sie sich gewünscht. Beide waren sie unglücklich und verwirrt und aus der Bahn geworfen, und es war so schön, etwas für die beiden zu tun und ihnen helfen zu können. Und indem sie ihnen half, half sie auch sich selbst, damit sie nicht vor Langeweile zugrundeging.
Mit zufriedenem Lächeln ging sie zu Paulines Friseursalon.
 
»Und so leiste ich künftig in zwei Bereichen einen regelmäßigen Beitrag«, rief Phoebe Pauline zu – drei Ventilatoren, die sich wirbelnd bemühten, die subtropische Temperatur im Salon zu kühlen, erzeugten einen Geräuschpegel wie eine vorbeifliegende Concorde -, während sie den letzten Lockenwickler im sich lichtenden Haupthaar von Doreen befestigte, einer leicht abgedrehten Rentnerin, die für ihre lauten und unangemessenen Ausbrüche bekannt war und regelmäßig für das billige Tagesangebot herkam. »Was die Astrologie betrifft, bin ich mir allerdings noch nicht so ganz sicher …«
Sie hielt inne. Was die konventionelle Astrologie betraf, schwankte sie noch, aber von Essies Geburtstagszauber war sie merkwürdigerweise allmählich immer mehr überzeugt. Die dazugehörige Roma-Beschwörung stand jedoch auf einem anderen Blatt. Phoebe war es noch nicht gelungen, alle vier Zeilen aufzusagen, ohne einen Lachanfall zu bekommen.
Nach drei weiteren Übungsstunden mit Essie hatte sie allerdings mehr und mehr den Eindruck, dass an dieser Sache vielleicht doch etwas dran sein könnte. Zudem hatte Essie sie schon beinahe davon überzeugen können, dass sie über eine Art schlummernde Begabung für die geheime GeburtstagsMagie verfügte.
Das hatte sie so sehr beflügelt, wie sie es gar nicht für möglich gehalten hätte.
»Also, das klingt auf jeden Fall recht interessant!«, schrie Pauline die Föhns und Ventilatoren übertönend, während sie versuchte, eine schlechte hausgemachte Dauerwelle zu korrigieren. »Und wie schön für uns, dass du nun in Twilights regelmäßige Friseurtermine hast. Dass all diese älteren Damen eine Färbung wollen – spitze!«
»Ja, nachdem ich Prinzessin die Haare gemacht hatte, haben viele andere beschlossen, es auch zu probieren. Allerdings, da die meisten ohnehin schon Dauerwellenlöckchen haben, sehen sie mit roten und grünen Strähnen dann wahrscheinlich aus wie mit Karnevalsperücken.«
»Dauerwellen haben gerade ein unheimlich starkes Comeback. Glaub mir, über kurz oder lang wollen alle wieder aussehen wie der junge Kevin Keegan. Auf jeden Fall kommt das Geld aus Twilights uns beiden sehr gelegen, und seit du dort Sonderschichten machst, ist ein Lächeln in dein Gesicht zurückgekehrt. Oh, Verzeihung Mrs Wiseman – hat das ein bisschen geziept?«
Phoebe stülpte Doreen das Haarnetz über und führte sie zu den drei Trockenhauben, die Pauline noch immer bereithielt, da sie wusste, dass die älteren Damen aus Hazy Hassocks und den umliegenden Dörfern sich nicht »ordentlich behandelt« fühlten ohne eine ohrenversengende Hitzedröhnung »aus einem richtigen Tockner – nicht von so einem albernden Pustedings«.
Das Leben war merkwürdig, seit sie Essie kennengelernt hatte, dachte Phoebe. Auf nette Art merkwürdig, aber eindeutig sonderbar. Sie vermutete, dass Essie wohl wirklich irgendwelche Zigeunerfähigkeiten hatte. Jetzt brauchte sie nur noch einen passenden Kandidaten oder auch drei, um den Geburtstagszauber auszuprobieren und …
»Phoebe!« In einem aufsehenerregend kurzen orangefarbenen Sommerkleidchen mit Lochstickerei und sensationell hochhackigen orangefarbenen Sandalen steckte YaYa den Kopf zur Tür des Friseursalons herein. »Guten Morgen, die Damen. Pauline, ich muss nur kurz was mit Phoebe besprechen. Ist es okay, wenn ich …?«
Pauline nickte mit dem Kopf zu den Trockenhauben hinüber.
»Sag bloß nicht, du kommst zum Waschen und Legen?«, meinte Phoebe lächelnd und reichte die Fernbedienung Doreen, die sie unverzüglich in ihre Handtasche plumpsen ließ. Zwischen Taschentüchern, Busfahrkarten und Verdauungstabletten kramend fischte Phoebe sie wieder heraus. »Hier bitte, Doreen. Schön festhalten, ja? Und nicht daran rumspielen. Wir wollen Sie doch nicht versengen.« Sie wandte sich YaYa zu. »Ich dachte, du gehst mit deinen Perücken immer nach London?«
YaYa tätschelte ihren aktuellen Kopfputz der Wahl, einen glänzenden rabenschwarzen Bob. »So ist es. An meinen Kopf lasse ich nur Toni & Guy. In einen Laden wie diesen müsste man mich mit den Füßen voraus reinschleppen – nichts für ungut.«
»Schon klar.« Phoebe schmunzelte. »Und – ach je, es ist doch hoffentlich nichts mit Clemmie, oder? Stimmt irgendwas nicht, wegen dem Baby?«
»Aber nein. Die göttliche Mrs D. schaufelt noch immer Oliven in sich hinein und erblüht in voller Schönheit. Nein, ich kam nur gerade vorbei – genau genommen auf Olivenmission zu Big Sava, die müssen das Zeug inzwischen containerweise kommen lassen – und wollte wissen, ob du schon irgendwas ausgemacht hast für unsere Show in dem Rentnerheim?«
»Twilights!«, verbesserte Phoebe rasch. »Nein, noch nicht. Warum?«
»Ach, ich bin Ende der Woche zu ein paar Auftritten mit den Dancing Queens unterwegs und wollte es die Mädels wissen lassen, falls irgendwas schon fest gebucht wäre, das ist alles. Martinique trägt immer gern alle Auftritte so früh wie möglich in den Terminkalender ein.«
»Ich komme morgen wieder nach Twilights. Ich werde nachfragen, ob etwas entschieden wurde, und rufe dich an. Es muss aber was Gesittetes sein – nichts Anzügliches.«
»Ich weiß, Liebes, das hast du schon mehrmals betont. Du wiederholst dich. Und, wie geht es sonst so?«
»Nicht übel. Besser. Tut mir leid, YaYa, aber ich kann hier nicht rumstehen und plaudern, wir haben wirklich viel zu tun.«
»Das sehe ich.« YaYa ließ den Blick über die überwiegend ältliche Kundschaft des Salons schweifen und zog eine Grimasse. »Ich sehe auch, dass du zum ersten Mal wieder ein bisschen Farbe auf den Wangen hast und deine Augen nicht mehr so aussehen, als hättest du die ganze Nacht geweint.«
Phoebe lächelte nur.
»Ach, und außerdem«, sagte YaYa unvermittelt, »wo hab ich nur meinen Kopf! Ich wusste doch, da war noch was. Clemmie und Guy wollen wissen, wie du dir deinen Geburtstag vorstellst. Ich weiß, es ist noch eine Weile hin, aber ehe man sich versieht, wird es September, und wir wollen etwas organisieren. Also, worauf hättest du Lust?«
»Auf gar nichts«, sagte Phoebe und spürte ein dummes schmerzhaftes Ziehen unter ihren Rippen. »Das wird seit sechzehn Jahren mein erster Geburtstag ohne B. – ich meine, allein. Ich möchte den Tag lieber vergessen.«
»Kommt nicht in Frage, Liebes.« YaYa zwinkerte. »Wir werden uns etwas ganz Besonderes ausdenken – irgendeine Riesenfete oder so.«
»Wirklich nicht, YaYa. Im Ernst. Wenn überhaupt, verbringe ich höchstens den Abend mit meinen Eltern. Zugegeben, ich komme inzwischen ein bisschen besser klar, aber ich freue mich nicht darauf. Ich bringe einfach einen Tag nach dem anderen hinter mich. An meinen Geburtstag kann ich noch gar nicht denken.«
YaYa umarmte sie, wobei jede Menge Make-up ausgetauscht wurde.
»Wie auch immer, Liebes, aber erschieß nicht die Botin, und verschmier nicht ihre Bräunungscreme. Ich erwarte dann deinen Anruf wegen der Show für die Oldies. Mach’s gut, Phoebe. Hab Spaß. Töröh!«
»Was ein hübsches Mädel!«, grölte Doreen unter ihrer Trockenhaube hervor, als YaYa auf der High Street davontänzelte. »So ähnlich hab ich in meiner Jugend auch ausgesehen!«
Die Tür öffnete sich erneut, und Essie sah sich suchend im Salon um. Sie winkte Phoebe, und Phoebe winkte zurück.
»Verzeihung«, Essie lächelte Pauline an, »aber wäre Phoebe für einen Moment abkömmlich?«
»Ja«, sagte Pauline mit gespieltem Seufzen, »aber bald braucht sie eine Sekretärin für die Terminplanung. Sie hat hier mehr Sozialkontakte als ich beim Frauenverein. Gehen Sie nur, und halten Sie einen kurzen Schwatz, bevor wir die nächste Färbung in Angriff nehmen.«
Phoebe zog sich mit Essie für ein bisschen mehr Privatsphäre zu den Trockenhauben und Doreen zurück. »Nett, dich zu sehen. Ich habe dich nicht erwartet. Ich dachte, du dürftest ohne bewaffnete Leibwächter gar nicht mehr raus?«
»Ähm, Mr Motion hat mir eine Mitfahrgelegenheit ins Dorf angeboten.«
»Ach ja? Wie freundlich von ihm. Er ist nett – er wohnt bei mir in der Nachbarschaft. Er war total süß zu mir, seit … Aber wie kommst du wieder heim? Wenn du warten willst, könnte ich dich später im Auto hinbringen.«
»Nein, Liebes, vielen Dank. Das ist sehr lieb von dir, aber Rocky nimmt mich mit zurück. Die enorme Joy konnte mir diesen kleinen Ausflug nicht verweigern, weißt du. Ich stehe die ganze Zeit über unter Geleitschutz. Ich wollte dich nur kurz informieren, bevor du das nächste Mal nach Twilights kommst, damit du dich vorbereiten kannst. Gewappnet bist und so.«
»Ach, ist Lilith mit Bert durchgebrannt? Hat der kleine Tony die enorme Joy mit dem Riemen ihrer unförmigen Handtasche stranguliert? Hat …?«
»Sie führen das Sommerfest am Augustfeiertag wieder ein.«
»Aha.« Phoebe war ziemlich enttäuscht. »Und ist das, ähm, eine gute Nachricht?«
»Na klar!«, sagte Essie leidenschaftlich. »Für einen inhaftierten Twilighter, der sich auf nichts als stinklangweilige Routineabläufe freuen kann, ist die Aussicht auf einen ganzen Tag, an dem mit einem Haus voller Fremder das Leben tobt, wie, tja, wie die Entdeckung eines Einhorns, das nur für dich auf einem Regenbogen tanzt.«
Phoebe lächelte bei diesem Vergleich. »Klingt wirklich nett. Aber hat das irgendwas mit mir zu tun?«
»Ja, der kleine Tony und die enorme Joy wollen, dass du einen der Stände betreibst.«
Ach Gottchen. Scheußliche Erinnerungen an Schulfeten und Dorftamtam mit schrecklichem Nippesquatsch und miefigem Ramsch und Tombolaständen voller Gläser mit abgelaufener selbstgemachter Marmelade beschworen bei Phoebe das Gefühl eines Déjà-vu herauf. Es würde massenhaft alten Trödel geben, und Dörfler aus allen Ecken des ländlichen Berkshire würden sich scharenweise darum drängeln, irgendwelche abgelegten Westen zum Hammerpreis zu kaufen. Und dann würden die Pfadfinder unbeholfen zu Akkordeonmusik tanzen, und man wäre in einem fort gezwungen, das Gewicht eines Kuchens oder den Namen des Teddybärs oder die Menge der Bohnen im Einmachglas zu raten und …
»Du sollst unsere Wahrsagerin sein«, sagte Essie triumphierend. »Ist das nicht toll?«
»Oh, ähm, ja, ich denke schon. Nein, sicher doch. Aber, richtiges Wahrsagen oder …?«
»Nur was du sonst so machst. Du kannst so dick auftragen, wie du willst. Du weißt ja alles über astrologische Prognosen und hast auch schon eine Menge über Numerologie aufgeschnappt. Wir könnten eine Kristallkugel auftreiben oder die Tarotkarten nehmen, wenn du willst. Egal was. Nur nicht den vollen Geburtstagszauber.«
»Zum Geburtstag viel Glück! Zum Geburtstag viel Glück … la-la-laa-la!«, trompetete Doreen unmelodisch unter der Trockenhaube hervor.
Der ganze Friseursalon sah leicht verwundert zu ihr hinüber. Mrs Wiseman, deren missratene Dauerwelle zu einem akkuraten Büschel Stroh korrigiert worden war, applaudierte.
»Achte nicht auf sie«, zischte Phoebe Essie zu. Dann warf sie einen Blick auf Doreen. »Bitte nicht an der Fernbedienung rumspielen. Die Einstellung muss auf ›medium‹ bleiben.«
»Prügelei bei geglückter Séance!«, schrie Doreen. »Begabtes Medium geht k.o.!«
Phoebe sah Essie fragend an. »Also das mit dem Sommerfest – ist das ein offizieller Auftrag?«
»Ja, meine Liebe. Ganz eindeutig. Die Kommune stellt ein gewisses Budget zur Verfügung – hauptsächlich als Werbung für Twilights natürlich, was letztlich noch mehr Geld reinbringen wird -, und es soll die größte Attraktion im Umkreis von Meilen werden. Abgesehen zu dem üblichen Kirmeskrams und unseren eigenen Beiträgen sowie Ponyreiten für die Kinder und einem allgemeinen Kostümwettbewerb und irgendeiner Prominenz für die Eröffnungszeremonie, haben die tödlichen Tugwells dazu noch Auftritte deiner Freunde bewilligt – die Cancan-Tänzer und das Cabaret, von dem du gesprochen hast. Ist das nicht wunderbar?«
»Fantastisch.«
»Wie schön, dass du dich auch darüber freust, meine Liebe. Das hatte ich gehofft. Als die enorme Joy und der kleine Tony uns gestern Abend die Neuigkeit verkündet haben, waren wir alle ganz aus dem Häuschen und haben gleich angefangen, Pläne zu schmieden. Wollen wir mal hoffen, dass das Wetter hält!«
Da gab es weitaus beunruhigendere Aspekte als das Wetter, dachte Phoebe. Zum Beispiel die Gefahr, dass YaYa und ihre Freundinnen Campari, Foxy, Cinnamon und all die anderen Ausgeflippten die Art des Auftrags und das Alter des Publikums falsch einschätzten; oder dass die überwiegend schon etwas älteren Cancan-Tänzerinnen aus Bagley-cum-Russet stolpernd und knarzend von der Bühne fielen; oder dass ihre eigene Wahrsagerei sie daran erinnern könnte, was sie alles verloren hatte …
»Phoebe!«, rief Pauline quer durch den Salon. »Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber ich hab jetzt Mrs Newloves Tizianrot angemischt. Wenn du nicht bald in die Gänge kommst, wird es so hart wie ein heiliger Kuhfladen.«
»Okay. Ich komme.« Phoebe lächelte Essie zu. »Wir sehen uns morgen Abend.«
»Gut. Ich warte dann draußen unter dem Vordach auf dich. Rocky holt mich hier ab. Kommt ihr beide jetzt eigentlich besser miteinander aus, Liebes? Ende der Feindseligkeiten?«
Phoebe nickte. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht viel von ihm gesehen. Wir haben beide alle Hände voll zu tun – das ist hauptsächlich dir zu verdanken -, aber ja, ich hab mich noch mal entschuldigt, und wir sind höflich zueinander, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen.«
Um die Wahrheit zu sagen, dachte Phoebe, fürchtete sie sich davor, mit Rocky allein zu sein. Sie fand, dass, auch wenn er keinen Versuch unternommen hatte, sie ins rechte Bild zu setzen, sie keinesfalls solch voreilige Schlüsse über ihn hätte ziehen dürfen. Bei dem Gedanken daran stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Wenigstens musste sie nun nachts nicht mehr in ihrem Schlafzimmer vor Hitze fast umkommen. Es war herrlich, die Terrassentüren offen zu lassen und beim Duft des Geißblattes und einer kühlen Brise einzuschlummern.
»Gut, das ist schön«, sagte Essie. »Er hat schwere Zeiten durchgemacht. Freut mich, dass ihr beide das Kriegsbeil begraben habt. Also, meine Liebe, dann lass ich dich jetzt mal weitermachen.«
Pauline ruckte schon hektisch mit dem Kopf. Die Tizianfarbe verfestigte sich bestimmt schon wie schnell trocknender Zement.
»Komme gleich.« Phoebe nickte Pauline zu und geleitete Essie von den Trockenhauben zur Tür. »Auf Wiedersehen, Essie.«
»Auf Wie-der-sehn, auf Wie-der-sehn, bleib nicht zu lahange fort …«, schmetterte Doreen.
»Lassen Sie die verflixte Fernbedienung in Ruhe!« Phoebe wollte zu den Trockenhauben hinüberhechten.
Dann hielt sie inne.
»Oh!«
Die Tür öffnete sich erneut, und Rocky trat zögerlich ein.
Er sah aus, dachte Phoebe, wie weit, weit außerhalb seiner Komfortzone.
Aber er sah auch absolut hinreißend aus, in seinen ausgewaschenen Jeans und dem schwarzen T-Shirt.
Sämtliche junge Friseurinnen wie auch die älteren Kundinnen merkten einhellig auf.
»Äh, guten Morgen.« Er sah Pauline an. »Ist es okay, wenn ich …«
»Sie wollen sicher zu Phoebe.« Pauline kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Hinz und Kunz will heute zu Phoebe. Allerdings …«
Als Phoebe plötzlich aufging, dass Pauline ja diejenige gewesen war, die zwei und zwei zusammengezählt und etwa fünfhundert herausbekommen hatte, wodurch Rocky auf eine Stufe mit einem Axtmörder gestellt worden war, eilte sie quer durch den Salon.
»Er kommt, um Essie abzuholen, Mrs Rivers. Das ist alles.«
»Hrmpf«, schnaubte Pauline. »Ich weiß ja nicht …«
Zum Glück war Essie Phoebe in Richtung Tür gefolgt und strahlte nun Rocky an, ohne Paulines Entrüstung zu bemerken. »Ich stehe schon bereit, mein Lieber. Wie nett, dass du mich abholen kommst.«
»Ist mir ein Vergnügen.« Rocky wirkte immer noch nervös. »Hi, Phoebe. Eifrig beim Zaubern?«
Essie kicherte.
»Was hast du ihm erzählt?«, zischte Phoebe.
»Ach, nur das Nötigste.« Essies Augen funkelten schelmisch. »Du hast ja gesagt, ich kann ihm erzählen, was ich will. Das hab ich getan. Also, schön, dass du in Sachen Sommerfest einverstanden bist, Liebes, und dann bis bald. Auf Wiedersehen.«
Rocky, immer noch grinsend, hielt Essie die Tür auf und ging, ohne sich nach Phoebe noch einmal umzusehen.
»Ich hoffe, du und er, ihr freundet euch nicht zu sehr an«, grummelte Pauline und quirlte wie eine übereifrige Fernsehköchin das Tizianrot mit dem Stielkamm durch. »Du weißt ja, dass er im Gefängnis war, und was er getan hat.«
»Wir freunden uns nicht im Entferntesten an. Und ja, ich weiß, dass er im Gefängnis war, aber das war alles ganz und gar nicht so, wie du erzählt hast. Er hat nämlich …«
»Himmel hilf!«, kreischte Doreen vom hinteren Ende des Salons. »Meine Ohren verbrennen!«