19. Kapitel
Nach Beendigung ihrer Schicht als Wahrsagerin hatte Phoebe Essies Appartement verschlossen vorgefunden. So war sie noch immer als Madame Suleika verkleidet und fühlte sich reichlich verschwitzt und schmuddelig. Als sie nun am Rand der riesigen Zuschauermenge neben Rocky saß und sich das Lachen verkniff, weil die Cancan-Truppe aus Bagley-cum-Russet mal wieder eine nicht ganz formvollendete Darbietung zum Besten gab, konnte sie nur hoffen, dass sie nicht müffelte.
»Phoebe! He, Sie! Ja, Sie! Phoebe Dingsdabums!«
Als sie ihren Namen hörte, wandte sie den Blick von der Bühne ab und musste schon fast loslachen.
Vor dem in Lila, Rosa und Gold gestreiften Himmel, mit dem die Dämmerung sich sanft auf Twilights herabsenkte, steuerte Constance Motion auf sie zu. Ihre dauergewellte Turmfrisur wippte wie eine ungeheure Eiswaffel, und sichtlich angewidert stolzierte sie im Storchenschritt über die ineinander verschlungenen Liebespaare hinweg.
»Phoebe! Ja, Sie! Keine Bewegung! Dageblieben!«
Nachdem Bewegung in dem dicht zusammengequetschten Publikum ohnehin nicht möglich war, blieb Phoebe da.
Rocky, der eben noch den Cancan-Tänzerinnen zugepfiffen hatte, sah erst Constance und dann Phoebe fragend an. »Was zum Teufel wollen denn die Motions von dir? Planst du deine Beerdigung?«
»Nein, nicht in den nächsten vierhundert Jahren. Ich hab so das dumme Gefühl, es könnte was mit Slo zu tun haben.«
»Mit seinem Verschwinden? Oder vielmehr mit Essies Nichterscheinen heute Nachmittag? Und wenn man zwei und zwei zusammenzählt …«
»Was wir nicht tun.«
»Wenn man zwei und zwei zusammenzählt, wie ich sagte, dann heißt das, dass die Geburtstagsmagie wahrscheinlich gewirkt hat und Slo und Essie entwischt sind, was Slos liebe Familie wohl nicht sonderlich erfreut.«
Rocky machte ein selbstgefälliges Gesicht. »Tja, das musst du allein ausbaden. Ich weiß von nichts.«
»Tust du doch. Du warst da, als ich es getan habe. Du hast mich nicht davon abgehalten.«
»Als ob ich das gewagt hätte. Du bist viel zu angsteinflößend, wenn du deine Hexerei ausübst.«
»Es ist keine verdammte Hexerei. Und wie kannst du behaupten, ich sei angsteinflößend? Du bist doch hier der Axtmörder.«
»Axtmörder?« Rocky zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ach, Phoebe, jetzt bin ich aber zutiefst gekränkt. Wie kannst du die Schwere meines Verbrechens gegen die Menschheit nur so bagatellisieren? Ich muss dich in Kenntnis setzen, dass mein ländliches Blutbad à la Jason in Form von Serienmorden mit einer Kettensäge vollzogen wurde.«
»Ach ich Dummerchen. Natürlich. Hatte ich ganz vergessen. Aber egal, Schluss mit der Haarspalterei. Ob Kettensäge oder Axt macht letztlich keinen großen Unterschied. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der im Gefängnis war, und ich glaube, das gibt mehr Punkte auf der Skala der gesellschaftlichen Ächtung, als eine Hexe zu sein, meinst du nicht? Und Pauline, wie auch alle anderen bei Cut’n’Curl, hält dich sowieso für einen Axtmörder. Das hat sie mir erzählt. Und – oh Gott.«
Sie hörten auf, einander zu necken, und sahen hoch, als Constance sich drohend über ihnen aufbaute und die Sicht auf den restlichen Sonnenuntergang verdeckte.
»Was zum Teufel haben Sie mit unserem Cousin gemacht?«
»Bitte?« Phoebe tat ganz unschuldig. »Welcher Cousin denn?«
»Sie wissen ganz genau, welcher Cousin. Wo ist er?«
»Slo? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Warum in aller Welt sollte ich wissen, wo er ist?«
In dem Moment kam Perpetua hinter Constance keuchend dazu und sah Phoebe beunruhigt an. »Er ist mit dieser Essie Rivers zusammen. Wir haben sie gesehen. Schon wieder. Die beiden sind neuerdings ständig zusammen. Wir haben einen Tipp bekommen, vom Sohn von Doreen Prentiss’ Cousine, dass die beiden bei Winterbrook unten am Fluss sind – und da waren sie auch. Und wir sind ihnen bis hierher gefolgt. Und jetzt ist Slo abgelaufen.«
»Weil er alt ist? Verfallsdatum überschritten? Wie bei Käse?«, mischte sich Rocky hilfsbereit ein. »Oder Brot? Oder Milch?«
»Und selbst wenn er mit Mrs Rivers zusammen ist«, warf Phoebe rasch ein, überzeugt, dass die Motions Rockys Sinn für Humor nicht im Mindesten amüsant fanden, »was hat das mit mir zu tun?«
Constances Antwort ging im Getöse unter, als die Cancan-Tänzerinnen von Bagley-cum-Russet es schafften, Orpheus’ triumphale Rückkehr in die Unterwelt zu verpatzen, indem sie allesamt aufs Heftigste zusammenrumpelten.
»Weil«, fauchte Constance, nachdem die Formation wiederhergestellt war, »wir wissen, dass Sie und Essie Rivers unter einer Decke stecken. Die Leute tratschen. Uns erzählt man so manches, wenn wir mit Trauernden zu tun haben. Ein wenig Geplauder hilft ihnen. Egal was, Hauptsache, es lenkt sie von ihrem Verlust ab. Wir wissen, dass Sie in jeder freien Minute hier oben sind und an Haaren und so weiter herumfummeln, und dass Sie und Essie Rivers mit all diesem Astrozeugs herumzaubern.«
»Und?«
»Und jetzt hat Essie Rivers unseren Slo in den Klauen, aber wir wissen, warum.«
»Ach ja? Warum?«
»Constance sagt, Essie Rivers glaubt, Slo wär ein Geldscheißer.« Perpetua kaute nervös auf ihren grauen Lippen.
»Goldesel«, schnappte Constance. »Es besteht also Grund zu der Annahme, dass Sie wissen, wo Essie Rivers ist, was wiederum heißt, dass Sie auch wissen, wo Slo ist.«
»Ich habe ihn den ganzen Tag lang nicht gesehen«, antwortete Phoebe wahrheitsgemäß. »Und Essie habe ich zuletzt vor Beginn des Sommerfests gesehen. Wissen Sie was, wenn ich die beiden sehe, sage ich ihnen, dass Sie nach ihnen suchen, soll ich?«
»Ja bitte«, hauchte Perpetua.
»Nein!«, brüllte Constance. »Das hieße ja wohl nur, sie vorzuwarnen! Aber Sie können dieser Essie Rivers von mir ausrichten, dass sie keinen Penny aus unsrem Slo rausholen wird. Nicht einen lausigen Penny!«
Phoebe runzelte die Stirn. »Ich bin überzeugt, dass Essie nicht im Entferntesten an Geld interessiert ist. Weder an dem von Slo noch von sonst jemandem.«
»Warum sollte sie sich denn sonst mit ihm angefreundet haben?«, höhnte Constance. »Man kann ja wohl kaum behaupten, dass Slo abgesehen vom Geld ein guter Fang wäre! Und das sage ich als jemand, der ihm auf familiäre Art halbwegs zugetan ist. Aber er ist schmuddelig und tollpatschig und Kettenraucher und alles andere als wortgewandt …«
Perpetua kicherte. »Wie Rosemary Clooney sieht er nicht gerade aus.«
»George«, seufzte Constance. »George Clooney, unsre Perpetua. Aber sie hat Recht. Slo ist kein Bild von einem Mann, oder?«
Wo sie Recht hat, hat sie Recht, dachte Phoebe. »Mag sein. Aber er ist nett und lustig.«
»Und vielleicht lieben sich die beiden?«, warf Rocky ein.
»Liebe? Liebe?« Constances Gesicht nahm die Farbe des Abendrots an. »Seien Sie mal nicht so unverschämt! Liebe war im Bestattungsinstitut Motion noch nie zu Gast.«
Perpetua lächelte melancholisch. »Leider.«
Unter Gejohle und stürmischem Applaus beendeten die Cancan-Tänzerinnen ihren Auftritt mit einem Abgang im Stil der Tiller Girls und schoben sich am linken Bühnenrand wie eine Ziehharmonika zusammen, was zur Folge hatte, dass Topsy Turvey ihre kunterbunte Truppe lang und laut zusammenbrüllte. Prinzessin, dachte Phoebe, würde wirklich ausgesprochen gut dazupassen.
»Wie auch immer«, sagte Constance finster, als der Lärm wieder abgeebbt war. »Ich warne Sie, Phoebe, unterstützen Sie die beiden nicht länger in dieser lächerlichen Liaison. Essie Rivers wird sich nie im Leben in unsere Familie einschleichen können, und auch nicht in unsere Firma oder unsere Bankkonten. Und jetzt gehe ich Joy Tugwell suchen und sage ihr, was für eine Dirne sie an ihrem Busen genährt hat.«
»Viper«, sagte Rocky.
»Was?«
»Vipern nährt man am Busen, nicht Dirnen.«
Perpetua kicherte wieder. Constance allerdings nicht.
»Na toll«, seufzte Phoebe, als die Motions davonstapften. »Jetzt habe ich nicht nur Essies Leben auf den Kopf gestellt, indem ich die Geburtstagsmagie an ihr ausprobiert habe, sondern auch noch dem armen alten Slo einen Familienkrach beschert. Meinst du, wir sollten die beiden warnen?«
»Wenn wir sie finden könnten, ja, aber da es ihnen bislang gelungen ist zu entkommen, glaube ich, wir lassen es besser. Wo sollten wir mit der Suche überhaupt anfangen?«
»Vielleicht noch mal in Essies Appartement? Vielleicht sind sie inzwischen dorthin zurückgekehrt. Nein, wenn ich es recht bedenke, wohl kaum gemeinsam. Die Tugwells haben sicher irgendeine Art Frühwarnsystem installiert, das tödliche Strahlen aussendet, um eventuelle Verehrer auszuschalten. Also …«
Als nun der kleine Tony und die enorme Joy auf die Bühne kletterten, wurden sie von erneutem Beifall der Landbevölkerung begrüßt, der alles übertönte, was Phoebe vielleicht hätte sagen wollen. Tony hatte ein blaues Auge im Frühstadium, und Joy sah alles andere als freudestrahlend aus. Der vorangegangene Jezebel-Tumult hatte die Beziehung der Tugwells sichtlich belastet. Dennoch versuchten sie, den hohen Tieren vom Gemeinderat eine vereinte Front zu präsentieren, und gaben sich ganz wie die Fernsehmoderatoren Richard und Judy.
»Ich bin sicher, ihr werdet mir alle zustimmen«, schrie der kleine Tony ins Mikrofon, untermalt von einer Salve zahlreicher Rückkoppelungen, »dass sowohl Martin Puseys Hoi-Pollois wie auch Topsy Turveys Cancan-Tänzerinnen uns eine tolle Show geliefert haben!«
Alle grölten Zustimmung.
»Und nun«, die enorme Joy schnappte sich das Mikrofon, »bevor wir den Abend mit einem enorm beeindruckenden Feuerwerk von The Gunpowder Plot abrunden, kommt jetzt als Hochgenuss das große Bühnenfinale!«
Es folgte ein Moment unziemlichen Gerangels um das Mikrofon. Tony gewann.
»Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, um uns die Talente der international berühmten Dancing Queens zu sichern, die uns nun eine kleine Cabaret-Vorführung darbieten.«
Die Menge bekundete lautstark ihre Anerkennung.
Die enorme Joy schnappte ein letztes Mal zu. »Ich bin überzeugt, Sie begrüßen sie mit einem enormen Willkommensapplaus.«
Alles jauchzte und klatschte und stampfte mit den Füßen. Es wirbelte jede Menge Staub auf.
Phoebe hielt den Atem an und drückte die Daumen.
»Au Scheiße.«
Die Bühne wurde dunkel. Eine Tonbandstimme mit ziemlich üblem deutschem Akzent informierte die Zuschauer, man befände sich im Berlin von 1931. Zwei Scheinwerfer beleuchteten einige Leiterstühle, und zu verblüfftem Schweigen stolzierten YaYa, Foxy, Honey Bunch, Campari und Cinnamon auf die Bühne, bekleidet mit Melonen, knappen fadenscheinigen Vorkriegskorsetts, schwarzen Strümpfen, Strapsen und Stiefeln.
»Hallo«, säuselte YaYa mit rauchiger Stimme ins Mikrofon. »Ich bin Sally Bowles, Ihre Gastgeberin heute Abend, und heiße Sie willkommen im Kit-Kat-Club.«
»Ach du liebe Güte«, sagte Rocky mit näselnder Stimme. »Äh, ich meine …«
»Au weia«, stöhnte Phoebe. »Ich hätte mir denken können, dass YaYa unter ›Cabaret‹ etwas völlig anderes versteht als die Tugwells.«
Das Publikum war elektrisiert. Phoebe litt Qualen. Eine erotisch aufgeheizte Bühnenshow vor einer Horde geburtstagsmagisch liebestrunkener Dörfler in einer schwülen heißen Sommernacht war das Rezept für eine Katastrophe epischen Ausmaßes.
»Die sind echt gut«, zischte Rocky, als YaYa und Co vor raffiniert improvisierter Kulisse eines dunklen Berlin als Oase der Dekadenz stampfend tanzten, aufreizend die Lippen spitzten, sich rittlings auf die Stühle setzten und mit rauchigen Stimmen zu Musik vom Band sangen. »Verflucht sexy.«
»Und es sind allesamt Kerle«, erinnerte ihn Phoebe.
»Ach Mist. Hatte ich vergessen. Streich die letzte Bemerkung aus dem Protokoll.«
»Oh nein. Diese Bemerkung wird gut verwahrt, um künftig viele, viele Male hervorgezogen und gegen dich verwendet zu werden. Himmel, sieh dir die Tugwells an!«
Am Rand der Bühne beobachtete die enorme Joy die Vorführung mit fassungslosem Entsetzen. Tony machte einfach nur Stielaugen.
Das Publikum von Twilights kreischte und klatschte begeistert, als YaYa zum vorderen Bühnenrand stolzierte, ihre Melone lüpfte, in übertrieben lasziver Weise die lange Zigarettenspitze schwenkte und mit heiserer Stimme die Titelmelodie von Cabaret anstimmte, während Campari, Cinnamon, Foxy und Honey Bunch im Hintergrund auf den Stühlen als Erotikverstärker vor- und zurückruckten.
Twilights geriet außer Rand und Band.
Mitten im allgemeinen Petting fand das Publikum noch Zeit, lauthals mitzusingen und begeistert zu pfeifen.
»Ich hoffe, die Leute in der Ambulanz vom St. John stehen bereit, um Massen-Herzinfarkte zu behandeln«, schrie Rocky Phoebe ins Ohr. »Das ist ja dreifach nicht jugendfrei!«
So war es. Abgesehen davon aber wirklich gut, musste Phoebe zugeben. Trotz der winzigen Bühne und der krächzenden Tonanlage waren die Dancing Queens absolut professionell. Und wenn sie nicht gewusst hätte, dass es sich um Männer handelte, hätte sie nie im Leben gedacht, dass dies keine echten Showgirls waren.
»Oh Mann!« Sie knuffte Rocky. »Die Motions steuern auf die Tugwells zu. Jetzt gibt es gleich jeden Moment einen gewaltigen Zusammenprall aufgebrachter Empörung und verletzter Prinzipien. Und, ach Gott – schau nur!«
Während YaYa und Co nach wie vor tanzten und mit den Hüften wackelten, und das Publikum nach wie vor mit offenen Mündern gaffte, waren Slo und Essie aufgestanden.
»Leichte Beute auf weiter Flur«, sagte Rocky seufzend. »Da alle anderen liegen, fallen sie auf wie Nonnen im Massagesalon. Ach, zu spät – Constance hat sie entdeckt. Komm, Phoebe, wir warnen sie.«
Ohne nachzudenken, ergriff Phoebe Rockys ausgestreckte Hand, und er zog sie auf die Füße. Merkwürdigerweise britzelte es, und ihre Finger kribbelten irgendwie. Wie sonderbar, dachte sie benommen, als sie sich noch immer Hand in Hand durch das gaffende Publikum der Dancing Queens ihren Weg zu Slo und Essie bahnten. Wahrscheinlich nur eine statische Entladung, dachte sie mit Blick auf ihre mit Rockys Hand verschränkten Finger. Und wie seltsam – sie hatte noch nie die Hand eines anderen Mannes gehalten. Nur die von Ben. Immer nur die von Ben.
»Essie!« Sie riss sich zusammen und übertönte schreiend YaYas lasziven Gesang und das Gejohle der Zuschauer. »Essie! Constance ist auf dem Kriegspfad und …«
»Hinsetzen und Klappe halten!«, ertönte es massenhaft genervt aus der sie umgebenden Menge.
Rocky eilte zum Rand des Publikums und zog Phoebe hinter sich her, über verschlungene Paare auf dem struppigen Gras hinweg hüpften sie zu Slo und Essie.
Leider flitzten die Motions und die Tugwells wild entschlossen in genau dieselbe Richtung.
»Fantastische Show, Liebes.« Essie sah Phoebe fragend an, als sie und Rocky bei ihr ankamen. »Und ich meine nicht nur die Darbietung auf der Bühne – auch wenn die wirklich toll ist. Aber hier geht es zu wie bei einem richtigen Love-in. Du hast in deiner Rolle als Madame Suleika die Geburtstagsmagie verwendet, nicht wahr?«
»Ja, aber – jetzt ist keine Zeit …«
»Warum hast du das getan? Ich hatte dich aus triftigen Gründen davor gewarnt. Sieh, was du angerichtet hast, Phoebe. Und das ist womöglich erst der Anfang. Du weißt, die Geburtstagsmagie ist sehr mächtig und …« Sie hielt inne und sah die beiden an. »Oh, aber es ist nett, euch zu sehen – beide zusammen. Und Hand in Hand. Ihr habt doch nicht …? Euch gegenseitig …?«
»Nein! Auf keinen Fall!« Phoebe entwand ihre Hand aus Rockys Griff. »Schau mal, Essie, es tut mir leid, wegen der Geburtstagsmagie, aber es gibt jetzt etwas Dringenderes – hör zu!«, schrie Phoebe über die lüsternen Anzüglichkeiten des nachgeahmten Kit-Kat-Clubs hinweg. »Die Motions und die Tugwells! Auf dem Weg! Sie haben es auf euch abgesehen!«
»Warum seid ihr aufgestanden?«, übertönte Rocky YaYas Gesang. »Sie hätten euch nie gesehen, wenn ihr auf dem Boden geblieben wärt.«
»Mein Fehler«, sagte Slo beschämt. »Als dieses tolle Mädel auf der Bühne sich eine Zigarette angezündet hat, wollte ich auch eine rauchen. Die Leute um uns rum haben alle böse Gesichter gemacht, als ich meine Marlboros rausgeholt habe. Nicht, dass sie mir irgendwie Vorträge über Moral hätten halten können, wo sie doch alle aneinander rumfummeln, aber dann hat Essie gesagt, ich entfache womöglich einen Waldbrand, wo das Gras doch so trocken ist wie Zunder, und da dachten wir uns, wir schleichen davon und …« Er sah über die Menge hinweg, wie seine Cousinen zornig auf sie zustürmten, dicht gefolgt von den Tugwells. »Mir haben ja schon immer alle gesagt, dass mich das Rauchen noch ins Grab bringt.«
Während die Geschehnisse im Kit-Kat-Club mit weiterem laszivem Gesang und Tanz ihren Lauf nahmen, schien niemand von dem hingerissenen Publikum das andere Drama zu bemerken, das sich am Rande des Felds abspielte.
»So!« Mit rotem Kopf und außer Atem stieß Constance mit dem Finger nach Essie und Slo. »Auf frischer Tat ertappt! Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen, he?«
»Ja, in der Tat.« Joy Tugwell kam keuchend zum Stehen. »Wenn sich die Behauptungen von Ms Motion als wahr erweisen, ist dies ein unerhörtes Benehmen, Mrs Rivers. Enorm unerhört.«
»Wir können nicht und werden nicht …« – der kleine Tony plusterte sich auf wie ein winziger wütender Spatz mit blauem Auge – »Bewohner dulden, die alle Regeln missachten. Wir haben uns krummgelegt, um für Sie alle das Leben angenehmer zu gestalten, vor allem für Sie, Essie, nach diesem kleinen Vorfall mit den Räubern, und so danken Sie uns das also? Indem Sie sich wie alberne Teenager aufführen? Sich hinter unserem Rücken davonstehlen – keiner weiß, wo Sie sind …«
»Ohne auch nur eine Erlaubnis einzuholen«, unterbrach Joy, der es eindeutig widerstrebte, die moralische Überlegenheit abzutreten. »Bei mehr als einer Gelegenheit, wie es scheint. Unter Übertretung sämtlicher Regeln der Hausordnung. Und Sie haben die Damen Motion enorm verstimmt. Das können wir nicht dulden, wissen Sie. Wir können keinesfalls hinnehmen …«
Dann fingen alle gleichzeitig an zu schreien.
Phoebe schüttelte den Kopf. Das war ganz und gar nicht, was sie gewollt hatte. Das hatten Slo und Essie ganz sicher nicht verdient. Ach Gott, was hatte sie getan?
Irgendwann zwischen den Schuldzuweisungen, Vorwürfen und Gegenvorwürfen hatten YaYa und die Dancing Queens nach vierfachen Verbeugungen und Standing Ovations die Bühne verlassen. Einen Moment lang war ganz Twilights unheimlich still, dann wurde der dunkelblaue Himmel blitzartig von einer Batterie vielfarbiger Feuerwerkskörper erhellt.
Die noch immer ineinander verschlungene Menge rappelte sich auf und torkelte unter massenhaften Begeisterungsrufen über das Feld zu der pyrotechnischen Darbietung von Guys Gunpowder Plot.
»… und das ist mein letztes Wort! Jetzt müssen Männe und ich mit den Sicherheitsbeamten der Gemeinde dem enormen Feuerwerk beiwohnen. Wir können keine Zeit mehr mit diesem Unsinn verschwenden – ooh!« Joy schrie auf, als über ihren Köpfen eine riesige Rakete in regenbogenfarbene Wolken explodierte. »Also Essie, entweder hören Sie auf, sich mit Mr Motion zu treffen, oder Sie verlassen Twilights.«
»Das ist nicht fair«, sagte Rocky zornig. »Die beiden sind eigenverantwortliche erwachsene Menschen und keine Kinder mehr. Sie können ihnen nicht solche Vorschriften machen.«
Doch die Tugwells hatten den Schauplatz der Debatte bereits verlassen und brachten sich bei ganz anderen und weniger brandgefährlichen Feuergefechten in Sicherheit.
»Kann sie, und macht sie«, feixte Constance Motion, während eine herrliche Farbwolke nach der anderen im dunkelblauen Himmel entstand und entschwand. »Und wollen wir hoffen, dass das auch dir eine Lehre sein wird, Slo. Du hältst dich in Zukunft an unsere Regeln, und denkst daran, wo deine Loyalitäten liegen. Bei uns, deiner Familie, nicht bei diesem alten Flittchen.«
»Sie ist kein Flittchen«, stotterte Slo. »Du entschuldigst dich für diese Bemerkung, unsre Constance! Essie ist eine echte Dame, und ich liebe sie.«
»Und ich liebe ihn.« Essie war den Tränen nahe. »Und ich werde nicht aufhören, mich mit ihm zu treffen.«
»Liebe!«, höhnte Constance. »Sie lieben ihn nicht, Essie Rivers. Sie lieben nur sein Bankkonto. Sie sehen in Slo doch nur einen Freifahrtschein, um hier rauszukommen.«
»Constance!« Slos Stimme bebte vor Zorn. »Wie kannst du es wagen! Essie ist eine liebenswerte, feine Dame – eine richtige Dame, unsre Constance. Und sie liebt mich, mit oder ohne mein blödes Geld oder das blöde Bestattungsinstitut. Sie interessiert sich weder für das eine noch für das andere. Sie liebt mich, Constance. Sie ist der erste Mensch in meinem ganzen Leben, der mich je geliebt hat.«
Perpetua brach in lautstarkes Schluchzen aus.
»Meine Güte«, brauste Constance auf. »Was für ein sentimentaler Unsinn. Liebe! Ich habe dich geliebt, Slo. Perpetua hat dich geliebt. Ich schätze, sogar deine Eltern haben dich geliebt, auch wenn sie das gut verborgen haben. Wir sind schon bald alt und tatterig, Junge, und du redest von Liebe? Pah!«
»Aber so ist es«, sagte Essie ruhig und umklammerte Slos Hand. »Ich liebe ihn. Nicht Ihre Firma oder sein Geld oder sonst irgendwas. Ihn. Er ist ein sanfter, aufmerksamer, wunderbarer Mann, der mir gezeigt hat, wie herrlich das Leben sein kann. Und wir wollen für immer zusammen sein. Ich möchte kein Zerwürfnis zwischen Ihnen verursachen, aber …«
»Dazu ist es verdammt zu spät!«, schnaubte Constance. »Sie haben uns auseinandergerissen, Mrs Rivers! Wir waren von Geburt an zusammen. Alle drei. Sie haben sich eingeschlichen und unsere Familie zerstört! Ihr werdet aufhören, euch zu treffen!«
»Nein, werden wir nicht«, sagte Slo würdevoll. »Und du kannst uns nicht dazu zwingen.«
»Ich vielleicht nicht«, schniefte Constance zornig. »Aber die Tugwells. Wenn sie dein sogenanntes Liebchen hier rauswerfen, was wird dann aus deiner albernen sogenannten Liebesaffäre, wenn ich fragen darf? Bei uns wird sie nicht einziehen, nicht solange ich atme, und ein sogenanntes kleines Liebesnest wirst du dir ja wohl kaum leisten können. Jedenfalls nicht, wenn du nicht mehr Drittel-Teilhaber der Firma Motions bist, nicht wahr?«
»Wir finden schon was«, entgegnete Slo, und es gelang ihm, die Würde zu wahren. »Und dann wirst du diejenige sein, die unsere Familie auseinandergerissen hat, unsre Constance, nicht wahr?«
Perpetuas Wehklagen wurde immer lauter.
Essie schüttelte den Kopf. »So geht das nicht. Bitte, Slo. Das kannst du nicht machen. Ja, ich werde dich weiterhin irgendwie treffen, aber wenn ich Twilights verlassen muss, habe ich keinen Ort, wo ich hinkann und …«
»Doch, den hast du«, warf Phoebe ein. Sie war unglaublich gerührt von Essies und Slos offensichtlicher Hingabe und schnitt Constance, die gerade zu einer neuerlichen Schimpfkanonade ansetzte, das Wort ab. »Natürlich gibt es einen Ort. Du kannst bei mir wohnen.«
Ehe einer von ihnen noch irgendetwas sagen konnte, hallte ein irres Gezeter über das Feld.
»Verflucht noch mal, ich weiß nicht, ob ich noch weitere Gefühlsausbrüche ertragen kann.« Rocky sah Phoebe an. »Das hat mir fast das Herz zerrissen. Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Polly, Ricky! Schnell!« Joy Tugwell taumelte mit zu Berge stehendem Haar im Dämmerlicht wild winkend auf sie zu. »Ich brauche euch junge Leute! Enorm schnell!«
»Glaubst du, sie meint uns?« Rocky wirkte amüsiert. »Ich glaube, es würde mir nicht gefallen, Rik-kie genannt zu werden. Das ist ja noch schlimmer als Avro. Was meinst du, Polly?«
»Ich meine«, sagte Phoebe, den Tränen nahe, »dass ich Essie und Slo weiß Gott keinen Gefallen getan habe. Ich hätte hübsch die Finger von der Magie lassen sollen. Und ich meine außerdem, dass die enorme Joy, blöde Kuh, die sie ist, anscheinend jemanden braucht, der ihr aus dem Schlamassel hilft, was auch immer sie sich jetzt wieder eingebrockt haben mag.«
»Und ich schätze, das heißt«, Rocky sah sie an, »Polly und Rik-kie müssen enorm schnell zu Hilfe eilen!«
Rocky und Phoebe verließen Essie und die Motions, die einander immer noch anglühten, und rannten über das trockene struppige Gras auf Joy zu. Rennen, dachte Phoebe, war ganz schön schwierig, wenn man noch immer als Wahrsagerin verkleidet war, kaum etwas sehen konnte und außerdem emotional total ausgelaugt war.
»Wo liegt das Problem?« Rocky kam als Erster bei Joy an. »Hat es einen Unfall gegeben?«
»Ich brauche Hilfe!«, schrie die enorme Joy ihnen entgegen. »Sofort!«
»Stimmt was nicht mit dem Feuerwerk?« Phoebe blieb taumelnd stehen und spähte über das Feld. Soweit sie sehen konnte, verliefen Guys himmelhohe Explosionen allesamt nach Plan, prachtvoll choreografiert wie immer, und veranlassten die Zuschauer wie gewöhnlich zu ekstatischen »Oohs!« und »Aahs!«.
»Folgen Sie mir – rasch! Ich brauche euch junge Leute! Und natürlich geht es nicht um das enorme Feuerwerk, Sie dummes Mädchen. Es geht um Sex!«
»Sex?«, erkundigte sich Rocky, während sie versuchten, mit Joys Stechschritt mitzuhalten. »Bedaure, Mrs T, aber da sind wir die falschen Ansprechpartner. Wir wurden beide sitzen gelassen, und von daher sind wir wohl kaum optimal qualifiziert, um Ihnen in dieser Sache hilfreiche Anweisungen zu geben.«
»Es geht nicht um mich!«, keuchte die enorme Joy. »Es geht um enorme Mengen anderer Leute!«
»Mengen anderer Leute?« Phoebe versuchte nicht hinzuhören, wie Rocky lachte. »Wie meinen Sie das?«
»Da!« Joy kam vor dem Tee-Pavillon abrupt zum Stehen. »Ich hab nur kurz reingeschaut, ob noch ein Stück Zitronenkuchen übrig ist – und, tja! Gehen Sie hinein, wenn Sie so enorm mutig sind.«
Phoebe schlich auf Zehenspitzen zum Rand des Teezeltes und spähte hinein. »Nun, ich weiß, dass die Kuchen manchmal ein bisschen altbacken sind, aber – oh Gott!«
Sämtliche Paare, absolut alle unmöglichen und unsympathischen Paare, die nach Dwayne und Courtenay durch Madame Suleikas Zelt spaziert waren, bildeten auf dem abgetretenen Gras schemenhafte Haufen. In der feuchtwarmen Dunkelheit hörte man reichlich Gestöhne und spitze Lustschreie. Ein Tapeziertisch war im Eifer des Gefechts umgekippt, und die restlichen Kuchen und Pasteten setzten dem sich rhythmisch bewegenden Tumult quasi das Sahnehäubchen auf.
»Diese Leute kopulieren!«, schrie Joy. »Auf den Törtchen des Frauenvereins!«
»Nicht lachen!«, flüsterte Phoebe Rocky ins Ohr. »Wenn du lachst, muss ich dich wahrscheinlich umbringen.«
»Ich … lache … nicht … Aber Joy, mal ehrlich, was sollen wir da tun?«
»Hineingehen und dem ein Ende machen, bevor das irgendwer sieht.«
»Keine Chance.« Mit Blick auf die sich auf und ab bewegenden verschwommenen Bilder nackter Haut schüttelte Rocky den Kopf. »Nicht, solange mir mein Leben lieb ist.«
»Wo ist Tony?« Phoebe, die wider besseres Wissen hoffte, dass dies nicht ihr Werk sei, obwohl ihr sehr wohl schwante, dass dem so war, sah Joy fragend an. »Und, ähm, es wäre sicher besser, wenn Sie die Leute gewähren lassen.«
»Gewähren lassen?« Der enormen Joy quollen die Augen aus dem Kopf. »Gewähren lassen? Da drin geht es zu wie bei einer enorm unzüchtigen Orgie! Und wir haben noch immer die Leute von der Gemeinde vor Ort! Gewähren lassen? Wenn das publik wird, werden wir zum enormen Gespött, ganz zu schweigen davon, dass uns die Gesundheitsbehörde den Laden dichtmacht! Sind Sie von Sinnen, Mädchen?«
In dem Moment kam der kleine Tony über das dunkle Feld herbeigestürzt. »Ich hab einen!«, keuchte er. »Ah, gut, du hast ein paar kräftige Freiwillige gefunden, die mir zur Hand gehen. Jetzt brauch ich nur noch jemanden, der mir zeigt, wie man es macht – kennt ihr jungen Leute euch in diesen Dingen aus?«
Gleichermaßen erstaunt blickten Rocky und Phoebe einander an.
»Oh«, sagte Phoebe mit großer Erleichterung, »es geht um einen Feuerlöscher! Ach, keine so tolle Idee. Oh, schauen, Sie – ist das nicht einer vom Gemeinderat – da drüben? Nein, im Pavillon. Unter der Teemaschine?«
Joy stieß einen schrillen Schrei aus.
»Mit Jezebel McFrewin.« Rocky zwinkerte. »Diese Oberweite würde ich überall erkennen – auch wenn uns vorhin kein ganz so freizügiger Anblick gewährt wurde.«
»Die hatte ich nicht«, murmelte Phoebe. »Die waren nicht mal in der Nähe von Madame Suleika. Für die kann ich nichts.«
»Oh, prima.« Rocky lachte. »Ein Paar von ungefähr fünfzig hat es auch ohne dein magisches Zutun geschafft, lüstern übereinander herzufallen. Au Backe!«
Dem kleinen Tony war es gelungen, die Sicherheitslasche das Feuerlöschers abzuziehen, und er war wie Rambo ins Teezelt gestürmt, um volles Rohr loszuballern.
Während Guys Feuerwerk seinen geräuschvollen Höhepunkt erreichte, vermasselte Tony den aller anderen.
»Ooch, jetzt sind alle sehr sauer und sehr schaumig.« Rocky schüttelte den Kopf. »Außerdem nackt und kein schöner Anblick. Ich glaube, wenn du nichts dagegen hast, Polly, würde ich jetzt gern nach Hause gehen.«