14. Kapitel
Die Luft pulsierte nahezu vor Hitze, fand Essie, als sie zehn Tage später mit Lilith, Prinzessin und Bert, alle in ihren besten Sommergewändern, am Rande des Hofes von Twilights unter einem Baum saß, wo sie sich gedanklich mit ihren Vorbereitungen auf das Sommerfest am Montag beschäftigten.
Um sie herum hingen die anderen Bewohner in dem spärlichen Mittagsschatten schlapp auf den Bänken herum; doch die sengenden Temperaturen im Freien waren immer noch erträglicher als die Backofenglut in den Appartements.
»Falls wir bis Montag nicht alle an Hitzschlag sterben«, sagte Bert vergnügt, »wird dieses Sommerfest bestimmt herrlich. Ich kann es kaum erwarten, meinen Origamiwerken den letzten Schliff zu verpassen, und ich habe auch einige meiner frühen Collagen ausgegraben. Besonders mag ich die Bilder vom Lake Distrikt aus Perlgraupen. Mutter hat immer …«
Freundlich lächelnd schnitt Essie seinen Muttermonolog ab. »Bestimmt wird dein Handarbeitsstand ein großer Erfolg, lieber Bert. Also – ist alles andere, das wir organisiert haben, unter Dach und Fach?«
»Die enorme Joy hat mir am Ende doch noch erlaubt, die Hausküche zu benutzen, Honey«, sagte Lilith. »Also koche ich dort, Patience und Prudence schaffen die Speisen nach draußen, und die Küchenhelferinnen bedienen die Gäste – das heißt, ja, bei mir ist alles klar.«
»Bestens. Prinzessin?«
»Ich habe mit meinem Yogakurs eine kurze Sequenz zu ›Raindrops Are Falling On My Head‹ eingeübt. Läuft wie am Schnürchen. Ich dachte mir allerdings, meine Liebe, wir halten den Auftritt lieber kurz, mit einfachen Positionen, da die meisten schon auf die achtzig zugehen und jede Art körperlicher Anstrengung bei dieser Hitze selbst für die beweglichsten meiner Kameradinnen leicht zu viel werden könnte. Tja, bleibst also nur noch du, nicht wahr? Ist bei dir inzwischen auch alles geklärt?«
Essie nickte und lächelte vor sich hin. Phoebe und sie hatten zu ihrem Privatvergnügen noch einige Probeläufe des Geburtstagszaubers absolviert, und mit jedem Mal war Essie mehr und mehr überzeugt, dass Phoebe die Gabe besaß. Und bei den abendlichen Astrologiesitzungen in Twilights hatte Phoebe, während sie den Teil mit der Romani-Beschwörung vorsichtshalber wegließ, sich mehr und mehr darin geübt, anhand von Essies Fünf Fragen zum großen Vergnügen der Bewohner deren Geburtstage zu erraten.
»Ach ja – die junge Phoebe wird sich an diesem Tag ›Madame Suleika‹ nennen. Sie verkleidet sich entsprechend mit allem Drum und Dran und sitzt für alle Arten der Wahrsagerei in ihrem Zelt bereit. Und ich werde ihr zur Hand gehen und, ähm, sie unterstützen.«
Liliths Gelächter hallte über den Hof. »Und, haben wir irgendwas Unerwartetes zu erwarten, Honey?«
»Nicht beim Sommerfest.« Essie schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht riskieren, uns den Tag zu verderben, indem ich etwas allzu, äh, ›Zweifelhaftes‹ unternehme, wie die enorme Joy es nennen würde. Auch habe ich Phoebe ermahnt, nicht den vollständigen Geburtstagszauber anzuwenden.«
»Wie schade, Honey. Aber die junge Phoebe hat das alles wirklich schnell begriffen, nicht wahr? Sie macht dort weiter, wo du aufgehört hast. Die enorme Joy und der kleine Tony überwachen die Astrologiesitzungen und nehmen an, dass sie einfach nur Sternzeichen-Prognosen macht. Aber in Wirklichkeit greift sie auf dein umfassendes Geheimwissen zurück, stimmt’s? Nicht nur bei der Geburtstagsache. Manches, was sie vorhergesagt hat, ist unmittelbar darauf ganz genauso eingetreten. Sie ist ein echter Knüller, oder?«
»Sie ist sehr begabt«, stimmte Essie zu. »Aber trotzdem habe ich sie gewarnt, beim Sommerfest nicht über die Stränge zu schlagen. Bislang ist den Tugwells nicht klar, dass sie meine Methoden verwendet, und so soll es auch bleiben.«
»Aber sicher«, pflichtete Prinzessin ihr bei. »Wir alle lieben Phoebe abgöttisch. Nicht nur, dass sie uns hervorragend die Haare macht, ganz wie ein Promifriseur, sondern sie liegt auch mit ihren Vorhersagen immer goldrichtig – manchmal könnte man meinen, man hörte dich sprechen. Erst haben wir ja gelacht, als sie Mavis Barrett erzählt hat, dass ihr bald ein Vermögen zufallen würde – Mavis hat ihr das sogar geglaubt -, es war wirklich zum Piepen. Schließlich sind Reichtümer bei dem mickrigen Rest, der uns von der Rente noch bleibt, hier seltener als Eisbären in Clacton. Aber Phoebe hat darauf bestanden, so sähe sie es voraus, und sie hat Mavis erklärt, es würde garantiert eintreffen.«
Essie nickte. Sie erinnerte sich an den Vorfall noch ganz genau. Phoebe schien sich ganz sicher zu sein. Felsenfest überzeugt. Sie selbst hingegen hatte doch so ihre Zweifel gehabt.
»Und dann«, mischte Bert sich ein, »brat mir einer’nen Storch, kriegt Mavis ein paar Tage später doch tatsächlich diesen Brief, in dem steht, dass ihre Prämienaktie fällig geworden ist und man schon ewig versucht hätte, sie aufzuspüren, um ihr das mitzuteilen. Und es war ein Vermögen, oder nicht?«
Essie nickte. Ja, für die Twilighter waren fünfundzwanzigtausend Pfund ein unerhörter Reichtum. Und Mavis’ unerwartetes Glück war nur die Spitze des astrologischen Eisbergs gewesen. Phoebe, die an Selbstbewusstsein gewonnen hatte und ihren eigenen Fähigkeiten nun wieder vertraute, erwies sich bei allerlei kleineren, aber nicht weniger überraschenden Prognosen als unfehlbar korrekt.
Für Essie lief alles ganz nach Plan. Auch wenn ihr die Gabe von ihrer Großmutter vererbt worden war, hatte sie selbst sie aber offenbar nicht in gleicher Weise an ihre eigene Tochter weitergegeben. Von daher sah sie keinen Grund, warum sie ihre Fähigkeiten nicht durch Unterricht jemandem vererben sollte, der empfänglich dafür war, sie zu schätzen und anzunehmen.
Essie hatte gewusst, dass Phoebe die Richtige war, um ihr Werk fortzuführen. Und nun stellte Phoebe dies unter Beweis. Doch das Sommerfest war eindeutig nicht Zeit und Ort für Experimente. Ganz und gar nicht.
»Essie! Mrs Rivers!« Die schrille Stimme der enormen Joy durchschnitt vom Haupteingang her die stehende Luft. »Essie! Kommen Sie mal, bitte!«
Prinzessin, Lilith und Bert starrten Essie an.
»Was hast du denn jetzt angestellt?« Berts große Augen blinzelten glasig.
»Gar nichts.« Essie erhob sich. »Nun, zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber das hat die enorme Joy ja noch nie am Meckern gehindert, oder? Bis später, Leute.«
»Viel Glück, Honey.« Lilith fächelte sich mit Falten ihres kirschroten Kaftans Luft zu.
Prinzessin hielt beide Hände mit gedrückten Daumen hoch.
Essie atmete einmal tief durch – die heiße Luft brannte in ihrem Hals – und trabte auf das Gebäude zu.
»Ich weiß ja nicht, ob Sie alle hier draußen sitzen sollten«, begrüßte sie Joy, die trotz der Hitze nach wie vor einen dicken blauen Rock mit passender hochgeschlossener Nylonbluse trug. »Es ist ja wie im Backofen. Würden Sie sich nicht alle in Ihren Appartements enorm wohler fühlen?«
»Nein, nicht ohne Klimaanlage«, sagte Essie. »Und da wir nicht einmal die Fenster aufmachen können, ist jede Art von Luft besser als gar keine. Aber egal, was gibt es denn?«
Joy blinzelte, von Essies schnippischem Ton offenbar leicht gekränkt. »Sie haben Besuch, Essie. Ist das nicht reizend?«
»Besuch? Wer denn? Die junge Phoebe?«
»Nein, nein – auch wenn ich gern ein oder zwei Worte mit ihr reden würde. Die hohen Tiere von der Gemeinde finden ihre Idee ›Führ einen Twilighter aus‹ enorm ansprechend. Man hat uns grünes Licht gegeben, natürlich unter der Voraussetzung, dass die betreffenden Begleitpersonen ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis vorweisen können. Dieses Projekt kommt im Handumdrehen in die Startlöcher. Enorm vorbildlicher Gemeinschaftsgeist, meint der Gemeinderat, enorm günstig für unser Image in der Öffentlichkeit, und all das wirft ein enorm gutes Licht auf die Art, wie Twilights von Männe und mir gemanagt wird.«
»Wie schön für Sie«, sagte Essie kurz angebunden »und noch schöner für Phoebe, deren Idee es war, was Sie ja wohl öffentlich kundtun werden, oder? Also, wenn nicht Phoebe mich sehen will, wer dann?«
»Nein, das verrate ich nicht, aber es wird eine enorm angenehme Überraschung sein. Ich habe ihn im Aufenthaltsraum warten lassen, da sich dort im Augenblick niemand aufhält. Kommen Sie – wir wollen keine Zeit vertrödeln. Ich bin enorm beschäftigt mit der Freizeitunfallversicherung und dem Fähnchen-Aufhängen und der Suche nach einem Pony, das nicht beißt.«
Ihn?, grübelte Essie, während sie Joys enormem königsblauem Hinterteil nachfolgte. »Ach – ist es Rocky? Sonst kommt er samstags doch gar nicht …«
»Und wenn es nach mir ginge«, erwiderte Joy naserümpfend über die Schulter hinweg, »würde er auch an anderen Tagen nicht kommen. Ja, ich weiß, er ist Ihr Freund, und er ist enorm gut, und er ist enorm billig, aber trotzdem ist er ein Gangster. So ein blöder butterweicher politisch korrekter Unfug, dass man bei der Beschäftigung von Handwerkern eine Quote ehemaliger Sträflinge erfüllen muss. Quatsch mit Soße!«
Essie kicherte vor sich hin. Rocky war es also nicht. Slo? Wohl kaum. Slo würde keinen formellen Besuch machen. Ihnen waren seit dem heimlichen Kaffeetrinken in Patsy’s Pantry einige kleine Ausflüge gelungen, aber sie glaubte wirklich nicht, dass Slo sie offiziell besuchen käme …
»Da sind wir schon«, sagte Joy munter. »Sie können ihn mit in Ihr Appartement nehmen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nur wenn er geschmort werden möchte«, murmelte Essie, »wer auch immer er sein mag.«
Joy stieß die Tür zum Aufenthaltsraum auf, dehnte die grellrosa Lippen zu einem gewaltigen Lächeln und marschierte dann anmutig im Stechschritt davon.
Essie spähte in den Aufenthaltsraum – der ohne den plärrenden Fernseher merkwürdig still war – und erschrak.
»Patrick!«
»Hallo Mutter.«
Patrick war fett geworden. Es stand ihm nicht, fand Essie. Er war immer ein pummeliges Kind gewesen – ein Wonneproppen, hatte es damals geheißen -, aber nun sah er einfach nur ungesund übergewichtig aus. Auch hatte er den Großteil seiner Haare verloren. Wie hatten Barney und sie nur solch ein Kuckuckskind hervorbringen können?
Sie blieb im Türrahmen stehen. »Komm du mir nicht mit ›Hallo Mutter‹, mein Junge. Was willst du? Kommst du, um nachzusehen, ob ich schon gestorben bin und es für dich noch was zu holen gibt?«
»Mum …«
»Wag bloß nicht, mich Mum zu nennen! Also, was willst du?«
»Kann ich nicht meine alte Mum besuchen, ohne dass es einen besonderen Grund dafür gäbe?«
»Nein, kannst du verdammt noch mal nicht!«, fauchte Essie. »Du hast dich nicht mehr blicken lassen, seit Shirley und du mir all mein Hab und Gut abgeluchst und mich hier abgeladen habt. Wo ist denn übrigens deine Schwester? Auf dem Klo? Ihr jüngstes Gesichtslifting überpudern?«
»Ich bin allein gekommen.« Patrick rang um ein Lächeln. Es verlor sich in den Falten seines verschwitzten Gesichts. »Aber Shirley lässt dich herzlich grüßen. Und auch Faye und Nicholas.«
»Aber sicher doch«, zischte Essie. »Eure jeweiligen Partner waren doch genauso scharf darauf wie ihr, mich hierher abzuschieben. Und erzähl mir bloß nicht, meine Enkelkinder wären ja soo gerne mitgekommen, um mich zu besuchen, wären aber leider viel zu beschäftigt.«
Patrick, stellte Essie erfreut fest, stieg noch mehr Blut ins Gesicht, und er versuchte nicht einmal, ihr zu widersprechen.
»Du siehst gut aus, Mum.«
»Aber du nicht.«
»Komm und setz dich doch.«
»Warum in aller Welt sollte ich mich zu dir setzen wollen? Außerdem, haben dein Dad und ich dir nicht beigebracht, dass man aufsteht, wenn eine Dame den Raum betritt, oder hast du das ebenso vergessen wie alle anderen guten Manieren auch?«
»Ach, all dieses Benimmzeug ist doch inzwischen ein alter Hut, Mum. Emanzipation der Frau und all das.«
»Nenn mich nicht Mum!«
Sie starrten einander einen Moment lang an. Wie immer empfand Essie einfach gar nichts. Sie hatte ihn einst über alles geliebt, ihn genährt, ihn beschützt, ihn umsorgt, ihn großgezogen, und nun … und nun verabscheute sie ihn. Und seine Schwester. Beide gleichermaßen.
Was war sie nur für eine grässliche Rabenmutter?
»Also, was willst du, Patrick? Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass du zum ersten Mal, seit ich hier bin, die gut dreißig Kilometer quer durch Berkshire gefahren bist, nur um dich nach meiner Gesundheit zu erkundigen?«
»Mum!« Patrick hob die feuchten kotelettgroßen Hände. »Hier ist es doch schön. Shirley und ich haben so viele Heime angesehen, als wir damals nach einem Platz gesucht haben, wo …«
»Wo ihr mich abladen könntet? Nur zu, sprich es ruhig aus!«
»Mum, wirklich, so war das doch gar nicht.«
»Genau so war es, Patrick, das weißt du. Und jetzt warten draußen meine Freunde, die mir wichtiger sind als du oder Shirley oder eure geldgierigen Partner und Kinder es je sein werden. Ich gehe wieder zu ihnen. Du findest sicher allein hinaus.«
»Aber du hast dir noch gar nicht angehört, warum ich gekommen bin.«
»Habe ich auch nicht vor.«
»Ich habe das Haus verkauft.«
»Ach? Und was geht mich das an? Das Haus – mein Zuhause – hatte ich in dem Moment verloren, als Shirley und du mit euren verfluchten Gesponsen den Fuß hineingesetzt habt. Dies hier ist jetzt leider das einzige Zuhause, das ich im Leben noch haben werde. Hier werde ich sterben. Nicht in meinem eigenen Haus, in meinem eigenen Schlafzimmer, in meinem eigenen Bett, wie ich es immer vorgehabt hatte. Dank dir habe ich nicht einmal all meine Sachen um mich, sondern nur die paar Kleinigkeiten, die ich in diese Schuhschachtel quetschen konnte, die sich hier Appartement schimpft. Warum sollte es mich in Gottes Namen also interessieren, was du mit meinem Haus gemacht hast?«
»Unserem Haus, Mum«, sagte Patrick in schmeichelndem Tonfall. »Wir sind dort aufgewachsen. Auch wir haben es geliebt. Es hat uns so sehr geschmerzt, es aufgeben zu müssen.«
»Sicher doch. Aber gewiss nicht halb so sehr, wie es mich geschmerzt hat, als ihr mich hinausgedrängt habt. Zu deiner Erinnerung: Du hast gewusst, wie sehr ich dieses Haus liebte. Du hast gewusst, dass dein Dad und ich von unserer Heirat an in diesem Haus gewohnt haben. In unserem eigenen Council-House. Wir waren so stolz darauf. Haben immer pünktlich die Miete bezahlt, selbst wenn dein Vater auf Kurzarbeit war. Als er dann starb und ich mit meiner Rente nur knapp über die Runden kam, habt ihr gesagt, es wäre doch klug, wenn Shirley und du wieder einzieht, mit euren besseren Hälften, dann hätte ich auch immer jemanden, der sich um mich kümmert. Weißt du noch, Patrick?«
Patrick nickte. Sein Mehrfachkinn schwabbelte.
»Und dann«, knurrte Essie, »sehr, sehr bald, kam der eine oder andere von euch auf die clevere Idee, der Gemeinde das Haus abzukaufen, wozu ihr berechtigt wart, da ihr ja euren Wohnsitz dort hattet. Nicht wahr? Und das habt ihr gemacht, und mir habt ihr versichert, solange die Urkunden auf eure Namen liefen, bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen, ich müsste nie wieder einen Penny bezahlen, und ihr wärt alle da, um mich im Alter zu pflegen. So war es doch?«
Patrick, bemerkte Essie betrübt, war das alles nicht einmal ansatzweise peinlich.
»Und dann, aus heiterem Himmel, wart ihr der Ansicht, dass für mich kein Platz mehr sei. Dass mein Schlafzimmer ein hübsches kleines Büro abgäbe. Dass ich vielleicht ein bisschen tattrig würde und mehr Betreuung bräuchte. Oh Patrick, das war so mies – ich war fitter als ihr alle zusammen. Aber das hat euch nicht abhalten können, nicht wahr?«
Patrick sah auf seine Füße hinab. Seine Schuhe waren schmutzig, fiel Essie auf. Barney wäre darüber sehr verärgert gewesen. Er hatte immer darauf geachtet, dass die Kinder saubere Schuhe anhatten.
»Und weil ihr euren befreundeten Golfclub-Ärzten alles Mögliche über erfundene Stürze und Gedächtnisausfälle meinerseits vorgelogen habt, bis sie euch glaubten und sagten, es sei besser, wenn ich in ein Heim käme, und weil ich überhaupt nichts auf meinen eigenen Namen hatte, weder Geld noch Besitz, da musste ich eben in ein öffentliches Pflegeheim. Ich hatte da nichts mitzureden, nicht wahr Patrick? Euch gehörte mein Haus. Ihr habt mich rausgeworfen. Ihr habt mich nach Twilights verfrachtet. Shirley und du, ihr habt mir mein Zuhause gestohlen, meine Erinnerungen, meine Selbstständigkeit und alles, was mir je am Herzen lag.«
Schließlich räusperte sich Patrick. »Ich glaube, ganz so war das nicht.«
»Doch, ganz genau so war es. Na, habt ihr, Shirley und du und die anderen, durch den Verkauf meines Hauses jetzt ein Vermögen gemacht und seid alle miteinander in eine geschmacklose Villa nach Maidenhead gezogen? Bist du gekommen, um mir das mitzuteilen? Um mir deine neue Adresse für die Weihnachtskarten zu geben? Falls ich je welche verschicken sollte, was ich natürlich nicht vorhabe …«
»Ich bin bankrott.«
Essie blinzelte. Das hatte sie nicht erwartet.
Patrick und Shirley hatten mit ihren Partnern zusammen eine Firma und betrieben eine kleine Kette von Bekleidungsgeschäften. Boutiquen sagte Shirley dazu, aber in Wirklichkeit waren es einfach nur altmodische Damen-und-Herren-Ausstatter.
»Nur du oder ihr alle?«
»Wir alle. Auf einmal sind überall diese billigen Kaufhausketten aus dem Boden geschossen – Primark und dergleichen -, und niemand wollte mehr unsere Art von Textilien, Bekleidung, für die man einen guten Preis bezahlt und die ewig lange hält. Die Wegwerfgesellschaft hat uns ruiniert.«
Essie lächelte. »Gut.«
»Das meinst du doch nicht ernst.«
»Oh, Patrick, ich versichere dir, ich habe noch nie im Leben etwas so ernst gemeint. Das Haus ist also futsch? Und die Läden auch? Und euer gesamter Besitz?«
Mit Trauermiene nickte Patrick.
»Es gibt also doch noch eine himmlische Gerechtigkeit«, sagte Essie und strahlte übers ganze Gesicht. »Und wo wohnt ihr jetzt?«
»Faye und ich mieten eine kleine Wohnung. Shirley und Nicholas sind bei Freunden untergekommen. Im Vertrauen gesagt, kommen wir gerade so mit Ach und Krach zurecht, aber es ist wirklich schlimm, Mum. Wir haben uns alle an einen gehobenen Lebensstil gewöhnt und sind fast zu alt, um noch mal ganz von vorne anzufangen, selbst wenn wir es könnten. Es dauert sechs Jahre, bis wir schuldenfrei sind, und bis dahin sind wir schon fast im Rentenalter und …«
»Ach, ihr armen Kinderchen«, spottete Essie vergnügt. »Mir blutet das Herz. Also, wenn das alles war, was du an guten Nachrichten zu überbringen hattest, dann geh ich jetzt wieder.«
»Mum, hör mich doch bitte an. Wir sind dein Fleisch und Blut. Deine Kinder. Du willst doch bestimmt nicht, dass wir den Rest unseres Lebens darben und in beengten, schlechten Verhältnissen wohnen müssen?«
»Will ich das nicht? Was glaubst denn du, in was für Verhältnissen ich hier wohne, Patrick? Und aus welchem Grund? Und was genau könnte ich deiner Meinung nach tun, um euch zu helfen – selbst wenn ich es wollte, was aber nicht der Fall ist?«
Patrick hatte sich mit einiger Mühe aus dem beigen Sessel erhoben. Sein Atem ging schwer. »Wir – also Shirley und ich – dachten, dass, nun ja, da dies ja ein Heim der Gemeinde ist, könnte es dich eigentlich nicht allzu viel kosten, und da die Renten erhöht worden sind, bleibt dir nach Abzug der Kosten doch sicher noch etwas übrig und du hast bestimmt etwas auf die hohe Kante gelegt und …«
»Geh mir aus den Augen!«, brüllte Essie. »Sofort! Raus hier! Ich will dich nie im Leben wiedersehen!«
Und dann, zu ihrem eigenen Entsetzen, stiegen Essie die Tränen in die Augen. Aber nicht Tränen des Kummers darüber, dass ihre eigenen Kinder schwere Zeiten durchmachten, sondern wütende Tränen der Empörung.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und taumelte hinaus. In ihrer Eile, so schnell wie möglich so weit wie möglich von ihrem Sohn wegzukommen, torkelte sie gegen die Wände wie der Spielball eines Flipperautomaten.
»Halt mal, Schätzchen!«, brummte ihr eine vertraute Stimme entgegen. »Was ist denn hier los?«
»Slo!« Essie zog schniefend die Tränen hoch. »Ach Slo, hol mich hier raus. Bitte.«
»Mr Motion!« Joys greller Sopran hallte in Essies Ohren. »Na so eine Überraschung! Ach du lieber Gott, gibt es etwa einen Todesfall, von dem ich nichts mitbekommen habe?«
»Tja, ein oder zwei Bewohner draußen im Hof haben sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt«, sagte Slo schneidend. »Aber nein, ich bin hier, um, ähm, mit Mrs Rivers ihre Bestattungsvorsorge zu besprechen.«
»Bestattungsvorsorge?« Joy schüttelte den Kopf. »Hör ich zum ersten Mal.«
»Spart einem Geld«, sagte Slo und umfasste Essies zitternden Ellbogen mit der Hand. »Mrs Rivers möchte ein bisschen zur Seite legen, wissen Sie, in Ratenzahlung, und selbst die letzten Vorkehrungen treffen. Das heißt, falls etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte, bleibt Twilights nicht auf der Rechnung sitzen. Aber ich muss sie dafür mit nach Hassocks nehmen, zur Unterzeichnung einiger Dokumente. Das geht doch in Ordnung, oder?«
»Wie? Also, ja natürlich. Bestattungsvorsorge. Enorm gute Idee. Ist Ihr Besuch denn schon fort, Essie?«
»Weiß ich nicht und interessiert mich auch nicht«, antwortete Essie. »Wahrscheinlich nicht. Vielleicht können Sie ihn nach draußen geleiten. Und bitte lassen Sie weder ihn noch meine Tochter noch sonst jemanden aus meiner Familie jemals wieder ins Haus.«
»Ach du liebe Güte«, flötete Joy. »Immer Ärger mit der Verwandtschaft, wie? Nun, ganz wie Sie wünschen, Mrs Rivers. Lassen Sie mich nur machen. Nun mal los, und unterzeichnen Sie Ihre Dokumente. Mr Motion wird ja sicher gut auf Sie Acht geben.«
»Das werde ich«, sagte Slo und führte Essie behutsam die Treppe hinab und auf den Hof in den gleißenden Sonnenschein. »Das werde ich.«