7.
Kapitel
In
Twilights war der Bär los. Als Phoebe ihre Ausrüstung aus dem
Kofferraum ihres Astra lud und in den Aufenthaltsraum schleppte,
blinzelte sie ungläubig, als sie die wogende Menge schwatzender
älterer Damen sah. Ihre ersten offiziellen Abendkundinnen – zweimal
Waschen und Legen, einmal Schneiden und Färben – saßen
erwartungsvoll in riesigen beigen Lehnstühlen. Alle anderen waren
offenbar als Publikum da.
Den ersten Eindrücken nach befand Phoebe, dass
Twilights bei Weitem nicht so übel war, wie sie es sich vorgestellt
hatte. Auch wenn es zweckmäßig und unpersönlich wirkte, so war es
doch blitzsauber, und obwohl es übermäßig stark nach
Zitronen-Lufterfrischer roch, war es eindeutig sehr viel netter,
als sie erwartet hatte.
»Wir sind enorm erfreut, dass Sie es einrichten
konnten.« Joy Tugwells stahlharter Blick stand im Widerspruch zum
honigsüßen Tonfall ihrer Stimme. Die Honigsüße gewann schließlich
die Überhand. »Meine lieben Mädchen – und auch einige der Jungs –
haben sich schon so sehr darauf gefreut. Wir mussten für diese
erste Sitzung tatsächlich Lose ziehen, denn alle wollten sich heute
Abend die Haare machen lassen. Wir werden Sie regelmäßig buchen,
Polly.«
»Phoebe. Freut mich, wenn Ihr Projekt sich als
Erfolg erweist.«
»Enormer Erfolg.« Joy strahlte. »Auch wenn Tony,
das ist mein Männe, und ich wirklich tief in die Tasche greifen
mussten, um diesen kleinen Luxus anbieten zu können – aber
schließlich ist für meine Damen und Herren nur das Beste gut genug.
Also, wenn Sie das Waschen in der Küche erledigen – wir haben bei
dem kleinen Ausgussbecken etwas Platz geschaffen -, dann können Sie
die Lockenwickler in der Lounge machen. Wir haben eine hübsche
abgetrennte Nische vorbereitet, gegenüber von dem Plasmabildschirm
dort drüben, mit Spiegel und was sonst so dazugehört, die Sie als
kleinen Salon nutzen können. Was meinen Sie?«
»Äh, ja. Das klingt großartig, danke. Natürlich
wäre das Haarewaschen von hinten günstiger – ich werde klären
müssen, ob Cut’n’Curl für künftige Termine einen entsprechenden
Stuhl zur Verfügung stellt, wenn das hier zu einer regelmäßigen
Veranstaltung werden sollte -, aber sonst scheint alles
bestens.«
»Wunderbar, sehr schön. Gut, dann wollen wir mal.
Wen möchten Sie zuerst?«
»Die Dame zum Schneiden und Färben.« Phoebe sah
auf die Liste mit ihren drei Kundinnen. »Dann kann sie ›ziehen‹,
während ich die anderen shampooniere.«
»Ganz recht.« Joy bellte: »Prinzessin! Sie sind
als Erste dran. Lassen Sie Polly nicht warten.«
»Prinzessin?« Phoebe
beäugte erstaunt die zierliche kleine Dame mit dem pechschwarzen
Haar, die flink aufsprang.
»Nicht wirklich«, raunte Joy vertraulich, nahm
Phoebe am Ellbogen und steuerte sie energisch in Richtung Küche.
»East End. Ganz gewöhnlich. Spitzname. Enormes Plappermaul – nicht
so wörtlich nehmen, was sie sagt. So, da wären wir. Dann lasse ich
Sie mal und gehe die anderen von der Küche fernhalten. Die Leute
meinen anscheinend, das sei hier eine Art Vorstellung
für Zuschauer. Die können dermaßen aufsässig sein, Sie können es
sich ja gar nicht vorstellen.«
Phoebe wechselte vielsagende Blicke mit
Prinzessin, als Joy davonstolzierte, um im Aufenthaltsraum Freude
zu verbreiten.
»Blöde Kuh«, sagte Prinzessin grinsend und hüpfte
auf den Stuhl neben dem Spülbecken. »Schön, Sie kennenzulernen,
Polly.«
»Phoebe.«
»Die enorme Joy verdreht aber auch jeden Namen.
Also – Phoebe – ich möchte meine Haare wieder schwarz gefärbt
haben, und dann ein bisschen schneiden. Und erzählen Sie mir jetzt
nicht, dass ich in meinem Alter einen helleren Farbton nehmen
sollte, damit es zu meiner blasser werdenden Hautfarbe passt. Ich
lese Woman’s Weekly, ich weiß das alles –
aber ich will es Schwarz. Ich war immer schwarz, und schwarz will
ich auch bleiben. Okay?«
»Okay.« Phoebe lächelte. »Der Kunde bestimmt, aber
wie wäre es, wenn wir das einfarbige Schwarz mit ein paar bunten
Schattierungen auflockern? Blautöne – ich meine nicht Löckchenlila,
reißen Sie mir bitte nicht gleich den Kopf ab -, sondern richtig
leuchtendes Blau: Kobaltblau, Königsblau, Mitternachtsblau und ein
bisschen Violett vielleicht? Wir mischen ein paar Strähnen in den
schwarzen Grundton und dann schneide ich Ihre Haare so, dass sie
gut zur Geltung kommen. Wie klingt das?«
»Oh Mann, das klingt wirklich wahnsinnig
aufregend«, antwortete Prinzessin entzückt. »Nur zu. Ich gebe mich
ganz in Ihre Hand. Ach, wollen Sie mich nicht zuerst
waschen?«
»Nein, ich dachte nur, in der Küche haben wir
etwas mehr Privatsphäre. Wir machen erst die Färbung, lassen sie
einwirken, dann shampooniere ich Sie und mache abschließend den
neuen Schnitt. Sind Sie bereit?«
Prinzessin nickte, setzte sich bequem im Stuhl
zurecht, und nachdem Phoebe die knochigen Schultern mit Handtüchern
und einem Kunststoffumhang bedeckt hatte, begann sie in den kleinen
Töpfchen die Farben abzumessen und zu mischen, ordnete ihre Bürsten
und Kämme und legte die Folien zurecht. Während sie Prinzessins
rabenschwarzes Haar in Strähnen aufteilte und anfing, die Farben
aufzutragen, schaltete Phoebe auf Autopilot und ließ die Gedanken
schweifen …
In den Wochen seit ihrem Zusammenstoß mit Rocky
Lancaster hatte sie ihn – und seine Musik, wenngleich in einer
weitaus vernünftigeren Lautstärke – mehrfach im Obergeschoss
gehört, wiedergesehen hatte sie ihn glücklicherweise aber nicht.
Ihr war aufgefallen, dass auf seinem Parkplatz nicht mehr der
schnittige Sportwagen aus seinem früheren Leben stand, sondern
stattdessen ein ziemlich zerbeulter grüner Kleinbus. Obwohl er ihr
angesichts seiner eingeschränkten Lebensverhältnisse ja eigentlich
leidtun sollte, fiel es Phoebe schwer, auch nur den kleinsten
Funken Mitgefühl aufzubringen. Schließlich hatte er sich das alles
selbst zuzuschreiben, nicht wahr?
Außerdem hatte sie genug Zeit damit verbracht,
sich selbst zu bemitleiden – da war nun nichts mehr übrig für einen
brutalen Schläger, ganz gleich, wie atemberaubend gut er aussehen
mochte.
Nach und nach gewöhnte sie sich daran, allein in
der Wohnung zu sein. Nach Hause zu kommen war am schlimmsten, aber
wenn sie sich erst etwas zu essen gemacht und zur Gesellschaft den
Fernseher angeschaltet hatte, verflog das anfängliche Gefühl der
Einsamkeit. Beinahe. Na, so ziemlich. Eines Tages würde sie
vielleicht sogar gern allein sein …
Sie hatte, auch wenn sie sich ein bisschen albern
vorkam und leichte Gewissensbisse hatte, unverzüglich dafür
gesorgt,
dass ein neuer Riegel an ihrer Wohnungstür angebracht wurde und
das Sicherheitsschloss ordentlich funktionierte. Außerdem verwarf
sie seither jeden Gedanken daran, bei zum Garten hin offenen
Terrassentüren zu schlafen. Besser ersticken, als überfallen
werden. Nicht dass sie im Ernst damit rechnete, Rocky Lancaster
würde die Treppe herunterschleichen, um sie grundlos zu verprügeln,
aber es war doch ziemlich beunruhigend, mit jemandem im selben Haus
zu wohnen, dem solche Gewalttaten bekanntermaßen zuzutrauen
waren.
Aus diesem Grund hatte sie Rockys Anwesenheit
ihren Eltern gegenüber auch mit keinem Wort erwähnt – sie hätten
sonst darauf bestanden, dass sie auf der Stelle wieder nach Hause
käme – und hatte Clemmie, YaYa sowie ihren anderen Freundinnen
gegenüber die Fakten ein wenig frisiert, indem sie ihnen einfach
nur erzählt hatte, dass Rocky nach seiner Trennung von Mindy nun
alleine im ersten Stock wohnte. Außerdem hatte sie jegliche
augenzwinkernde Anspielungen über zwei einsame Herzen, die
zueinanderfinden könnten, auflaufen lassen, indem sie standhaft
erklärte, dass sie für den Rest ihres Lebens von Männern wirklich
die Nase voll hatte, und es Rocky mit den Frauen ebenso ginge, seit
Mindy ihn verlassen hatte.
Arme Mindy, dachte Phoebe. Wie tapfer sie es
überspielt hatte, eine von ihrem Lebenspartner misshandelte Frau zu
sein. Phoebe – im Nachhinein klüger – wünschte sich, dass Ben und
sie bei diesen schrecklichen lautstarken Auseinandersetzungen nach
oben gelaufen wären und eingegriffen hätten. Niemand hätte
vermutet, dass Rocky – der Heuchler! – sie als Boxsack benutzt
hatte. Hätten sie nur geahnt, was vor sich ging! Hätten sie über
Rocky Lancaster doch besser Bescheid gewusst!
Pauline war es, die schließlich unbeabsichtigt
einige von Phoebes Wissenslücken gefüllt hatte.
»Jetzt weiß ich wieder, was ich dir erzählen
wollte«, hatte Pauline im Salon gesagt, als Phoebe und sie
versuchten, eine allzu feste Dauerwelle auszukämmen, ohne das Opfer
zu skalpieren. »Weil du ja demnächst in Twilights zu tun hast und
so. Diese alte Dame, die in Winterbrook ausgeraubt wurde, ist eine
der Bewohnerinnen – im Moment kann ich mich nicht an ihren Namen
erinnern, aber er wird mir schon wieder einfallen – ach, ich
Dummchen, du kennst die ganze Geschichte ja wahrscheinlich sowieso,
oder?«
»Sollte ich?«, hatte Phoebe erstaunt gefragt,
während sie gerade versuchte, eine besonders verfilzte Locke zu
entwirren. »Wieso?«
»Weil der Kerl, der es getan hat, ja dein Nachbar
ist.«
»Nachbar?« Phoebe hatte die Stirn gerunzelt und
versucht sich vorzustellen, wer von den redlichen älteren Bürgern
in der Winchester Road mit einer ebenso älteren Dame um einen
Anteil an ihrer Rente raufen würde. »Welcher Nachbar?«
»Der richtig nett aussehende Typ – da sieht man’s
mal wieder.« Pauline hatte den Atem angehalten, als ein Klumpen
Haar zu Boden fiel. »Entschuldige, Mabel, hat das geziept? Ja – wo
war ich? – ein weiterer Beweis, wie sehr der Schein doch trügen
kann, nicht wahr? So ein gut aussehender junger Mann – hat immer
diese schmucke Uniform getragen -, und dann ist er fast so schlimm
wie ein Axtmörder, wenn man bedenkt, was er der alten Dame angetan
hat. Ach, Phoebe, du musst ihn doch kennen – er wohnt in der oberen
Wohnung in deinem Haus.«
»Bei mir soll ein Axtmörder im ersten Stock
wohnen? Nein, das wäre mir aber aufgefallen«, hatte Phoebe kichernd
geantwortet. »Rocky Lancaster wohnt da oben und er …« Phoebe hatte
im Glätten des spärlichen Haars innegehalten, ihr war plötzlich
übel geworden. »Du meinst, Rocky Lancaster hat eine alte Dame
ausgeraubt?«
»Hmhm«, hatte Pauline nickend bestätigt. »Ist
dafür ins Gefängnis gekommen. Aber irgendwer hat erzählt, er sei
wieder draußen.«
»Ja, ist er. Aber ich hatte ja keine Ahnung
…«
»Ach, Phoebe, das musst du doch wissen! Obwohl,
wenn ich es recht bedenke, das alles ist passiert, während du, ähm,
deine Hochzeit geplant hast. Tut mir leid, Liebes, ich weiß, du
willst nicht darüber reden. Du warst die ganze Zeit über auf Wolke
sieben, mit deinen endlosen Listen und der ganzen Organisation und
hast ständig am Telefon gehangen. Ich glaube, es hätte der Dritte
Weltkrieg ausbrechen können, ohne dass du es mitgekriegt
hättest.«
Phoebe war wie vor den Kopf geschlagen. Rocky war
ja noch schlimmer, als sie angenommen hatte! Das Letzte vom Letzten
und noch übler! Pauline hatte natürlich vollkommen Recht, während
sie ganz und gar damit beschäftigt gewesen war, die perfekte
Hochzeit-die-nie-stattfand zu planen, war alles andere, was in Hazy
Hassocks oder daheim in Bagley-cum-Russet passierte, völlig
unbemerkt an ihr vorbeigegangen.
Vielleicht hatte sie sogar Ben während dieser Zeit
kaum beachtet, dachte sie. Ja, wahrscheinlich nicht. War sie so
sehr darin vertieft gewesen, den Hochzeitstag bis aufs i-Tüpfelchen
durchzuplanen, dass er den Eindruck bekommen hatte, die Ehe selbst
sei ihr gar nicht so wichtig? Ihre künftige Lebenspartnerschaft?
Hatte Ben vielleicht gedacht, dass es ihr viel mehr um die
Zeremonie ging als um ihrer beider Beziehung?
War es am Ende ihre
Schuld, dass er sie hatte sitzen lassen? War das der Grund?
Aber – was irgendwie noch schlimmer war – Rocky
war ins Gefängnis gekommen, weil er eine alte Dame ausgeraubt
hatte? Was hatte er gesagt? »Jemanden grün und blau geschlagen«?
Eine alte, hilflose, verletzliche Frau? Wie abscheulich
war das denn?! Der war ja wirklich der allermieseste Abschaum –
ein abgrundtief verdorbener und feiger Verbrecher.
Nie wieder würde sie ein Wort mit ihm reden! Aber,
ach je, sollte sie denn überhaupt mit ihm in einem Haus
wohnen?
Oh Gott!
»Hui!« Prinzessin erhaschte im Spiegel einen Blick
auf ihren mit Folie drapierten Kopf. »Ich schau ja aus wie die
Kreuzung zwischen ofenfertigem Truthahn und diesem seltsamen
Mädchen aus Star Wars. Wenn ich mir selbst
die Haare färbe, habe ich nie all diese kleinen Alufolienteile; ich
klatsche einfach die Packung drauf, warte ein bisschen und spüle es
dann wieder aus.«
»Hoffentlich sehen Sie heute dann wirklich einen
Unterschied. Schön, wollen Sie jetzt hierbleiben oder in den
Aufenthaltsraum rübergehen, während die Farbe einzieht?«
»Ich bleib hier und schau zu, wenn es Sie nicht
stört. Sie haben Patience und Prudence als Nächste, unzertrennliche
Zwillinge, und die sind komisch. Nein nicht lustig, sondern richtig
komisch – im Sinne von eigenartig. Es sind wahrscheinlich die
seltsamsten Mädels, denen ich je begegnet bin.« Prinzessin sah
Phoebe mit einem Blick unter Erwachsenen tief in die Augen.
»Verstehen Sie, was ich meine? Und wenn ich das sage, ist mir sehr
wohl bewusst, dass es hier drin einige richtig sonderbare Typen
gibt.«
Na toll, dachte Phoebe.
Sie reckte sich. Der Abend war heiß und drückend
wie auch der vorherige. Es war wirklich ein glutheißer Sommer.
Durch die offenen Fenster sah man einen sehr hübschen Garten mit
leuchtend bunten Blumen und weitem grünem Rasen, den eine
Baumgruppe begrenzte, doch noch immer bewegte kein Lüftchen die
Zweige.
»Dann gehe ich Patience und Prudence mal rufen. Ob
sie sich die Haare gemeinsam waschen lassen wollen?«
»Oh ja. Sie machen alles gemeinsam. Sie haben
eines der wenigen Doppelzimmer hier. Ich setz mich da drüben an den
Tisch, dann haben Sie mehr Platz.«
Sobald Prudence und Patience – mit gebeugten
Rücken und in Schlabberkleidern – zum Waschbecken getrippelt waren
und kundtaten, dass sie ihr drahtiges Grauhaar gleichzeitig
gewaschen haben wollten, besann sich Phoebe, nachdem sie sich
erkundigt hatte, ob die Wassertemperatur so angenehm sei, was mit
zweifachem kurzen Nicken bestätigt wurde, auf ihre ausgefeilten
Fähigkeiten in Sachen Friseur-Smalltalk.
»Na, haben Sie denn in letzter Zeit mal
irgendeinen hübschen Ausflug gemacht?«
Prinzessin kicherte. Prudence und Patience sagten
nichts.
»Bemühen Sie sich nicht, ihnen irgendwelche Fragen
zu stellen.« Prinzessin nickte mit ihrem Kopf voller Folienröllchen
wie ein kleiner exotischer Vogel. »Sie reden mit niemandem, nur
miteinander. Sonst sagen sie meistens nur Ja und Nein, und das auch
nur, wenn es um ihr Wohlbefinden geht. Aber da Sie schon fragen,
nein, sie haben keinen hübschen Ausflug gemacht. Niemand von uns.
Wir dürfen nicht raus ohne Aufpasser.«
»Was?« Phoebe konzentrierte sich auf ihre
beidhändige Waschmethode. »Nicht mal nach Hassocks?«
Nun schüttelte Prinzessin den Kopf. »Nein, nicht
mal nach Hassocks. Der kleine Tony und die enorme Joy haben uns
allen verboten irgendwohin zu gehen – darum ist dieser
Friseurbesuch ja auch so ein Ereignis. Da wir hier festsitzen,
kommen wir nicht viel unter Leute.«
Phoebe runzelte die Stirn. Wie scheußlich war das
denn?! Wenn man alt war und weggesperrt und überhaupt nichts durfte?
»Ist das für den Fall, dass Sie, äh …?«
»Weglaufen und nicht zurückfinden?«, beendete
Prinzessin den Satz. »Nö. Wir sind doch nicht bekloppt. Das kommt,
weil eine von uns letztes Jahr überfallen wurde – gab jede Menge
schlechte Publicity. Die enorme Joy und der kleine Tony haben sich
fast in die Hosen gemacht vor Angst, dass die Gemeinde den Laden
hier dichtmacht, weil wir nicht ordentlich beaufsichtigt werden.
Seitdem ist es hier wie im Gefängnis.«
Phoebe schwappte Wasser zum Spülen über Patience
und Prudence. »Ach, Entschuldigung, sind Sie nass geworden? Öhm,
mir ist die Hand abgerutscht.« Sie tupfte beidhändig und sah dann
zu Prinzessin hinüber. »Sie waren aber nicht diejenige, die
überfallen wurde, oder?«
»Nein, Gott sei Dank. Eine meiner Freundinnen war
es. Gott schütze sie. Aber das hat uns sämtliche Extras vermasselt.
Die Tugwells haben inzwischen ein bisschen eingelenkt, und da wir
nicht ausgehen können, sind sie bereit, uns als Zugeständnis
wenigstens ein bisschen Unterhaltung zu bieten wie diesen
Friseurservice und dass Jennifer Blessing uns die Nägel macht und
so.«
Phoebe begann, Festiger in die Zwillingsschädel
einzumassieren.
»Und, ähm, die Dame, die überfallen wurde? Sie hat
doch hoffentlich überlebt? Geht es ihr gut?«
»Aber ja.« Prinzessin schmunzelte. »Quietschfidel.
Sie ist heute Abend nicht da, sonst hätten Sie sie persönlich
kennengelernt. Sie tanzt aus der Reihe.«
Aus der Reihe tanzen? Phoebe zog die Augenbrauen
hoch. Tanzen … Wie beim Revuetanzen etwa? War das nicht ein
bisschen zu schwungvoll für eine alte Dame? Und waren den
Twilightern Aktivitäten außerhalb des Heims nicht untersagt? Sehr
merkwürdig.
Prinzessin gluckste. »Mit einem Kavalier.«
Mit Klavier? Phoebe war nun vollends verwirrt.
Hausmusik? Klassik? Jazz?
Dann lächelte sie. »Ach, ich weiß! Das hat meine
Tante auch immer gemacht. Rhythmische Gymnastik! Jede Menge Frauen
in Hemdchen und Hosenröcken hüpfen zu Musik im Takt auf und ab und
schwenken bunte Bänder. Ich hab Fotos davon gesehen.«
»Sehr schön, meine Liebe.« Prinzessin sah
verdattert aus. »Aber ich hab keine Ahnung, wovon zum Kuckuck Sie
reden.«
»In einer Reihe tanzen mit Klavier.«
»Ganz wie Sie meinen, Süße. Aber ich hoffe, Essie
vergeudet ihren Abend in der Stadt nicht mit solchem Unfug. Sie ist
zum Fischessen mit einem Kerl, einem Gentleman, einem Verehrer. Ein
Rendezvous, könnte man sagen. Ich weiß nicht, wie ihr jungen Leute
das heutzutage nennt. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht
vorstellen, dass dabei einer von beiden mit Bändern
herumtanzt.«
»Ach so, Entschuldigung, das war wohl ein
Missverständnis.« Phoebe schüttelte den Kopf über die
generationenbedingten Verständigungsschwierigkeiten. »Aber ich
dachte, Sie dürfen nicht ausgehen?«
»Ach, die Tugwells konnten nicht Nein sagen, als
er darum gebeten hat, Essie auszuführen, da er zu ihren besten
geschäftlichen Kontakten gehört und versprochen hat, sie punkt neun
Uhr wieder herzubringen. Schade, dass Sie sie verpasst haben – sie
hat noch ein paar andere Aktivitäten für uns organisiert. Sie ist
ein lustiger Vogel. Sie würden sie bestimmt mögen.«
Essie, dachte Phoebe. Nun hatte Rockys Opfer einen
Namen. Dadurch wurde das Ganze irgendwie nur noch grässlicher.
Prudence und Patience stießen synchrone Quiekser aus, als Phoebe
sie ein klein wenig zu heftig massierte.
»Entschuldigen Sie, meine Damen. Wir sind gleich
fertig. Sie hat sich also wieder vollständig erholt?«
»Zum Glück ja. Und wie ich sagte, wir dürfen
ausgehen, wenn jemand uns begleitet und die Verantwortung übernimmt
– das ist Essies zweite Verabredung mit ihrem Kavalier -, letzte
Woche hat er sie zum Tee in Patsy’s Pantry
ausgeführt – sie ist also in jeder Hinsicht ein echter
Glückspilz.«
Zweifellos, dachte Phoebe, während sie den
Festiger ausspülte und Handtücher zu Zwillingsturbanen um die Köpfe
von Patience und Prudence wickelte, und zwar in mehrfacher
Hinsicht. Wenigstens hatte Rocky Lancaster der armen Frau nicht das
ganze Leben ruiniert. Wie schön, dass sie jemanden gefunden hatte,
mit dem sie ausgehen konnte. Wenn ich über hundert Jahre alt und
über Ben hinweggekommen bin, dachte Phoebe, könnte ich ja
vielleicht auch noch mal jemanden finden.
Warum waren eigentlich nicht mehr Leute dazu
bereit, die Twilighter auszuführen? Vielleicht sollte sie sich
freiwillig melden?
»Aber wissen Sie«, sagte Prinzessin hoffnungsvoll,
»wir sind hier immer auf der Suche nach anderen Beschäftigungen.
Ich habe meine Yogakurse organisiert und am Laufen, Bert macht
Makramé und Origami – stinklangweilig, wenn Sie mich fragen, und da
die meisten von uns Arthritis in den Fingern haben, sind die
Ergebnisse miserabel und enden doch nur in der Abfalltonne -, und
Lilith gibt Kochunterricht, aber das ist alles nichts Neues. Was
wir brauchen, ist frischer Wind. Sie kennen wohl nicht zufällig
jemanden, der uns etwas bieten könnte oder bereit wäre, uns mit
einem abendfüllenden Programm zu besuchen, oder?«
Phoebe schob den verführerischen Gedanken, YaYa
und die Dancing Queens einzuladen,
beiseite, denn eine Travestieshow
– so niveauvoll sie auch sein mochte – war für Twilights
wahrscheinlich nicht die passende Art von Unterhaltung, und
grübelte, während sie Prudence und Patience auskämmte und mit
dicken Schaumstofflockenwicklern jonglierte.
»Also, meine Freundin arbeitet bei einer
Feuerwerksfirma – die würden bestimmt gerne kommen und eine Show
abziehen. Ach, und einige Freundinnen meiner Mutter sind bei einer
Cancan-Truppe, das wäre bestimmt auch ein Spaß.«
Prinzessin klatschte in die Hände. »Wow! Das
klingt wunderbar! Genau, was wir brauchen. Sprechen Sie doch ein
Wort mit der enormen Joy, bevor Sie gehen, Liebes, und arrangieren
Sie das. Wir hätten alle Freude an Cancan – und Feuerwerk! So was
Schönes! Ach, ich kann es kaum erwarten. Das würde uns mächtig
aufmuntern. Sie haben ja tolle Freundinnen. Und was ist mit Ihnen?
Was machen Sie in Ihrer Freizeit? Haben Sie, abgesehen vom
Friseurberuf, irgendwelche Hobbys, an denen Sie uns beteiligen
könnten? Oder haben Sie Mann und Kinder, und keine Zeit für so
was?«
»Nein, weder noch«, sagte Phoebe rasch,
bearbeitete Patience und Prudence sorgfältig mit dem Stielkamm und
befestigte die Lockenwickler. »Und was die Hobbys betrifft … ich …
na ja, hab mich mal intensiv mit Astrologie beschäftigt.«
»Tatsächlich?« Prinzessin bekam glänzende Augen.
»Na das ist ja ein Ding. Sehen Sie, ein bisschen Wahrsagerei
gehörte auch zu den Dingen, die wir der enormen Joy und dem kleinen
Tony vorgeschlagen haben, aber das hat ihnen nicht gepasst.
Hauptsächlich, weil wir früher schon mal ein wenig Hokuspokus
hatten, und da sind komische Dinge passiert – falls Sie verstehen,
was ich meine.«
Phoebe verstand nicht. Auch wenn sie sich
vorstellen konnte, was für Schwierigkeiten ein Amateurastrologe
heraufbeschwören könnte. Gerade bei den leicht zu beeindruckenden
Twilightern. Aber sie hatte die Astrologie ja sowieso aufgegeben.
Es war alles nur Humbug, oder etwa nicht? Man musste sich nur
ansehen, was sie bei der Hochzeit-die-nie-stattfand davon gehabt
hatte.
»Das war allerdings nur«, fuhr Prinzessin fort,
»weil es dabei auch um … na ja, egal, das brauchen Sie nicht zu
wissen. Aber wenn Sie vorschlagen würden, ein bisschen in die
Zukunft zu schauen, sehen die Tugwells das vielleicht anders, weil
es von einem Außenstehenden kommt.«
»Tja, eigentlich mache ich das nicht mehr.«
Prinzessin sah drein wie ein begossener Pudel.
»Ach, so ein Jammer. Uns ist hier immer so langweilig. Bitte, bitte
überlegen Sie es sich noch mal, Phoebe – Sie würden viele einsame
alte Herzen sehr glücklich machen.«
»Das ist Erpressung.« Phoebe schmunzelte. »Aber –
okay – ich lass es mir durch den Kopf gehen.«
»Jippie! Ach, und nur mal so eine Frage, Sie legen
nicht zufällig auch Tarotkarten, oder?«
»Ja, schon, aber …«
»Ach, wir lieben Tarot! Kommen Sie schon, Phoebe.
Schlagen Sie es vor, bevor Sie gehen. Sie würden uns so eine große
Freude damit machen. Wir wollen doch alle gerne daran glauben, dass
wir uns noch auf etwas freuen können, bevor wir, na ja, Sie wissen
schon.«
Ach Gottchen – so gesehen, wie konnte sie da Nein
sagen?
Während sie Patience und Prudence trocken föhnte,
überlegte Phoebe hin und her. Nun, eigentlich könnte sie es ruhig
machen, warum eigentlich nicht? Es würde ja niemandem schaden. Auch
wenn sie selbst nicht mehr an die Kräfte der Felder und
Sternzeichen und anderer blöder Zeichen glaubte, ließen sich damit
durchaus ein paar weitere lange einsame Abende füllen.
»Okay«, sagte sie über das Getöse des Föhns
hinweg. »Ich werde es vorschlagen.«
Prinzessin klatschte vor Freude in die
Hände.
Überraschenderweise wurden Patience und Prudence,
nachdem sie getrocknet, ausgekämmt, toupiert und eingesprüht worden
waren, vor Begeisterung nahezu redselig.
»Hübsch, hübsch, hübsch«, flöteten sie einstimmig
mit ihren hohen Stimmchen. »Die beste Frisur aller Zeiten. Vielen,
vielen Dank, Polly.«
Und mit hüpfenden glänzenden Locken hüpften sie
Hand in Hand in den Aufenthaltsraum, wo sie von den wartenden
Zuschauern mit Entzückensrufen begrüßt wurden.
»So wie das läuft, werden Sie für Tarot kaum Zeit
finden«, sagte Prinzessin lächelnd und hüpfte auf den Stuhl, um vor
dem Haarewaschen ihre Färbung prüfen zu lassen. »Jedermann und sein
Hund wird sich von Ihnen hier die Haare machen lassen wollen. Also
gut, Liebes, wenn die Farbe okay ist, dann stutzen Sie mich
mal.«
Eine halbe Stunde später betrat Prinzessin unter
stürmischem Applaus den Aufenthaltsraum. Ihr rabenschwarzes Haar
war nun von Strähnen in verschiedenen Tönen von Blau und Violett
durchzogen und zu einer Igelfrisur gestylt.
»Ach du liebe Güte, Honey!« Eine große Dame im
smaragdgrünen Kaftan schloss Phoebe in die Arme. »Sie sind ja
wirklich ein Ass. Prinzessin sieht bezaubernd aus.«
»Tja, finde ich auch – und ihr gefällt das
Ergebnis.« Phoebe entwand sich der Umarmung. »Und das ist ja die
Hauptsache. Sie haben ganz Recht – sie sieht toll aus.«
»Ein enormer Erfolg.« Joy Tugwell drängte sich
zielstrebig zwischen Phoebe und den Kaftan. »Wunderbar, Polly. Sie
müssen unbedingt wiederkommen – bald. Ich habe jede Menge
Anmeldungen für Sie. Wie wär’s, wenn wir unsere Terminkalender
abgleichen? Könnten Sie uns, sagen wir mal, zwei Abende die Woche
reservieren?«
Phoebe sah Patience, Prudence und Prinzessin durch
den Aufenthaltsraum stolzieren wie Diven bei einer Oscar-Verleihung
und nickte. Eine neue Frisur hatte genügt, um den dreien frisches
Selbstvertrauen zu schenken. Erstaunlich, sie hatte andere Menschen
glücklich gemacht. Inmitten all ihres eigenen Unglücks und ihrer
Selbstzweifel strahlten ihretwegen nun drei alte Damen von einem
Ohr bis zum anderen.
»Zwei Abende? Mit richtigen Terminen? Ich plane
gerne sorgfältig. Ja, ich bin sicher, das ließe sich machen. Ich
komme wirklich gerne.«
»Enorm erfreulich«, stieß Joy mit gequetschter
Stimme hervor. »Mein Männe und ich tun so gut wie alles, um unsere
Bewohner glücklich zu machen.«
Phoebe lächelte. »Hmhm, und Prinzessin erwähnte,
dass, äh, aufgrund kürzlich eingetretener unglücklicher Umstände,
man, ähm, Sie versuchen, hier in Twilights mehr Aktivitäten für die
Bewohner zu organisieren. Zusätzlich zu dem Friseurservice hätte
ich da vielleicht noch ein oder zwei Vorschläge …«