8. Kapitel
Verflixt noch mal.« Essie sah auf die Uhr. »Schau nur, es ist schon gleich neun. Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug, wenn man sich gut amüsiert, findest du nicht? Jetzt komme ich zu spät zurück und habe bestimmt die ganze spannende Friseurgeschichte verpasst.«
»Du brauchst keine neue Frisur, Schätzchen.« Slo wischte mit einer dicken Scheibe Butterbrot die Reste von Pommesfett und brauner Soße von seinem Teller. »Ich mag Mädels mit langem Haar, und deins ist wirklich hübsch.«
»Ist das ein Kompliment, Mr Motion?« Essie sah ihn über das rot-weiß karierte Tischtuch der Silver Fish Bar in Hazy Hassocks hinweg schelmisch an. »Und bin ich das? Eins deiner Mädels?«
Slos altersfleckige Wangen erröteten gebührend. »Nein, also, ich wollte sagen …«
»Ist schon gut. Ich wollte dich nur foppen. Danke für das Kompliment – und für das Essen. Es war wirklich nett. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal schön Fisch essen war – mit Brot und Butter und einer Kanne Tee. Aber jetzt sollten wir wirklich los. Du weißt, dass die enorme Joy mir heute die Todesstrafe angedroht hat, falls ich zu spät heimkomme.«
»Ach ja.« Slo wischte sich den Mund mit dem allgegenwärtigen schwarzgeränderten Taschentuch. »Und ich muss nach draußen und eine paffen. Ist ja nicht mehr drin, sich am Tisch zurückzulehnen und zum Abschluss des Essens entspannt eine Zigarette zu rauchen. Dieser blöde Fürsorgestaat verdirbt einem Mann noch jedes grundlegende Vergnügen.«
Sie schoben die Stühle zurück, sagten lächelnd Danke und Gute Nacht zu den Mitarbeitern der Silver Fish Bar und traten hinaus in die drückend heiße Dämmerung.
»Puh!«, stöhnte Essie, während Slo mit seinen Zigaretten hantierte. »Immer noch diese Gluthitze. Und wo glauben Constance und Perpetua, dass du heute Abend wärst? Doch sicher nicht mit mir beim Fischessen.«
»Nein, Schätzchen«, schnaufte Slo am Filter seiner Zigarette vorbei. »Die denken, ich bin geschäftlich bei den Sargtischlern. Darum hab ich auch den Daimler gut versteckt unten bei Big Sava geparkt – es gibt ja immer irgendeine Klatschbase im Dorf -, und sie würden mir Saures geben, wenn sie wüssten, dass ich schon wieder mit dir ausgehe. Das ist das Problem mit Connie und Perpetua – sie hatten noch nie einen Freund vom anderen Geschlecht, äh, sozusagen. Sind ihr Leben lang unter sich geblieben. Die kämen auf jede Menge dumme Gedanken, wenn sie wüssten, dass wir zusammen essen gehen.«
Essie fiel neben Slo in Gleichschritt. Er war mehrere Zentimeter kleiner als sie, und, wahrscheinlich infolge des Rauchens, auch deutlich langsamer. Aber er war auch ein erstaunlich angenehmer Gesellschafter. Nach dem improvisierten Picknick in den Grünanlagen von Twilights waren sie in Patsy’s Pantry zum Tee gewesen, und dies war ihr zweites – ja, was eigentlich? Essie überlegte. Rendezvous? Nicht wirklich. Nein, eigentlich gar nicht. Sie waren einfach nur zwei einsame Menschen, die gut miteinander reden konnten, zusammen lachten, manches gemeinsam hatten, und sich in der Gesellschaft des anderen amüsierten und wohlfühlten.
Sie waren Freunde, genau.
Wenn sie nur doch vergessen könnte, dass sein Geburtstag am sechzehnten November war!
»Na, diesbezüglich müssen sich deine Cousinen schließlich keine Sorgen machen. Wir sind ja nur gute Freunde, die ein gemeinsames Essen und eine Unterhaltung genießen. Es war also keiner von euch je verheiratet?«
»Nö.« Slo zog an seiner Zigarette, während sie über die High Street in Richtung Supermarktparkplatz gingen. »Daran war ja gar nicht zu denken. Wir wurden von Kind auf im Bestattungsunternehmen beschäftigt, hatten immer zu tun, ich hatte nie so richtig Zeit, mich mit Mädchen zu treffen. Die einzigen, mit denen ich in Kontakt kam, wurden entweder durch meinen Beruf abgeschreckt oder waren gerade in Trauer – und das ist nicht gerade der beste Rahmen für einen Flirt.«
»Wohl eher nicht. Obwohl du ja ein guter Zuhörer bist und mitfühlend dazu – vielleicht hättest du auch einfach durch deine sanfte und verständnisvolle Art ein Herz gewinnen können.«
»Nett von dir, das zu sagen, Schätzchen, aber wir waren immer auf dem Sprung zur nächsten Einbalsamierung, wenn du verstehst, was ich meine. Und was Constance und Perpetua betrifft, na ja, die waren nie, tja, attraktive hübsche Mädchen. Unsere Connie hätte selbst Hitler das Fürchten lehren können, und Perpetua ist ein bisschen, nun, unscheinbar und geschwätzig und wohl auch nicht sonderlich helle im Kopf.«
Sie gingen weiter in wohligem Schweigen. Auf der High Street kehrte Nachtruhe ein. Sogar im Faery Glen war es still. Es gab nur wenige Nachtschwärmer in Hazy Hassocks. Sie passierten Beauty’s Blessings und die Zahnarztpraxis und Patsy’s Pantry und Cut’n’Curl, ohne jemandem zu begegnen. Erst bei der Dovecote-Arztpraxis kamen sie an einem anderen nach Hause gehendem Paar vorüber und sahen auf der gegenüberliegenden Straßenseite einige Leute zwischen der Bücherei und dem Haus mit Mitzi Blessings Hubble-Bubble-Catering. Essie registrierte amüsiert, dass Slo den Kopf gesenkt hielt, damit ihn niemand erkannte.
Er brach das Schweigen.
»Wie ist es denn mit dir, Essie, Schätzchen? Warst du glücklich verheiratet?«
»Sehr. Barney und ich kannten uns aus der Schule und haben jung geheiratet. Er hat in Reading bei der Eisenbahn gearbeitet, und ich hatte einen Teilzeitjob in einem Blumengeschäft. Wir hatten nie viel Geld, aber es war eine gute Ehe. Gott allein weiß, wie wir so schreckliche Kinder hervorbringen konnten. Wir hatten nie genug, um sie zu verwöhnen, aber es hat ihnen an nichts gefehlt. Wir haben ihnen den Unterschied zwischen Gut und Böse beigebracht, ohne zu Strafen greifen zu müssen. Und nach alldem haben sie …«
»Ich versteh nichts von Kindern.« Slo schnippte mit Daumen und Zeigefinger gekonnt seinen Zigarettenstummel durch die Luft. »Zu unserer Zeit war vieles anders. Deine gehören natürlich nicht dazu, aber insgesamt hatten Kinder damals scheinbar mehr Anstand und Respekt. Kommen deine Kinder dich eigentlich nicht besuchen?«
»Nein, nie. Und ich lege auch keinen Wert darauf, selbst wenn ihnen plötzlich wieder einfiele, dass sie ja eine Mutter haben. Nein, ich habe meine Schuldigkeit getan. Ich versuche, möglichst nicht daran zu denken. Ich habe meine Freunde oben in Twilights – die sind besser als jede Familie.«
»Und machen bestimmt weitaus weniger Ärger – meiner Erfahrung nach.« Slo lachte heiser. »Du hast also eine richtige kleine Clique guter Freunde in Twilights, oder?«
Essie nickte. »Wir sind alle etwa zur gleichen Zeit dort angekommen und sitzen alle im selben Boot – mehr oder weniger -, und das hat uns irgendwie zusammengeschweißt. Prinzessin war nie verheiratet und hat außerhalb des Heims keine Verwandten; Bert war ebenfalls Junggeselle, hat mit seiner Mutter und zwei Tanten zusammengewohnt – und die sind alle innerhalb eines Monats gestorben -, von daher braucht er es, dass sich ein Haufen Frauen um ihn kümmert, weil er es nicht anders kennt. Ich glaube, darum ist er lieber mit uns befreundet als mit anderen Kerlen. Bert hat keine Ahnung von Autos oder Fußball oder solchen Männersachen, aber er kann wunderbar nähen und stricken und Dinge aus Papier machen. Und dann wäre da noch Lilith …«
»Die schwarze Dame, die immerzu lacht und diese grellbunten Kleider trägt? Die ist ja wirklich ein Spaßvogel.«
»Oh ja. Lilith ist erstaunlich. Nie trübsinnig. Nichts kann ihr die gute Laune verderben. Sie war zweimal verheiratet – keine Kinder. Sie sagt immer, ihre beiden Männer sind glücklich gestorben, dank ihrer heißen Liebe und ihres scharfen Essens – oder vielleicht war es auch andersherum.«
Slo gluckste.
»Und nun habe ich in dir noch einen weiteren Freund – ich habe den heutigen Abend wirklich genossen.« Essie lächelte. »Ich bin sehr dankbar, dass du mich so ausführst. Vor allem nachdem …«
»Ach ja – du hast mir noch gar nicht gesagt, warum ihr alle eigentlich so hinter Schloss und Riegel gehalten werdet. Du hast mir von deinen missratenen Kindern erzählt und von deinem magischen Astronumerozeugs, aber du hast mir nie erklärt…«
»Nein, und das möchte ich auch nicht. Das ist Schnee von gestern – aber ich habe ein paar Ideen, wie sich das geschehene Unrecht wiedergutmachen ließe.«
»Das überrascht mich nicht. Was schwebt dir denn vor?«
»Ach, nur etwas, das mich – und den jungen Mann, der, na ja, sagen wir einfach, ich glaube, mein Plan wird uns beiden Gutes bringen. Nein, frag nicht – ich will über diese Dinge wirklich nicht sprechen.«
»Und ich kenne dich gut genug, um nicht weiter nachzubohren.« Slo lachte heiser und räusperte sich. »Also, um das Thema zu wechseln, hat die elende Joy Tugwell denn zugestimmt, dass du mit deinem magischen Geburtstagstrick die anderen Twilighters aufheiterst?«
Essie schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. »Niemals. Ich gebe ihr nicht die Gelegenheit, mit ihrer zierlichen kleinen Eiserne-Lady-Faust auf den Tisch zu hauen. Ich habe ihr gar nichts davon erzählt. Sie ist vollkommen zufrieden mit dem, was ihres Wissens nach vor sich geht. Was sie nicht weiß, darüber muss sie sich auch nicht aufregen. Ein bisschen wie bei deinen Cousinen Constance und Perpetua, wie?«
Slo gluckste erneut, als sie von der High Street in die dunkle Gasse hinter dem Supermarkt Big Sava abbogen. Im Schein der einsamen Straßenlaterne sah man eine lautstarke Bande Jugendlicher in Schlabberklamotten, die sich vom Parkplatz her der Gasse näherten.
Essies Herz begann zu rasen, und ihr Mund wurde trocken. Sie blieb stehen.
»Was ist denn, Schätzchen?«, schnaufte Slo. »Alles in Ordnung?«
Essie konnte nichts sagen. Konnte sich nicht bewegen. Das war doch wohl nicht möglich? Waren das dieselben Jungs?
Nun hatten die Jugendlichen die Gasse erreicht, laut rangelnd und schubsend. Kamen auf sie zu. Drei in einer Reihe.
Sie schnappte nach Luft, spürte, wie ihr Herz wummerte und ihre Hände feucht wurden.
Die Bande war nun dicht vor ihnen. Es war nicht genug Platz, um aneinander vorbeizugehen. Von Panik überrollt sank Essie an die Wand und fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Man hörte schallendes Gelächter, einen Fluch, noch mehr Gelächter.
Essie spürte, wie ihre Knie weich wurden, in ihrem Kopf drehte sich alles, ihr Herz raste.
Die Bande war nun auf gleicher Höhe.
»N’ Abend«, sagte einer von ihnen vergnügt, dann teilten sie sich auf und gingen im Gänsemarsch vorbei.
»N’ Abend, Jungs«, antwortete Slo munter, während die Gruppe auf die High Street zusteuerte.
Essie wimmerte und sog japsend die heiße Luft ein.
»Essie? Essie, Schätzchen?«, Slo sah sie eindringlich an. »Herrje, Essie! Bist du krank?«
Essie schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht sprechen. Sie musste tief atmen – das wusste sie. Eins, zwei, drei… einatmen und ausatmen. Ganz langsam.
Allmählich pendelte sich ihr Pulsschlag wieder auf eine halbwegs normale Frequenz ein.
»Mir geht’s gut. Entschuldige.«
Slo hielt ihre Hände in den seinen und sah sie beunruhigt an. »Was war denn los, Schätzchen? Du hast doch nichts mit dem Herzen, oder? Sollen wir uns einen Moment irgendwo hinsetzen? Herrje, Essie.«
Sie lächelte matt und ärgerte sich über ihre Schwäche. »Entschuldige, das war albern von mir. Es war wegen dieser Jungs … Die … die haben mir Angst gemacht.«
»Die Burschen da eben? Die waren doch okay. Wahrscheinlich aus der Siedlung an der Bath Road. Bisschen ungehobelt, aber im Grunde ganz freundlich. Hatten nichts Böses im Sinn. Hör mal, Schätzchen, lass uns hier einen Moment verschnaufen, und wenn du wieder tief durchatmen kannst, setzen wir uns in den Daimler, und dann erzähl mir bitte, was zum Teufel eigentlich los ist.«
 
Gegen zehn Uhr abends kehrte Phoebe aus Twilights in ihre Wohnung an der Winchester Road zurück. Sowohl aus dem ersten Stock wie aus dem Erdgeschoss strahlten Lichter in die heiße dunkle Nacht. Da Phoebe ihr Licht immer anließ, um Einbrecher abzuschrecken, nahm sie an, dass Rocky, der anscheinend die meisten Abende auswärts verbrachte, es wohl ebenso gemacht hatte. Nicht, dass er fürchten müsste, ausgeraubt zu werden – Verbrecher waren ja wohl Seinesgleichen.
Es war noch immer genauso heiß wie am Nachmittag, nur dass die Nachtluft noch schwüler und drückender war. Phoebe war viel zu verschwitzt und müde, um das Friseurzubehör auszuladen. Sie beschloss, dies auf den nächsten Morgen zu verschieben, und parkte ihren Wagen hinter Rocky Lancasters gammeligem grünem Kleinbus. Welche unschuldigen wehrlosen Rentner er heute Nacht auch immer zu überfallen gedachte, dachte sie, während sie nach ihren Hausschlüsseln suchte, er geruhte dies offenbar zu Fuß zu tun.
Gott, wie sie ihn verabscheute. Man hätte ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis werfen sollen, für das, was er getan hatte.
Aber abgesehen von der Unannehmlichkeit, dass sie mit Rocky, dem Drecksack, Tür an Tür wohnte, war dieser Abend doch ein echter Erfolg gewesen. Es war ihr gelungen, mehrere sonst womöglich einsame Stunden außer Haus zu verbringen, Prinzessin, Patience und Prudence sehr glücklich zu machen und sich Joy Tugwells begeisterte Zustimmung zu sichern, nicht nur regelmäßig dienstag- und donnerstagabends zu Hausbesuchen zu kommen, sondern überraschenderweise am nächsten Montag auch zu einer ersten Astrologiesitzung. Außerdem wollte sie in ihrem Freundeskreis verbreiten, dass in Twilights mehr Unterhaltung wünschenswert wäre.
»Ein bisschen Singen und Tanzen und so was würde sie enorm beruhigen. Gute Idee. Ich überlasse das ganz Ihnen. Jedoch, was die Wahrsagerei betrifft, Polly, wollen wir sie aber nicht ermutigen, sich mit Hokuspokus zu beschäftigen, der sie irgendwie aufregen könnte«, hatte Joy laut und gebieterisch gesagt. »Da allerdings eine unserer Bewohnerinnen meint, sie gehöre zu den Starastrologen wie Mystic Meg und Russel Grant und uns damit nichts als Ärger beschert hat, halte ich es für eine ganz hervorragende Idee, wenn unsere Bewohner durch Ihre Besuche wahrsagemäßig auf ihre Kosten kommen. Tony, mein Männe, und ich glauben natürlich nicht an solchen Unsinn, aber alles, was der Nörgelei hier ein Ende macht, ist uns herzlich willkommen. Ich verlasse mich allerdings darauf, dass Sie ihnen nur Gutes vorhersagen, nicht wahr? Schlechte Neuigkeiten sind absolut verboten. Comprendez
Bei der Erinnerung an Joys langatmigen Vortrag noch immer lächelnd rief Phoebe den tröstlich plappernden Fernseher ins Leben. Nun, die Ausflüge nach Twilights brächten ihr dringend benötigten Zusatzverdienst – sie beschloss, das Thema Untermieter zu vertagen, bis im November die von Ben im Voraus bezahlte Miete auslief – und bedeuteten, dass sie nun nur noch vier Abende der Woche irgendwie ausfüllen musste. Außerdem, dachte sie, unter Leuten fortgeschrittenen Alters zu sein, die kein Heim und keine Familie mehr besaßen und die meisten ihrer Freunde überlebt hatten und nirgendwo mehr hinkonnten und niemanden hatten, der mit ihnen etwas unternahm, könnte gut dazu beitragen, ihr eigenes Unglück zu relativieren.
Ohne den Nachrichtensprecher zu beachten, der wie üblich über irgendetwas deprimierend Schreckliches berichtete, ging Phoebe in die Küche, goss sich ein großes Glas Wein ein, gab eine Handvoll Eiswürfel dazu und öffnete die Terrassentür voller Vorfreude, eine Stunde lang dem Rauschen des Flusses zu lauschen und ihre Ruhe zu haben.
»Oh, mein Gott!«
Mit krachendem Splittern ließ sie ihr Weinglas fallen.
Rocky Lancaster, in ausgewaschenen Jeans und einem schmuddeligen T-Shirt, lümmelte mit einer Flasche Bier in der Hand auf einem der schmiedeeisernen Stühle. Eine dicke Anti-Mücken-Duftkerze flackerte auf dem Tisch.
»Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein?« Augenblicklich trat Phoebe über Glasscherben knirschend den Rückzug an und überlegte, ob sie es wohl nach drinnen schaffte und die Polizei rufen könnte, bevor er sich auf sie stürzte. »Das ist mein Garten. Nicht Ihrer. Sie werden ja wohl wissen, was das Wort ›Gartenwohnung‹ bedeutet!«
Rocky sah sie ausdruckslos an. Echt ein Jammer, dass er so ein feiger Schläger ist, schoss es Phoebe durch den Kopf – er ist ein wirklich schöner Mann.
»Haben Sie mich gehört?«
»Wahrscheinlich hat die ganze Winchester Road Sie gehört«, gab Rocky zurück und nahm einen Schluck Bier aus der Flasche. »Schreien Sie doch nicht so herum.«
»Ich schreie nicht!«, schrie Phoebe.
»Doch, tun Sie. Es ist schon spät – und ich darf Sie erinnern, dass Sie doch immer darauf herumreiten, dass man die Nachbarn nicht mit Lärm stören sollte.«
»Sie haben kein Recht, …«
»Ich habe sehr wohl das Recht.« Rocky stellte die Bierflasche ab. »Die Gartenwohnung hat zwar in der Tat den direkteren Zugang zum Garten, aber wir haben die Außenanlagen immer gemeinsam genutzt.«
»Das war aber, bevor …«
»Bevor Sie wussten, dass ich ein Ex-Knacki bin? Bedaure, aber davon steht nichts im Mietvertrag. Sie sollten sich das Kleingedruckte zum Thema gemeinschaftliche Nutzung durchlesen. Und wenn Sie nicht aufpassen, schneiden Sie sich gleich die Füße an den Scherben auf. Diese Flipflops sind nicht sehr robust.«
»Machen Sie sich um mein Wohlergehen mal keine Sorgen – gehen Sie einfach ruhig rauf in Ihre Wohnung, und lassen Sie mich in Ruhe.«
»Ich bin nicht wegen Ihrer Gesellschaft hier, auch wenn Sie das überraschen mag. Wir wohnen zwar unter einem Dach, aber an Ihrer Freundschaft bin ich nicht interessiert. An niemandes Freundschaft. Ich bin sehr zufrieden mit mir allein, und ich war zuerst hier, ob es Ihnen nun passt oder nicht.«
Phoebe schluckte. Das war ja grauenhaft. Dieser Mann, den sie so verabscheute, verspottete und piesackte sie, und sie konnte kaum etwas dagegen tun. Sie war ja eigentlich kein Angsthase, aber mit jemandem, der wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis gewesen war, sollte man wohl lieber vorsichtig umgehen.
Und nachdem er nun klargestellt hatte, dass er vorhatte, in der Wohnung zu leben und den Garten zu nutzen, als sei nichts geschehen, wurde ihr plötzlich klar, dass sie wirklich nicht hierbleiben konnte. Wenn Rocky blieb, würde sie gehen müssen. All ihre Pläne, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen, all die aufmunternden Vorschläge von Clemmie und YaYa und Amber und Sukie waren für die Katz gewesen.
Der verdammte Rocky Lancaster hatte erreicht, was Ben nicht geschafft hatte – nämlich, sie aus ihrem Zuhause zu vertreiben.
Phoebe hätte am liebsten laut geschrien. Das war alles so was von unfair! Nachdem sie solch riesige emotionale Hürden genommen hatte, um wieder in diese Wohnung zu ziehen, wollte sie eigenartigerweise um alles in der Welt auch hier leben.
Der einzige schwache Hoffnungsschimmer war, dass Rocky es sich vielleicht nicht würde leisten können, in der Winchester Road zu bleiben. Er hatte seinen Job verloren, das wusste sie, und es würde ihm doch sicher sonst niemand Arbeit geben? Nicht mit dieser Vorstrafe. Also hieß das vermutlich, dass er von staatlicher Unterstützung lebte, und die würde er wohl kaum unbegrenzt lange bekommen. Also würde er irgendwann ausziehen müssen.
»Haben Sie weiter nichts zu sagen?« Rocky zog fragend eine Augenbraue hoch. »Gut.«
»Ich habe noch jede Menge zu sagen«, sagte Phoebe auf der Suche nach irgendeinem rettenden Strohhalm und weitaus selbstbewusster als sie sich fühlte. »Aber da Sie ja nicht mehr lange hierbleiben werden, wäre das reine Energieverschwendung.«
»Wo, hier im Garten? Ach, ich weiß nicht. Ich habe noch ein Bier, ein leeres Doppelbett ist wenig einladend, und die Nacht ist ja noch jung.«
»Nicht im Garten, in der Wohnung.«
»In meiner Wohnung? Warum in aller Welt sollte ich da nicht bleiben? Ich bin doch gerade erst wieder eingezogen.«
Phoebe zögerte. Sollte sie sich wirklich mit ihm auf Diskussionen einlassen? Sie war hier die Gefährdete. Ärger und Abscheu überwogen jedoch ihren Selbsterhaltungstrieb. »Aber werden Sie sich die Miete leisten können? Ach, bestimmt sind Sie bei irgendeiner wohltätigen Rehabilitationsmaßnahme, um wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden – aber wenn das zu Ende ist, werden Sie sich einen neuen Job suchen müssen und…«
»Hab schon einen.« Rocky grinste. »Die im Gefängnis sind darin heutzutage ziemlich gut, wie Sie ganz recht vermutet haben. Es ist nicht überall nur Einschluss rund um die Uhr und einmal täglich den Kübel ausleeren. Ja, wir Ersttäter werden alle in Resozialisierungsprogramme gesteckt. Meines war außerordentlich nützlich und unerwartet angenehm. Ich bin jetzt Gärtner. Es wundert mich, dass Ihnen der kleine grüne Lieferwagen mit Baumschnitt nicht aufgefallen ist. Wie auch immer, es ist nett, dass Sie sich um meine Zukunft sorgen, Phoebe. Das weiß ich zu schätzen.«
Oooh, stöhnte Phoebe innerlich. So ein Mist.
»Also, wenn Sie mit Ihrem Kreuzverhör über mein künftiges Einkommen fertig sind und beruhigt, dass ich es mir leisten kann zu leben«, Rocky schob den Stuhl zurück, »dann geh ich mal Schaufel und Besen holen, um diese Scherben aufzukehren – Sie haben ja sicher in der Küche unter einem Haken mit der Aufschrift ›Putzgeräte‹ irgendwo ein hübsches farblich zusammenpassendes Set hängen. Mindy hat immer erzählt, wie ultra-ordentlich und zwanghaft durchorganisiert Sie sind.«
Na, vielen Dank, Mindy.
»Bin ich nicht, und wagen Sie es ja nicht, auch nur einen Fuß in meine Wohnung zu setzen. Ich kehre selbst auf – morgen früh. Ich gehe jetzt rein und schließe die Türen ab.«
Rocky lachte. »Weil Sie meinen, ich könnte Sie überfallen? Sorry, keine Chance. Ich befinde mich heute Abend im Nichtangriffsmodus. Aber vielleicht ist es wirklich eine gute Idee, wenn Sie hineingehen. Ich habe mich hier allein sehr wohlgefühlt, bevor Sie gekommen sind.«
»Ans Alleinsein haben Sie sich in der Einzelhaft ja sicher gewöhnt.«
»Ach, kommt jetzt amerikanischer Krimijargon? Alles Klischees. In Wirklichkeit war ich nicht in Einzelhaft – auch wenn es Momente gab, in denen ich es mir gewünscht hätte. Sie haben ja keine Ahnung …«
»Erwarten Sie bloß nicht, dass ich Mitleid mit Ihnen habe! Nicht nach allem, was Sie getan haben.«
»Sie wissen also, was ich getan habe?«
Phoebe nickte. »Ich mag es damals nicht ganz mitgekriegt haben, weil ich, ähm, zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war …«
»Ihre Hochzeit? Ja, ich kann mir vorstellen, dass das Vorrang hatte.«
»Seien Sie doch nicht so verdammt herablassend!«
»Bin ich keineswegs. Es tut mir aufrichtig leid, was zwischen Ihnen und Ben geschehen ist.«
»Tatsächlich? Schade, dass Sie Ihrem Opfer gegenüber nicht auch so mitfühlend waren! Oh ja, ich weiß genau, was Sie getan haben. Das Wesentliche haben Sie mir ja selbst erzählt, wissen Sie noch? Und was Sie ausgelassen haben, habe ich inzwischen von anderen Leuten erfahren.«
»Und sicher hübsch ausgeschmückt und dick übertrieben. Ach, gehen Sie, Phoebe. Wenn Sie meine Version der Geschichte nicht hören wollen, lege ich auch keinen Wert darauf, mir Ihre reaktionäre, selbstgerechte Boulevardzeitungs-Meinung über mein Verhalten anzuhören. Ich möchte jetzt wirklich meine Ruhe haben.«
Phoebe funkelte ihn zornig an. Er war wirklich der arroganteste Mistkerl, dem sie je begegnet war. Und er empfand offenbar nicht einen Funken Reue über seine Freveltat. Gefährlicher, egozentrischer Bastard!
»Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern. Sie können vielleicht schwache und hilflose kleine alte Damen erschrecken – wie andere hirnlose, brutale Schläger Ihrer Sorte -, aber mir machen Sie keine Angst.«
Rocky nahm wieder die Flasche zur Hand, trank langsam einen Schluck Bier und sah sie dann an. »Nicht? Gut zu wissen. Und ich wüsste doch wirklich gerne, was man Ihnen über meine Missetaten erzählt hat. Offenbar etwas ganz anderes, als ich selbst von diesem Vorfall in Erinnerung habe.«
»Na klar, wie sollte es sonst auch sein? Sie meinen ja sicher, irgendein Problem in Ihrer Kindheit, irgendeine eingebildete Kränkung, irgendwelche Familienprobleme wären eine Entschuldigung für das, was Sie getan haben. Wahrscheinlich hat Ihr Sozialarbeiter Ihnen erzählt, Sie könnten nichts dafür. Gibt wahrscheinlich Ihren Eltern die Schuld und diesem und jenem …«
»Verdammt noch mal!«, unterbrach Rocky und ließ ärgerlich den Deckel der zweiten Bierflasche schnalzen. »Sie wissen wohl alles ganz genau, was? Ich habe ehrlich keine Lust, Sie eines Besseren zu belehren. Glauben Sie doch, was Sie wollen. Wie ich schon sagte, ich bleibe in der Wohnung genauso wie Sie, aber wir müssen wirklich nichts miteinander zu tun haben. Vielleicht wollen Sie einen Benutzungsplan für den Garten aufstellen? Mindy hat gesagt, Sie führen über alles irgendwelche Listen und …«
»Zum Teufel mit Mindy!«, fauchte Phoebe und vergaß einen Moment lang alle schwesterliche Solidarität mit Rockys misshandelter Ex. »Und zum Teufel mit Ihnen! Ich mache jetzt die Türen zu und gehe ins Bett!«
»Träumen Sie süß«, sagte Rocky und lachte leise.
Phoebe stampfte nach drinnen, knallte die Terrassentüren zu und zog die Vorhänge vor, ihr Herz raste.
Mist, Mist, Mist.
Nun musste sie zu Bett gehen – in ihr neues rosa Rüschenschlafzimmer -, und zwar in dem Wissen, dass Rocky Lancaster nur wenige Zentimeter entfernt auf der anderen Seite der Glasscheibe saß.
»Ach Ben!«, murmelte sie. »Ich hasse dich dafür, dass du mir das antust!«